09.11.2007

Coca-Cola im Kopf

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Coca-Cola im Kopf

Die unheimliche Indienstnahme der Neurowissenschaft durch das Marketing von Marie Bénilde

Im Oktober 1919 soll Lenin dem russischen Nobelpreisträger Iwan Pawlow einen Besuch abgestattet haben. Der Legende nach wollte er herausfinden, was die Arbeiten des großen Physiologen und Mediziners zum Projekt des „neuen Menschen“ beitragen könnten, den die Bolschewiki damals erschaffen wollten. Der Wissenschaftler wäre der Propaganda des Regimes womöglich dienlich gewesen, wenn er die Verbindung von äußeren Reizen zu den Mechanismen der kollektiven Transformation hätte aufzeigen können.

Tatsächlich war Pawlow den Bolschewiki keine Hilfe, aber die Begebenheit – ob sie sich nun wirklich zugetragen hat oder nicht – veranschaulicht eine das 20. Jahrhundert beherrschende Wahnvorstellung: die Möglichkeit der Kontrolle des Verstandes durch die Manipulation des Unbewussten. Demnach müsste eine wirkungsvolle Propaganda von der Annahme ausgehen, dass eine Botschaft umso besser verarbeitet wird, je besser die Psyche ihres Empfängers darauf konditioniert ist, sie aufzunehmen – und sich zu eigen zu machen.

Die Erforschung des Gehirns zu kommerziellen Zwecken und der dadurch möglichen Manipulation der Massen zeigt, dass auch die modernen westlichen Konsumgesellschaften von propagandistischen Methoden nicht allzu weit entfernt sind. Patrick Le Lay etwa, Chef des französischen Fernsehsenders TF 1, hat 2004 zugestanden, dass sein Sender bestrebt sei, Coca-Cola etwas von „der Zeit des verfügbaren menschlichen Gehirns“ zu verkaufen.

Im Sommer 2003 konnte ein Neurologe des Baylor College of Medicine in Houston, Read Montague, nachweisen, dass Testtrinker, die im Blindtest das Konkurrenzprodukt der Marke Pepsi vorzogen, sich anders entschieden, sobald sie das Getränk als Coca-Cola identifizieren konnten. Die Teilnehmer des Versuchs erklärten dann, die Limonade mit dem rot-weißen Schriftzug würde ihnen besser schmecken.

Damit war erwiesen, was die Überlegenheit der Marke ausmacht, die als ein As des Branding gilt. Diese Marketingstrategie zielt darauf ab, das Logo eines Produkts möglichst oft und auf möglichst vielen Trägern zu reproduzieren und es auch in bestimmte mediale Inhalte einzufügen. Um die Verbindung zwischen dem Bild der Marke und der Reizwirkung auf das Gehirn nachzuweisen, hatte Montague auf die Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, das bis dahin vor allem zu medizinischen Zwecken verwendet wurde. Bei der Beobachtung der Gehirntätigkeit seiner Probanden stellte der Wissenschaftler fest, dass die Hirnregion, die beim Anblick einer Marke angeregt wird (der mediale präfrontale Cortex), auch das Gedächtnis anspricht und bei kognitiven Prozessen eine wichtige Rolle spielt. Bei den Blindtests mit Coca-Cola hingegen wurde auch die Hirnregion einbezogen, die „ventrale Putamen“ heißt und mit dem Genussempfinden verbunden ist. Im April 2004 führte dann die medizinische Fakultät von Baylor in Houston das erste weltweite Symposium durch, bei dem es ausschließlich darum ging, wie sich die neuronale Bildgebung zu Marketingzwecken einsetzen lässt.

Drei Jahre zuvor rief in Atlanta, dem Hauptsitz der Coca-Cola Company, das von Werbefachmann Joey Reiman gegründete Brighthouse Institut eine Sachverständigengruppe ins Leben, die sich mit der Nutzung der aus den Neurowissenschaften gewonnenen Erkenntnisse für das Marketing befassen sollte. Ihr wissenschaftlicher Leiter Clint Kilts kam zu den gleichen Ergebnissen wie zuvor sein Kollege in Houston: Auch er machte den medialen präfrontalen Cortex als den auf die Bilder der Werbung ansprechenden Bereich des Gehirns aus. Er stellte aber auch fest, dass die entsprechende Reaktion umso stärker ist, je mehr sich die Versuchsperson mit dem Bild des Produkts identifiziert.1

In der Tat ist die für das Neuromarketing interessante Hirnregion eng mit unserem Selbstbild verbunden. Wie Annette Schäfer in der französischen Fachzeitschrift Cerveau & Psycho ausführt, „haben wir hier also den Motor des Kommerzes. Der mediale präfrontale Cortex lässt uns mögen, was die anderen mögen. Seine Stimulierung könnte demnach ein wesentliches Ziel einer perfekten Werbekampagne sein.“2

Nach Einschätzung von Olivier Oullier, einem Neurowissenschaftler an der Florida Atlantic University, wenden derzeit etwa hundert Unternehmen in der Welt die Methoden des Neuromarketing an.3 Über die durchgeführten Experimente halten sie sich jedoch lieber bedeckt. Eine der Firmen, damals noch DaimlerChrysler, hat 2003 beispielsweise das Krankenhaus in Ulm damit betraut, die Gehirne von Männern zu scannen, während Bilder von Luxusautos an ihren Augen vorüberzogen.

Auf diese Weise kam die Bedeutung des im basalen Vorderhirn gelegenen Nucleus accumbens zum Vorschein. Dieser spielt sowohl im Belohnungssystem des Gehirns als auch bei der Entstehung von Sucht eine herausragende Rolle. Bei den Ulmer Versuchen stellte sich heraus, dass das Konsumobjekt durch einen Prozess der Personifizierung zu so etwas wie einem Objekt der Begierde werden kann. Werbefachleute fanden darin eine lang gehegte Ahnung bestätigt: Werbespots sollten die Wechselbeziehung zwischen sexuellem Begehren und Kauflust verstärken. „Der Konsument muss die Marke fühlen können, sie wie ein Liebhaber anfassen wollen“, bestätigt Kevin Roberts, Geschäftsführer bei Saatchi & Saatchi – und lächelt nicht dabei.4

Im Neuromarketing finden drei Interessen zueinander: Leute aus der Industrie wollen der eigenen Firma gegenüber Ausgaben für Werbung und Kommunikation legitimieren, Werbeagenturen wollen ihre Arbeit aufgewertet sehen, und die großen Medien wollen der wachsenden Bedeutung neuer Kommunikationswege etwas entgegensetzen.

Bruno Poyet, Mitbegründer der auf die Nutzung „bildgebender Verfahren“ spezialisierten Forschungseinrichtung Impact Mémoire, betonte bei einer „Woche der Werbung“ im November 2003, wie wichtig die Aufmerksamkeit und die an sie geknüpfte Emotion für die Erinnerungsleistung des menschlichen Gehirns sei.5

Einen derartigen „emotionalen“ Kontext, der die unter fünfzigjährigen Hausfrauen anspricht, versucht TF 1 in seinem Programm herzustellen. Ebenfalls 2003 pries der Sender in den einschlägigen Publikationen seine Werbestrecken an. Auf den Anzeigen war ein von einem Videoband umwickeltes Gehirn abgebildet, dazu der Satz: „Mit einem im Programm von TF 1 platzierten Werbespot erreichen Sie 23 Prozent mehr Speicherung im Gedächtnis der Zuschauer.“

Wie der Neurologe Bernard Croisile, ebenfalls Mitbegründer von Impact Mémoire, festhält, „prägen sich positive Inhalte besser ein, wenn man in einer positiven emotionalen Verfassung ist, während umgekehrt depressiv gestimmte Menschen negative Informationen besser behalten“.6 Folglich kommt es darauf an, dem Zuschauer vor einer Unterhaltungssendung oder nach der nüchternen Berichterstattung eines Politjournals seine Dosis angenehmer Emotionen zu verabreichen und ihm das eher deprimierende Format der kritischen Abhandlung zu ersparen.

Im März 2007 startete der internationale Werberiese Omnicom in Frankreich die Medienberatungsagentur PHD. Dieses internationale Beraternetz arbeitet mit einer Software für „Neuroplanning“, die auf Grundlage von Versuchen mit MRT entwickelt wurde und den Herstellern von Markenprodukten zeigen soll, welche Hirnregion in Anbetracht der jeweiligen Kampagnenziele und der eingesetzten Medien angesprochen werden sollten.

Im selben Jahr erhielt Impact Mémoire einen Auftrag von der Werbeleitung der Unternehmensgruppe Lagardère: Deren Inserenten sollte durch die Kombination verschiedener Medien und durch die Wiederholung der Werbebotschaften zu einer optimierten Speicherung ihrer Kampagnen in den Köpfen verholfen werden.

Die genaue Kenntnis der Abläufe in den Konsumentenköpfen verführt Unternehmen und ihre Werbestrategen natürlich dazu, die der Kommunikation zugewiesenen Grenzen zu sprengen. Schließlich wird allgemein davon ausgegangen, dass die Bereitschaft, ein Markenimage in sich aufzunehmen, besonders hoch ist, wenn die „Zielscheibe“ nicht weiß, dass sie Zielscheibe ist. Das erklärt den Aufschwung des „Advertainment“, dieser hybriden Kreuzung aus Werbung und Unterhaltung – jüngstes Beispiel: das Spiel Frankreich gegen Argentinien bei der Rugby-Weltmeisterschaft im Stadion von Paris. Die Kameras von TF 1 sahen zu, wie junge Mannequins in Unterwäsche auf den Rängen zu tanzen begannen: Es handelte sich um eine Inszenierung der Werbeagentur Fred-Farid Lambert für die französische Wäschemarke Dim.

Auch in den audiovisuellen Medien treibt das Productplacement Blüten, wie globale Verträge bezeugen, die Produzenten, Vertreiber und Inserenten miteinander verbinden. 2001 hat der Waschmittelkonzern Procter & Gamble einen 500-Millionen-Dollar-Vertrag mit dem US-Medienkonzern Viacom und deren Sender CBS geschlossen, um seine Produkte in den Drehbüchern unterzubringen. Vier Jahre später investierte Volkswagen 200 Millionen Dollar, um seine Autos in den Filmen von Universal und dem zugehörigen Fernsehsender NBC zu platzieren.

Noch ist der oberste französische Fernseh- und Rundfunkrat angehalten, jegliche Schleichwerbung im Fernsehen zu unterbinden. Mit der für 2008 anvisierten Umsetzung der EU-Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ in französisches Recht wird Productplacement auf den französischen Fernsehbildschirmen genauso erlaubt sein wie auf den amerikanischen. Bei der Gelegenheit wird wahrscheinlich auch die rund um die Uhr geltende Obergrenze von zwölf Werbeminuten pro Stunde dahingehend aufgeweicht werden, dass künftig während der Primetime mehr Werbung erlaubt sein wird. Natürlich zielen Fernsehprogramme nicht offen auf das Unterbewusstsein des Fernsehzuschauers. Aber hinter dem Fernsehzuschauer wird eben nach wie vor und jederzeit der Konsument ins Visier genommen.

Fußnoten: 1 Siehe „There’s a Sucker Born in Every Medial Prefrontal Cortex“, The New York Times Magazine, 26. Oktober 2003. 2 „Vous avez dit neuromarketing?“, Cerveau & Psycho, Nr. 7, September–November 2004. 3 Siehe „Neuromarketing: les bases d’une discipline nouvelle“, Journal du Net, 20. Februar 2007, www. journaldunet.com. 4 Stratégies, 11. November 2004. 5 Siehe www.aacc.fr. 6 Stratégies, 7. Oktober 2004.

Aus dem Französischen von Marc Blankenburg Marie Bénilde ist Journalistin und Autorin von „On achète bien les cerveaux. La publicité et les médias“, Paris (Raisons d’agir) 2007.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2007, von Marie Bénilde