13.08.1999

Die Presse zappelt im Netz

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Die Presse zappelt im Netz

Von MARC LAIMÉ *

DIE Ausbreitung des Internet hat manche Leute veranlasst, den Journalisten das Ende ihres Berufes vorherzusagen. Im Bereich der Online-Information tauchen immer neue Anbieter auf, die allerdings kaum „Inhalte“ im Zusammenhang mit einem verlegerischen Konzept, sondern vorwiegend automatisierte Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Durch ihre Vormachtstellung auf dem Anzeigenmarkt beschleunigen sie das Abdriften des Journalismus in den Kommerz – die Fähigkeit, zu schreiben und zu analysieren, könnte dabi auf der Strecke bleiben.

Einige Wochen vor seiner Ernennung zum Redaktionschef von Libération äußerte sich Frédéric Fillioux, bisher verantwortlich für die elektronische Ausgabe der Pariser Tageszeitung, äußerst besorgt über die derzeitige Entwicklung im Verlagswesen. In zwei bis drei Jahren, schätzte er, werden die meisten der 7 bis 10 Millionen Franzosen mit Internet-Anschluss nur noch eine Liste von „zwei bis drei Informationsverteilern“ regelmäßig in Anspruch nehmen. Wer nicht auf dieser Liste ist, werde „auf dem Markt der Online-Nachrichten völlig ins Abseits geraten“. Die warnenden Worte sind Ausdruck eines Gefühls, das viele Zeitungsverleger angesichts der völlig undurchschaubaren und chaotischen Entwicklungen ergriffen hat.

Andere Marktforscher sagen vorher, dass nur rund zwanzig große Titel, namentlich die Pioniere der Jahre 1995/96, es schaffen werden, eine starke Position zu behaupten.1 Denn unbestreitbare Marktführer der Informationsverbreitung über das Internet sind im Jahr 1999 die großen Suchdienste, Web-Verzeichnisse und Internet-Provider mit ihren „Portalseiten“: Yahoo, Altavista, Wanadoo, Voilà usw. Diese Akteure und Dienstanbieter, die zwischen Benutzer und Web-Inhalten vermitteln, haben die Online-Versionen der großen französischen Tageszeitungen, was die Zugriffszahlen betrifft, schon weit hinter sich gelassen. Während die Portale täglich zwei Millionen Mal angeklickt werden, können die am stärksten frequentierten Webseiten der französischen Tagespresse – Le Monde und Libération – täglich nur 200 000 Benutzer, das französische Wirtschaftsblatt Les Echos immerhin 700 000 Leser vorweisen.

Francis Lorentz, Verfasser eines Berichts über den E-Commerce, schreibt denn auch: „Die Internet-Portale und E-Commerce-Seiten, die von zig Millionen Kunden täglich aufgerufen werden, spielen bei der künftigen Entwicklung der Märkte eine bestimmende Rolle und werden weltweit einen erheblichen Einfluss gewinnen. Bis heute ist offenbar noch kein europäischer Anbieter in der Lage, einen ähnlichen Bekanntheitsgrad zu erreichen und eine ähnlich solide Kundenbasis aufzubauen wie die US-amerikanischen Portale.“2

Die mitunter als „neue Barbaren“ bezeichneten Marktführer nutzen ihre Stellung, um die Bedingungen der Informationsproduktion und -verteilung zu „revolutionieren“.

Das starke Wachstum des französischsprachigen Internet-Angebots an allgemeinen Informationen zeigt, dass die Nachfrage der Surfer durchaus berücksichtigt wird (nach einschlägigen Studien ist in Frankreich die Online-Informationssuche neben der Nutzung von E-Mail die zweitwichtigste Form der Nutzung des Internet). Da die Informationen kostenlos abrufbar sind, bringen sie dem Anbieter unmittelbar keinen finanziellen Gewinn – eine Besonderheit, die sich auf die inhaltlichen und wirtschaftlichen Überlegungen der Informationsanbieter auswirkt. Damit entsteht ein riesiger Jahrmarkt, auf dem Informationen nur die Rolle einer „Attraktion“ spielen.

Denn mit ihren Portalen sind die „neuen Barbaren“ in der Lage, den klassischen Medien, die sich auf die Rolle bloßer Lieferanten reduziert sehen, erpresserische Verträge zu diktieren. Das weltweit wichtigste Portal Yahoo zum Beispiel stellt die Informationsverwertung auf seiner französischen Webseite folgendermaßen dar: „Yahoo war bisher kein Erzeuger von Informationen und wird es bis auf weiteres auch nicht sein. Die Informationen werden von unternehmensexternen Anbietern aufbereitet. In unserer Eigenschaft als Kunden erhalten wir die Agenturmeldungen von AFP, AP und Reuters. Im Durchschnitt verbreiten wir täglich 600 Meldungen, die den Kern der Information darstellen. Nun besteht unsere Arbeit darin, diese Inhalte durch Partnerschaftsabkommen mit Anbietern aus dem Pressewesen – Le Monde, Libération usw. – zu unterfüttern. Unsere Beziehungen basieren also nicht unbedingt auf einem Austausch von Inhalten. Wir versuchen, als Informationsanbieter Glaubwürdigkeit zu gewinnen, während unsere Partner in erster Linie wahrgenommen werden wollen, um ihren Bekanntheitsgrad zu steigern.“3

In dieser Spielregel kommt die wirtschaftliche Logik des Internet zum Ausdruck. Die rege Beanspruchung ihrer Startseiten erlaubt es den verschiedenen Portalen, gegenüber der Presse durchzusetzen, dass sie deren Informationsinhalte kostenlos oder gegen einen nur symbolischen Beitrag weiterverbreiten dürfen. Wobei der „Markenname“ einschlägiger Tageszeitungen und Fachzeitschriften für den Surfer eine Garantie für die Qualität der Information darstellt. Die unentgeltliche Übernahme und Verbreitung von Inhalten, die durch die Presse erstellt wurden, wird dabei mit Konzepten wie „Presserundschau“ und „audience partnership“ gerechtfertigt. Im Gegenzug kann die Online-Presse einen Teil des Portal-Verkehrs via Hyperlink auf die eigene Homepage umlenken.

Bis auf wenige Ausnahmen haben die Verlage die Bedingungen dieses ungleichen Tauschs bereits akzeptiert, obwohl er einem Betrug sehr nahe kommt. Denn die Unentgeltlichkeit der Internet-Informationsangebote erweist sich in der Tat als Achillesferse der Verleger. Der Schlingerkurs von Slate, der Online-Zeitschrift von Microsoft, die auf dem amerikanischen Markt zu den Pionieren gehört, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Wenige Monate nach ihrem Start wurde der zunächst gratis angebotene Besuch der Webseite kostenpflichtig. Die Frequentierung ging daraufhin rapide zurück, sehr zum Vorteil des Mitbewerbers Salon Magazine, der seine Dienste von Anfang an unentgeltlich anbot. Daraufhin gab Slate den Zugang wieder frei; nur die Diskussionsforen und das Archiv der Zeitschrift blieben kostenpflichtig.

Auf lange Sicht scheint sich ein Modell durchzusetzen, das freien Zugang zu Teilen oder zum Gesamtumfang der Printausgabe mit dem kostenpflichtigen Zugang zu bestimmten Diensten mit hoher Wertschöpfung kombiniert.

Langfristig planen die Verlagshäuser zur Steigerung ihrer Einnahmen, ihre Archive – zu einem Durchschnittspreis von 1 Euro pro Artikel – zu vermarkten und darüber hinaus spezielle Serviceleistungen anzubieten. Bisher konnte nur das Wall Street Journal mit seinen 300 000 Abonnenten auf seiner Webseite vermelden, dass es für 1999 mit einem ausgeglichenen Betriebsergebnis rechne.

Inszenierung der Nachrichten

IN der Tat sehen sich die Zeitungsverlage plötzlich mit der völlig neuen Situation konfrontiert, dass die Verbraucher den unentgeltlichen Zugang zu ihren Publikationen als Selbstverständlichkeit betrachten.

Die Finanzierung der Online-Informationen beruht zunächst einmal auf Werbeeinnahmen – daher auch der Wettlauf um die Zugriffszahlen. Der erhoffte Geldsegen lässt indes auf sich warten. Ein ausgeglichenes Betriebsergebnis für ihre Webseiten erwarten die traditionellen Zeitungsverlage erst in zwei bis drei Jahren.

Darüber hinaus rechnen die Verleger mit wachsenden Einnahmen aus dem Online-Geschäft mit Waren und Dienstleistungen (Bücher, Musikkonserven, Reisen, Finanzdienstleistungen usw.), um ihre Kosten zu decken. Es besteht daher die Gefahr, dass die Webseiten der Printmedien (mittels der verschiedenen Sicherheitstechnologien für den Online-Zahlungsverkehr) für die Logik des Spontankaufs funktionalisiert werden und ihr „redaktioneller Inhalt“ insgeheim oder offen nur noch den Zweck verfolgt, zum Kauf anzureizen.

Ein weiteres Problem, um das sich die „neuen Barbaren“ nicht kümmern, betrifft die Bezahlung der Autoren. Die Journalistengewerkschaften fordern ein zusätzliches Honorar, wenn im Web Texte veröffentlicht werden, die der Autor ursprünglich für ein Printmedium verfasst hat. Da die Portale jedoch nicht zur Pressebranche gehören, fühlen sie sich auch nicht an die dort geltenden Rahmentarifverträge, Honorarmodalitäten und Verhaltenskodizes gebunden.

Die Presseorgane schließen auch untereinander „Partnerschaften“. Der News-Ticker einer Presseagentur zum Beispiel kann automatisch in jede beliebige Webseite gestellt werden. Anfang 1999 fanden sich auf den Webseiten der Printmedien kaum Nachrichten, die sie selbst aufbereitet hatten. Agence France-Presse (AFP) versorgt wie Associated Press (AP) und Reuters hunderte von Internetsites mit einer Auswahl aus seinem News-Ticker. Die Presseorgane, Institutionen und Unternehmen integrieren diesen Dienst in ihre Webseiten und stellen ihn dem Benutzer zur Verfügung. Der News-Ticker liefert Schlagzeilen und Kurzmeldungen, die laufend aktualisiert und zum Teil mit Bild- und Tondokumenten angereichert werden. Wegen seiner weiten Verbreitung erreicht er ähnlich viele Nutzer wie die großen Portale.

Da Hunderte von Webseiten gleichzeitig dieselben Agenturmeldungen verbreiten, ist bei den allgemeinen Nachrichten eine starke Redundanz festzustellen. Im Übrigen hat der Internet-Surfer als „Großverbraucher von Informationen“ dieselben Meldungen wahrscheinlich zuvor schon in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört.

Die Online-Zeitungen der großen Verlagshäuser sind in den meisten Fällen nur die elektronische Version des eigentlichen „Produkts“, das hier und da mit einigen Beigaben aufgepeppt wird. Die schlichte Verdoppelung der Printausgabe zeugt dabei nicht unbedingt von einem Mangel an Kreativität. Die Bedürfnisse der Zielgruppe spielen eine mindestens ebenso große Rolle wie die hohen Kosten einer eigenständigen Multimedia-Redaktion. Positiv zu vermerken ist, dass inzwischen 60 Prozent der im Ausland lebenden Frankophonen die Online-Dienste der Printmedien regelmäßig in Anspruch nehmen.

Neben den Entwicklungsstrategien der Medienunternehmen verdient die Politik, die sie für die Inhalte und Regeln der Informationsproduktion und -verteilung entwickeln, eine genauere Betrachtung. Diese Politik hat neuen Zündstoff in die Diskussion über die journalistische Ethik und den journalistischen Verhaltenskodex gebracht.

Das Online-Angebot an allgemeinen Informationen ist in ein breit gefächertes Spektrum von freien oder kostenpflichtigen Diensten eingebunden. Hier kann man noch schwerer zwischen Information, Werbung, Kommunikation, Event, Dienstleistung und Verkauf unterscheiden als bei den klassischen Informationsträgern.4 Die „traditionellen“ Verleger setzen offenbar darauf, dass ihr „Markenname“ als Garantie für die Qualität der von ihnen produzierten und verbreiteten Information gilt. Das wirft allerdings die Frage auf, wie angesichts der neuen Akteure, die sich dank ihrer Machtposition nicht mit dem ganzen Drum und Dran der klassischen Erzeugung von Informationsinhalten herumschlagen müssen, eine ausgeglichene Finanzierung erreicht werden soll.

So erklärte etwa der stellvertretende Generaldirektor des Portals Wanadoo, der für Dienstleistungen und inhaltliche Gestaltung verantwortlich ist: „Es ist nicht unsere Aufgabe, selbst Inhalte zu entwickeln. Wir befassen uns mit der Inszenierung und ständigen Aktualisierung unserer Dossiers, Themen und Rubriken.“5

Deutliche Worte. Die „Inszenierung“ und „ständige Aktualisierung“ von Kurzmeldungen und Dossiers durch „Redaktionsstäbe“, deren Mitglieder meist aus dem Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Marketing kommen und in der Regel keinen Presseausweis besitzen, ist innerhalb von wenigen Jahren zur Norm geworden.

Dass sich unter diesen Bedingungen redaktionell der kleinste gemeinsame Nenner durchsetzt, ist eine womöglich irreversible Entwicklung. Dabei bleiben gerade die Möglichkeiten des Internet auf der Strecke, die maßgeblich zum Mythos vom weltumspannenden, kommunikationsfördernden, demokratischen Netz beigetragen haben: innovative Multimedia-Präsentationen, Interaktivität, Hintergrundrecherche, gemeinschaftliche Veröffentlichungen usw.

Die redaktionellen Konzepte der führenden Anbieter stützen sich auf Erfahrungen aus dem Bereich der audiovisuellen Medien, der Fachpresse, der kostenlosen Informationsblätter und der Verbraucherzeitschriften. Was dabei herauskommt, sind Phänomene wie „publi-channel“ oder „content partnership“: Es gibt einen „zielorientierten“ redaktionellen Inhalt mit informativem Charakter, aber der soll in erster Linie zum Kauf der beworbenen Produkte und Dienstleistungen des Werbeunternehmens anreizen.

Mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie die gefährliche Liebschaft zwischen redaktionellem Inhalt und Werbung verdient der unaufhaltsame Aufstieg eines neuen Paradigmas der Informationsherstellung. Die Webseite der französischen Journalistenschmiede „Centre de formation et de perfectionnement des journalistes“ (CFPJ) bringt das neue Credo in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. In einem Artikel über „Die Lesbarkeit von Texten im Web: Adaptationen für den Online-Service“ versteigt sich der Verfasser zu der Behauptung, dass „der Leser eine Webseite nur sehr selten Wort für Wort liest. (...) Damit man ein Dokument überfliegen kann, ist die Verwendung eines einfachen Wortschatzes ohne alle komplizierten Begriffe oder Fachausdrücke angezeigt. Der Text muss rasch zu entziffern und klar verständlich sein. (...) Der Leser braucht für einen Text, den er am Bildschirm liest, 25 Prozent mehr Zeit als für einen gedruckten Text. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass er den Text eher überfliegen als lesen will, muss die gedruckte Textvorlage um rund 50 Prozent reduziert werden, bevor man den Text für die Online-Fassung umschreibt. (...) Wird der Text für das Web ausgehend von einer Papiervorlage umgeschrieben, sollte man die Ausgangstexte zunächst auseinandernehmen, um die wesentlichen Gedanken herauszufiltern. (...) Der Wortschatz eines Online-Texts muss einfach sein. Das Prinzip des Überfliegens duldet weder einen komplexen Wortschatz noch einen komplizierten Satzbau. Der angemessene Schreibstil ähnelt eher der gesprochenen Sprache, vermeidet allerdings umgangssprachliche Ausdrücke und Wiederholungen. Er ist direkter und weniger literarisch als der gedruckte Ausgangstext. Die Qualität der Information ist auf das Wesentliche reduziert.“

Sollten sich die künftigen Multimedia-Journalisten diese Empfehlungen zu Herzen nehmen, so steht zu befürchten, dass sich das französischsprachige Informationsangebot im Internet nicht auf der Höhe der kulturellen, wirtschaftlichen und diplomatischen Probleme bewegen wird, die es darstellen soll.6 Die Zwänge, die dem Pluralismus und der journalistischen Ethik bereits heute schwer zusetzen, könnten sich durch das Internet in den nächsten Jahren noch weiter verschärfen. Der Prozess der Kommerzialisierung würde durch seine schrankenlose Entfaltung im virtuellen Raum des Netzes gewaltige Fortschritte machen.

dt. Bodo Schulze

*  Journalist

Fußnoten: 1 „La presse française et l'Internet“, Benchmark Group, März 1999, 125 Seiten. 2 Francis Lorentz, Anhörung vor dem französischen Wirtschafts-, Finanz- und Industrieministerium, 4. Februar 1999. 3 Grégoire Clémencin, Seniorproduzent von Yahoo France, Interview mit der Online-Zeitung Journal du Net, 11. März 1999. 4 Laurent Mauriac, „L'info emballe la pub“, Libération, supplément multimédia, 29. Januar 1999. 5 Daniel Sainthorant, Broadcast 41, 3. Februar 1999. 6 Vgl. Patrick Bloche, „Le désir de France. La présence internationale de la France et la francophonie dans la société de l'information“, Bericht an den französischen Premierminister vom 7. Dezember 1998, einzusehen unter http://www.patrickbloche.org/.

Le Monde diplomatique vom 13.08.1999, von MARC LAIMÉ