13.08.1999

Der Jongleur ist tot

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Der Jongleur ist tot

Von IGNACIO RAMONET

DIE Bilanz der Herrschaft von Hassan II., der am 23. Juli verstarb, ist höchst widersprüchlich. Zum einen gelang es dem marokkanischen König, die 1956 errungene nationale Unabhängigkeit zu konsolidieren. Er bemühte sich, die territoriale Einheit seines Landes wiederherzustellen, das durch die kolonialen Ansprüche von Spaniern und Franzosen in mehrere Regionen zerfallen war (in diesem Kontext inszenierte er den „Grünen Marsch“ in die Westsahara). Es gelang ihm auch, die Monarchie zu erhalten – Marokko ist heute das einzige Königreich auf dem afrikanischen Kontinent. Und obgleich er sich in der Zeit des Kalten Krieges auf die Seite des Westens gestellt hatte, verblieb sein Land doch im Umfeld der Blockfreien. Schließlich ergriff er mutige Initiativen für einen israelisch-arabischen Dialog. Das ist nicht wenig.

In anderen Bereichen fällt die Bilanz nicht so positiv aus. Das betrifft vor allem die Freiheitsrechte. Seine 38-jährige Herrschaft war geprägt von uneingeschränktem Absolutismus und ständigen Verletzungen der Menschenrechte. Die politische Opposition – zumal die Linke und die radikale Linke – wurde unerbittlich verfolgt, ihre Führer häufig ins Gefängnis geworfen oder umgebracht, wie es etwa Mehdi Ben Barka im Oktober 1965 widerfuhr. Zahlreiche Aktivisten wie Abraham Serfaty wurden systematisch gefoltert und zu langen Haftstrafen verurteilt oder einfach entführt und liquidiert. Willkür, Ungerechtigkeit und Terror machten selbst vor Mitgliedern des Hofstaates nicht Halt, die des – tatsächlichen oder vermeintlichen – Verrats beschuldigt wurden. Das beweisen die Berichte der Überlebenden von Tazmamart, dem schrecklichen Todes-Straflager1 , oder die der Familie Oufkir.2

Im Laufe der Zeit erlosch die Hoffnung, die unmittelbar nach der Unabhängigkeit erwacht war. Eine kleine Kaste von Reichen plünderte das Land, riss Posten und Privilegien an sich, verteilte den nationalen Reichtum und verstärkte den übelsten Atavismus eines noch weitgehend feudalistischen Regimes. Polizeiliche Repression erstickte die sozialen Proteste oder schlug sie blutig nieder wie die zahlreichen „Hungeraufstände“: im Juni 1981 in Casablanca (66 Tote), im Januar 1984 in Marrakesch und Tetuan (über 110 Tote), im Dezember 1990 in Fes und Tanger (170 Tote). Diese Repression und das Klima der Angst, das sie erzeugte, vermochten die überfälligen Reformen immer weiter hinauszuzögern.

Hassan II. nominierte zwar im Februar 1998 einen Sozialisten, Abderrahmane Youssouffi, zum Premierminister, doch kontrollierte er weiterhin die wichtigsten Entscheidungen in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung, Justiz und Außenpolitik.3 Seinem Nachfolger, dem jungen Mohammed VI., hinterlässt er ein Land, dessen Bevölkerung nach überfälligen Erneuerungen ruft. Das aber könnte eine gefährliche Explosion auslösen.

Denn Marokko ist ein soziales Pulverfass. Ein Viertel der Bevölkerung (mehr als 7 Millionen) lebt unterhalb der Armutsschwelle, 23 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos, mehr als die Hälfte aller Marokkaner können nicht lesen und schreiben. In der UNO-Rangliste, die auf einem Index gesellschaftlicher Entwicklungsfaktoren beruht, liegt Marokko auf Platz 125, weit hinter Algerien und Tunesien.

DIE soziale Ungleichheit springt ins Auge: Mehr als hunderttausend Hochschulabsolventen – Ingenieure, Ärzte, Lehrer und Techniker – sind auf Arbeitssuche. Während die soziale Unzufriedenheit lange Zeit in unterentwickelten ländlichen Gebieten konzentriert war, drohen heute Aufstände in den Städten. Diese Gefahr wächst, zumal die Bewohner der Slumviertel zunehmend auf die radikalsten Parolen hören, auf die der Islamisten. Diese sind seit der Regierungsbeteiligung der Sozialisten für zahlreiche Entrechtete die einzige glaubwürdige Opposition und inzwischen landesweit die gefährlichste politische Kraft. Dazu kommt die öffentliche Verschuldung von 22 Milliarden Dollar (das entspricht 39 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) die über 25 Prozent der Exporterlöse auffrisst.

Vermag der neue Herrscher das Land rasch auf den Weg eines wirklichen demokratischen Wandels zu bringen4 , wie es in Spanien Juan Carlos I. nach dem Tod des Generals Franco gelungen ist? Was ansteht, sind keine kleinen Aufgaben. Die politischen und gewerkschaftlichen Freiheiten müssen gesichert werden, mittels des von der UNO für Juli 2000 geplanten Referendums ist das Westsahara-Problem beizulegen; die Beziehungen mit Algerien sollten wieder aufgenommen werden, mit dem Fernziel einer Union des arabischen Maghreb. Die kulturelle Eigenständigkeit der Berber, die mindestens 35 Prozent der Bevölkerung ausmachen, muss anerkannt, die zurückgebliebenen Regionen müssen entwickelt werden (55 Prozent der Marokkaner leben auf dem Land). Die Korruption im öffentlichen Dienst, die selbst die höchsten Ebenen erreicht hat, muss bekämpft werden; der Drogenhandel, den die mächtigen Lokalfürsten des Nordens beherrschen, muss unterbunden werden.

Ein Beobachter fasst die Situation so zusammen: „Hassan II. war ein ungeheuer geschickter Jongleur, der gleichzeitig zwölf Bälle in die Luft werfen und mit ihnen jonglieren konnte. Aber was geschieht mit den Bällen, wenn der Jongleur plötzlich nicht mehr spielt?“5

Fußnoten: 1 Vgl. Ali Bourequat, „Dix-huit ans de solitude. Tazmamart“, Paris (Michel Lafon édit.) 1993. 2 Vgl. Malika Oufkir et Michèle Fitussi, „La prisonnière“, Paris (Grasset) 1999. 3 Vgl. Zakya Daoud, „Die neue Regierung hat Angst vor dem Bruch“, Le Monde diplomatique, April 1999. 4 Vgl. Hicham Ben Abdallah El Alaoui, „La monarchie marocaine tentée par la réforme“, Le Monde diplomatique, September 1996. 5International Herald Tribune, 24. Juli 1999.

Le Monde diplomatique vom 13.08.1999, von IGNACIO RAMONET