10.09.1999

Starke Signale

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Starke Signale

BEI 145 690 Anträgen 66 000 Ablehnungen und für fast alle der 79 700 sans papiers, die 1998 „regularisiert“ wurden, jedes Mal ein ermüdendes Hindernisrennen in der Hoffnung, die befristete Aufenthaltsgenehmigung für weitere 12 Monate bewilligt zu bekommen ... Nach 27 Reformen der Verfügung von 1945 über die Einreise nach bzw. den Aufenthalt in Frankreich ist der „republikanische Konsens“ in eine Sackgasse geraten, nur schlecht kaschiert durch die Idee des codéveloppement. Mit diesem Begriff „kann man leicht vorgeben, auf dem Gebiet der Entwicklung etwas zu unternehmen [...], ohne eine Einwanderungspolitik in Übereinstimmung mit den Grundrechten betreiben zu müssen“, befindet die Juristin Monique Chemillier-Gendreau in ihrem Beitrag zu einer Gemeinschaftspublikation über die sans papiers.1

„Die internationale Mobilität ist das Modell für Ungerechtigkeit“, schreibt die Juristin Jacqueline Costa-Lascoux. „Sie ist das Privileg einer internationalen ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Elite, einer 'Jet society‘, während den Ärmsten ein fester Aufenthaltsort bestimmt wird.“

Glaubt die Regierung wirklich an ihre Theorie des „starken Signals“, das sie pausenlos in alle Welt aussendet, um den „Sog“ zu verhindern, den eine allzu große Nachgiebigkeit – d. h. Respektierung der Menschenrechte in dieser Frage – auslösen würde? „In Wirklichkeit ist es die Aussicht, rasch einen bezahlten Job im illegalen Sektor zu finden, die ihre Sogwirkung auf potentielle Kandidaten der illegalen Einwanderung ausübt“, lautet die Analyse des Anthropologen Emmanuel Terray.

Nachdem der Staat überall sonst seine Verantwortung abtritt, wird man die Gründe für seine Einmischung in diesem speziellen Bereich also anderswo suchen müssen. Der Philosoph Etienne Balibar bestreitet „das 'republikanische‘ Selbstverständnis, nach dem die Staatsbürgerschaft Rechte verleiht, die Nichtstaatsbürger nicht besitzen. [...] Damit verkehrt sich eine große Errungenschaft der modernen Staaten, die institutionalisierte Gleichsetzung von Staatsbürgerschaft und Nationalität (durch die die Idee der 'Souveränität des Volkes‘ erst konkretisiert wird), immer mehr ins Gegenteil ihrer demokratischen Bedeutung: Sie existiert nicht mehr, um der Nationalität jene historische Form zu verleihen, in der kollektive Freiheit und Gleichheit entstehen, sondern um aus ihr das eigentliche Wesen der Nationalität zu machen – die absolute Gemeinschaft, die alle anderen reflektieren müssen.“

Und wenn der Buchstabe des Gesetzes nicht ausreicht, den Ausländern zu demonstrieren, dass sie weniger Rechte besitzen, dann sorgt die administrative Hierarchie dafür, die nur ein Oben und ein Unten kennt.2 „Das Recht aller Kinder auf Schulbildung wird durch die internationalen Verpflichtungen Frankreichs und durch die Präambel der Verfassung garantiert“, erinnert die Gruppe für Information und Unterstützung der Einwanderer (Groupe d'information et de soutien des immigrés; Gisti).3 Freilich, von den Kommunalbehörden, die eine Aufenthaltsgenehmigung verlangen, wird dieses Recht allzu häufig „ignoriert“.

So erklärt sich auch die unwürdige Unterbringung von illegalen Einwanderern, die an Flughäfen in Ausschaffungshaft genommen oder über die Grenze abgeschoben werden. Dass es bei solchen Maßnahmen zwangsläufig „handfest“ zugeht, versteht sich von selbst. „Wir haben nicht mehr als das Übliche getan“, gab Polizeikommissar Eric Brendel in der Verhandlung zu Protokoll, bei der nahezu acht Jahre später die Umstände des Todes von Arumugan Kanapathillai aufgeklärt werden sollten.4

PHILIPPE RIVIÈRE

dt. Matthias Wolf

Fußnoten: 1 Etienne Balibar, Monique Chemillier-Gendreau, Jacqueline Costa-Lascoux und Emmanuel Terray, „Sans-Papiers, l'archaisme fatal“, Paris (La Découverte, Reihe „Sur le vif“) 1999. 2 Siehe hierzu die Dokumentation „Le modèle français de discrimination. Un nouveau défi pour l'antiracisme“, Mouvements Nr. 4, Mai/Juni/Juli 1999, Paris (La Découverte, Reihe „Sur le vif“) 1999. 3 Guide des jeunes étrangers en France, Paris (Syros) 1998. 4Le Monde, 23./24. Mai 1999.

Le Monde diplomatique vom 10.09.1999, von PHILIPPE RIVIÈRE