15.10.1999

Neue Schritte auf bekannten Pfaden

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Neue Schritte auf bekannten Pfaden

Von AMNON KAPELIOUK *

IN der Geschichte Israels hat noch kein Ministerpräsident solche Hoffnungen geweckt wie General Ehud Barak. Die Begeisterung, die sein Wahlsieg vom 17. Mai 1999 auslöste, erklärt sich vor allem daraus, dass die Mehrheit der Israelis „Bibi“ Netanjahu los sein wollte. Die Parole der Arbeitspartei: „Israel will den Wechsel“ – eine Erfindung der amerikanischen Wahlkampfexperten Carville und Greenberg1 – kam gut an. Die Wähler ließen sich von den Versprechen des Kandidaten Barak überzeugen.

Die Rechte erlitt eine herbe Niederlage. Benny Begins ultrarechte „Vereinigte Nationale Partei“ gewann nur vier Mandate; die Nationalreligiöse Partei, Interessenvertretung der Siedler im Westjordanland, verlor die Hälfte ihrer Sitze. Auch Benjamin Netanjahus Likud musste schwere Verluste hinnehmen und errang nur 19 der 120 Sitze im Parlament.

Drei Monate ist Ehud Barak nun im Amt, und eine erste, vorläufige Bilanz fällt nicht leicht. Joäl Marcus spricht von einem „arroganten politischen Anfänger“ mit einem „unbeholfenen Regierungsstil“2 , aber eine neuen Umfrage zeigt, dass Barak das Vertrauen von 59 Prozent der Bevölkerung genießt3 .

Es stellt zweifellos einen Erfolg dar, dass Barak die engen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wiederhergestellt hat. Die drei Jahre währenden Differenzen und sogar Konflikte zwischen Netanjahu und dem Weißen Haus hatten dazu geführt, dass die Clinton-Regierung sich gegen die Friedensgegner wendete. Ihre Botschaft an die israelischen Wähler war so deutlich wie die von Präsident Bush vor sieben Jahren. Mit demselben Erfolg: 1992 wurde Jitzhak Schamir von Jitzhak Rabin abgelöst, 1999 siegte Barak über Netanjahu.

Zwischen 1996 und 1999 übernahm Washington erstmals eine aktive, wenn nicht gar schlichtende Rolle in den Verhandlungen zwischen dem Likud-Regierungschef und der palästinensischen Autonomiebehörde. Als klar war, dass Netanjahu jeden Fortschritt im Friedensprozess blockierte, durfte Arafat als „Ehrengast“ im Weißen Haus auftreten – ein Privileg, das Netanjahu nicht gewährt wurde. Arafats größter Erfolg bestand vielleicht darin, dass Washington bei palästinensisch-israelischen Konflikten nicht selten zu seinen Gunsten intervenierte.

Nach Baraks Wahlsieg beschränkten sich die USA wieder auf ihre Rolle als „Förderer“ des Friedens und überließen die direkten Verhandlungen den Konfliktparteien. Gleichzeitig erneuerten sie die engen Beziehungen zu Israel. Die gemeinsame Erklärung beim Antrittsbesuch des israelischen Ministerpräsidenten in Washington vom 19. Juli begrüßte die „erhebliche Verbesserung der bereits außergewöhnlich guten bilateralen Beziehungen“, die ein „bisher unerreichtes Niveau strategischen Zusammenwirkens“ ermögliche. Präsident Clinton habe „die dauerhafte Verpflichtung der Vereinigten Staaten bekräftigt, zur Sicherheit Israels beizutragen, Israels militärischen Vorsprung zu erhalten und sein Abschreckungs- und Selbstverteidigungspotential gegen jede Art Bedrohung zu stärken“. Clinton sagte eine um 30 Prozent erhöhte Militärhilfe zu, die damit in den nächsten zehn Jahren 2,4 Milliarden Dollar jährlich ausmachen wird. Hinzu kommt die Finanzierung von israelischen Sicherheitsaufwendungen aufgrund des Wye-Abkommens, in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar.

Nach diesem Triumph sah sich Barak in einer Position der Stärke. Noch war das Wye-Abkommen, das sein Amtsvorgänger im Oktober 1998 unterzeichnet hatte, nicht umgesetzt, vor allem der israelische Rückzug aus weiteren sieben Prozent des Westjordanlands und die Freilassung von 700 palästinensischen Gefangenen nicht vollzogen. Die Versprechen Netanjahus einzulösen hätte Barak bei den Palästinensern wie in der arabischen Welt einen wichtigen Vertrauensvorschuss verschafft. Doch er spielte auf Zeit – ein schwerer psychologischer Fehler. Die arabische Welt – allen voran die Palästinenser – hatte Baraks Wahl begrüßt. Nach drei Jahren Verhandlungsstillstand und immer neuen Brüskierungen erwartete Arafat eine versöhnliche Geste. Vergeblich.

Barak beging einen weiteren Fehler, indem er nachträgliche Änderungen des Wye-Vertrags verlangte, was den Zeitplan und den Umfang des Rückzugs aus dem Westjordanland anging. Das erinnerte die Palästinenser an Netanjahus Vorgehensweise: langwierige Verhandlungen, schließlich ein Abkommen und sofort wieder neue Differenzen über die Umsetzung des gerade unterzeichneten Vertrags.

Der neue Ministerpräsident begründete seine Forderungen mit dem Argument, nach dem erneuten Truppenrückzug dürfe es nicht zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Siedlern und palästinensischen Sicherheitskräften kommen. Die Palästinenser antworteten mit einem arabischen Sprichwort: „Die Ausrede ist schlimmer als die Sünde.“ Warum sollten die Siedler den Ablauf der Verhandlungen bestimmen? Das war kein gutes Zeichen.

Überdies bemühten sich die Bewohner der 144 Siedlungen im Westjordanland nach dem Schock des Wahlergebnisses offenbar um gute Beziehungen zu Barak. Der versprach ihren Vertretern, eine Reihe der jüdisch besiedelten Gebiete zu annektieren, indem er die rhetorische Frage stellte: „Kann man nicht Frieden mit den Palästinensern schließen und dennoch Beit El [eine Siedlung nördlich von Ramallah] behalten? Oder Ofra, das in einem strategisch so entscheidenden Gebiet liegt? [...] Sie besitzen doch bereits Dschenin, Nablus, Ramallah, Hebron und Bethlehem?“4 Zugleich beklagten führende Mitglieder der „Peace now!“-Bewegung, dass der Ministerpräsident nicht bereit sei, sie zu empfangen.5

Ende September kam schließlich – nach ähnlich turbulenten Verhandlungen wie in der Vergangenheitein – ein Abkommen über die Umsetzung des Wye-Vertrags zustande. Da es praktisch der früheren Vereinbarung entsprach, hatte man zwei Monate schlicht vertan. Die Frage des Palästinenserstaats wurde nicht behandelt, aber Jassir Arafat ließ sich inzwischen von der Europäischen Union zusichern, er könne einen unabhängigen Staat ausrufen, falls bis Ende der Gespräche über den endgültigen Status keine Einigung zwischen den Verhandlungsparteien erzielt worden sei. Andererseits haben sich die Palästinenser von den Israelis die Zustimmung abnötigen lassen, bis Februar 2000 eine Grundsatzerklärung über ein endgültiges Statut zu erzielen, das dann bis September 2000 ausgehandelt werden muß.

Baraks Vorstellungen sind bekannt. Er wäre bereit, eine palästinensische Gebietseinheit oder sogar einen Staat zu akzeptieren, sofern es sich um ein Konglomerat von Parzellen, also nicht um ein geschlossenes Territorium, handelt. Damit wäre die Mehrzahl der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten und einen Großteil der Zone C annektiert.6 Das Westjordanland und der Gaza-Streifen machen allerdings nur 20 Prozent des einstigen Palästina aus; damit würden sich nach der letzten Abzugsphase im Februar 2000 nur 41 Prozent der 1967 von Israel besetzten Gebiete unter (eingeschränkter oder vollständiger) palästinensischer Souveränität befinden. Über die übrigen 59 Prozent – und über bislang ausgeklammerte Fragen wie den Status von Jerusalem, die Flüchtlinge und die Siedlungen –, soll es bis zum 13. September 2000 zu einer Einigung kommen. Dann wären sieben Jahre seit der gemeinsamen Erklärung von Arafat und Rabin vergangen.

Zudem hätte der neue Zwergstaat in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik, Wirtschaft, Wasser u. a. nur eingeschränkte Machtbefugnisse. Und Israel könnte gegen die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge von 1948/1949 und 1967 in den neuen palästinensischen Staat ein Veto einlegen; die weitaus meisten von ihnen werden daher in den arabischen Staaten bleiben müssen. Außerdem besteht die israelische Regierung – wie die Opposition – auf Jerusalem als ewig ungeteilter Hauptstadt Israels, in der den Palästinensern keinerlei Souveränität zusteht.

Die Regierung Barak würde zwar gern zu einer endgültigen Friedensregelung mit den arabischen Staaten kommen, im Verhältnis zu den Palästinensern jedoch würde ihr aber auch eine Übergangslösung genügen, womit ihr der Preis des Friedens erspart bliebe: die vollständige Rückgabe der besetzten Gebiete gemäß Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats. So sieht der politische Horizont des Netanjahu-Nachfolgers aus.

Doch Barak agiert nicht allein auf der politischen und diplomatischen Bühne. Ägypten und (in bescheidenerem Maße) Jordanien leisten den Palästinensern wertvolle Unterstützung; im Falle offener Rechtsverstöße könnte sogar Washington deutliche Worte sprechen. Martin Indyk, Staatssekretär für Nahost-Fragen im amerikanischen Außenministerium, kritisierte bei einem Besuch in Jerusalem den israelischen Wunsch nach Änderungen im Wye-Abkommen. Worauf Barak erbost entgegnete: „In diesem Ton können Sie sich hier nicht äußern.“7 Aber wenn in den USA der Präsidentschaftswahlkampf auf Touren kommt, wird sich die Regierung um den Nahen Osten nicht mehr so intensiv kümmern können.

Auch in den Verhandlungen mit Syrien legte Barak keine besondere Kühnheit an den Tag. Trotz häufiger Elogen auf Hafis el-Assad – „Präsident Assad ist ein starker Führer und ein Ehrenmann, der zu seinem Wort steht“8 – hat er sich noch nicht öffentlich für die Rückgabe der Golan-Höhen an Syrien ausgesprochen. Dabei hat sich in Israel ein deutlicher Meinungsumschwung vollzogen. Man hält es für sinnvoll, das Hochplateau für den Frieden zu „opfern“, und die Mehrheit der Siedler auf dem Golan hat für Barak gestimmt. Dies belegt auch das Scheitern der Partei „Dritter Weg“ bei den Parlamentswahlen, die sich eigens zur „Verteidigung“ des Golan gegründet hatte. Aus seriöser Quelle verlautbart sogar, auch Netanjahu habe in geheimen Verhandlungen vor den Wahlen einer Rückgabe zugestimmt.9

ISRAEL und Syrien streiten sich vor allem um den Grenzverlauf: Soll die Grenze zwischen Palästina und Syrien gelten, die am Ende des Ersten Weltkriegs festgelegt wurde, oder die Waffenstillstandslinie von 1949, die offiziell bis zum Krieg von 1967 Bestand hatte?10 Syrien tritt für die Wiederherstellung der Grenzen vom 4. Juni 1967 ein – womit das syrische Staatsgebiet wieder bis zum Ostufer des Sees Genezareth reichen würde – und fordert von Israel entsprechende eindeutige Zusicherungen. Barak will sich dazu vor den Verhandlungen nicht äußern. Auch werden die Ergebnisse der Verhandlungen, die bis Februar 1996 geführt wurden, unterschiedlich interpretiert. Damaskus behauptet, Jitzhak Rabin habe auf Drängen des US-Außenministers Warren Christopher am 3. August 1993 den Rückzug auf die Grenzen vom 4. Juni 1967 zugesagt. Israel erklärt, Rabin habe Christopher lediglich erklärt: „Stellen Sie Assad die Frage: Wird Syrien, wenn Israel definitiv vom Golan abzieht, im Gegenzug zu einer endgültigen Friedensregelung bereit sein, einschließlich der Öffnung der Grenzen und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen? Wir bitten Sie, dies als Ihre eigenen Überlegung, nicht als unsere auszugeben.“11

Laut Barak will Israel zwar spätestens im Juni 2000 den einseitigen Rückzug aus dem Südlibanon vollziehen, falls es keine Fortschritte bei den Verhandlungen gebe. Aber der Frieden mit Beirut hängt von der Rückgabe des Golan ab. Bis dahin wird auch an der libanesischen Grenze kaum Ruhe einkehren.

Durch einen Friedensschluss mit Syrien könnte Barak mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens wäre damit das einzige arabische Land neutralisiert, das genügend Mittelstreckenraketen und Chemiewaffen besitzt, um eine militärische Bedrohung für Israel darzustellen. Zweitens könnte sich Israel aus der verfahrenen Situation im Südlibanon befreien, wo immer wieder israelische Soldaten getötet werden. Frieden mit Syrien würde zwangsläufig auch Frieden mit dem Libanon bedeuten, und damit hätte sich der jüdische Staat mit allen arabischen Anrainern ausgesöhnt. Den dritten und entscheidenden Aspekt hat Barak bislang nicht öffentlich thematisiert: Er ist fest davon überzeugt, dass ein Friedensschluss mit Assad auch in den Augen der internationalen Gemeinschaft die Aussöhnung Israels mit der arabischen Welt besiegeln würde.

Dem liegt bei Barak die Einschätzung zugrunde, die Palästina-Frage sei gar nicht der Kern des israelisch-arabischen Konflikts. Er kalkuliert sogar, ein Frieden mit Damaskus könnte den Preis reduzieren, den Israel den Palästinenser entrichten muß, insofern deren Ansprüche von der internationalen Gemeinschaft als ungerechtfertigt eingeschätzt würden.

Im Wahlkampf hatte Barak wiederholt erklärt, er werde seine ganze Kraft der Lösung der sozialen Probleme widmen. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Kranke in ihrem Bett auf dem Flur des Krankenhauses liegen mussten. Das ist untragbar“, empörte er sich bei einem Besuch in Naharia. Aber in seinem Haushalt plant er für das Jahr 2000 drastische Kürzungen im sozialen Bereich – Gesundheitswesen, Bildung usw. –, gleichzeitig sollen die Steuern erhöht werden. Während sich die Regierung für die Fortsetzung der Privatisierungen stark macht, ist die Arbeitslosenzahl auf 200 000, also neun Prozent der Erwerbsfähigen, gestiegen.

Bei den Militärausgaben will General Barak dagegen nicht sparen. Der unter Militärexperten umstrittene Kauf von 50 Jagdbombern des Typs F-16 I – für stattliche 2,5 Milliarden Dollar – bedeutet eine schwere Belastung des Haushalts. Erklärtes Ziel des Ministerpräsidenten ist es, den Irak zu bekämpfen, den er, „solange Saddam an der Macht ist, als ernste Bedrohung für Israel“ ansieht. Auf dieses Problem hat der Chef des israelischen militärischen Geheimdienstes im Juli 1999 bei seinem Besuch in Washington nachdrücklich hingewiesen.

Inzwischen sprechen einige arabische Führer, die den Sieg der Arbeitspartei im Mai wohlwollend registriert hatten, bereits von einem „bewaffneten Frieden“, und bringen erneut die Frage der israelischen Atomwaffen zur Sprache. Ägypten hat sogar mit der Produktion chemischer und biologischer Waffen gedroht, falls Israel weiterhin die Inspektion seiner nuklearen Einrichtungen verweigert. Die Antwort Baraks war ein entschiedenes Nein.12

Niemand bedauert, dass Barak die Wahlen gewonnen hat, aber der neue Ministerpräsident muss nun neue Impulse geben. Wenn er die Erwartungen nicht enttäuschen will, sollte er sich nicht an die beiden Ratschläge halten, die ihm Benjamin Netanjahu vor seinem Ausscheiden aus dem Amt gegeben hat: „Lassen Sie Arafat und Assad nicht aus dem Schwitzkasten“13 und „Machen Sie den Arabern keine Zugeständnisse. Man muss Konflikte mit ihnen produzieren.“14

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Jerusalem.

Fußnoten: 1 Siehe Serge Halimi, „Politischer Berater – ein Metier ohne Grenzen“, Le Monde diplomatique, August 1999. 2Hair (Tel Aviv) vom 27. August 1999. 3Haaretz (Tel Aviv) vom 31. August 1999. 4Haaretz vom 18. Juni 1999. 5Maariv (Tel Aviv) vom 22. August 1999. 6 Nach den Oslo-Verträgen ist das Westjordanland in drei Zonen aufgeteilt: Zone A steht vollständig unter palästinensischer Kontrolle, in Zone B behält Israel die militärische Oberhoheit und überlässt den Palästinensern die zivile Verwaltung, Zone C bleibt vollständig unter israelischer Kontrolle. 7Maariv vom 8. September 1999. 8Maariv vom 10. September 1999. 9 Das behauptet Zeev Schiff, der Militärkorrespondent von Haaretz, in der Ausgabe vom 28. Mai 1999. 10 Von 1948 bis 1967 hat sich Israel immer wieder Teile der entmilitarisierten Zone „einverleibt“. 11Yediot Aharonot vom 3. September 1999. 12Haaretz vom 19. August 1999 und 14. September 1999. 13Yediot Aharonot vom 2. Juni 1999. 14Maariv vom 18. Juni 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von AMNON KAPELIOUK