15.10.1999

Das Gespenst der Islamisierung im Nordkaukasus

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Das Gespenst der Islamisierung im Nordkaukasus

Von ALEXEJ MALASCHENKO *

DIE Moskauer Tageszeitung „Iswestija“ hat die russischen Luftangriffe auf Grosny und Tschetschenien mit dem Krieg der Nato gegen Serbien verglichen, den der Kreml so heftig verurteilt hat. Die Erinnerung an das Debakel des Tschetschenien-Krieges von 1994 bis1996 ließ Präsident Jelzin zunächst zögern, bevor er Ende September auch dem Einsatz von Bodentruppen zustimmte, nicht zuletzt im Blick auf die Parlamentswahlen im Dezember und die Präsidentschaftswahlen im Sommer nächsten Jahres. Für den Kreml hat de Region wegen der geplanten Pipelines vom Kaspischen Meer nach Zentralrussland eine herausragende Bedeutung. Aber er will auch eine weitere Auflösung der Gebietsordnung im Nordkaukasus verhindern und den Vormarsch islamischer Fundamentalisten aufhalten.

Mit Bombenexplosionen und Geschützdonner ist der Sommer 1999 in Russland zu Ende gegangen. Und wieder kommt der Schlachtenlärm aus dem nördlichen Kaukasus. Im August waren bewaffnete tschetschenische Gruppen, angeführt von Schamil Bassajew und seinem Verbündeten, dem wahhabitischen Jordanier Abd Ar-Rahman Chattab, nach Dagestan eingedrungen, um ihre Glaubensbrüder von der Vormacht Moskaus zu „befreien“ und ihnen bei der Errichtung eines „islamischen Staates“ zu helfen. Nachdem sie sich zunächst zurückziehen mussten, weil sie keine Unterstützung in der dagestanischen Bevölkerung fanden, griffen sie Anfang September von neuem an.

Diese Offensive und eine Welle blutiger Terroranschläge in Moskau und anderen Städten veranlassten die russische Führung zu einem harten Gegenschlag: Grosny und die tschetschenischen „Stützpunkte der Terroristen“ wurden bombardiert, eine vollständige Blockade gegen die Republik Tschetschenien verhängt. Am 26. September 1999 sprach der russische Verteidigungsminister Igor Sergejew von „mehreren Einsatzplänen für Bodenoperationen“. Nach fortgesetzten Luftangriffen und einem massiven Truppenaufmarsch überschritten am 1. Oktober föderale Panzereinheiten die tschetschenische Grenze. Nach dem Tschetschenien-Krieg von 1994 bis 19961 droht der Region eine neue blutige Auseinandersetzung.

Die plötzliche Zuspitzung des Konflikts bedroht die Stabilität der gesamten nordkaukasischen Region, in der Dagestan eine Schlüsselrolle spielt: zum einen weil die Armee hier ihre Stützpunkte hat, zum anderen weil die Ausweitung der Unruhen auf Dagestan den Beginn des Zerfalls der regionalen Ordnung markieren könnte.

Dagestan – das „Land der Berge“ – ist unter den Republiken des Nordkaukasus diejenige mit der größten Fläche und Bevölkerungszahl. Im Westen von Gebirgszügen, im Osten vom Kaspischen Meer begrenzt, hat Dagestan eine Fläche von 50 000 km2 und 2,1 Millionen Einwohner, die sich auf über vierzig ethnische Gruppen verteilen, wobei die wichtigsten von ihnen– Awaren, Darginer, Kumyken, Lesgier und Laken – die politischen und ökonomischen Schlüsselpositionen besetzen. Die Russen machen weniger als 10 Prozent der Bevölkerung aus und spielen eine immer geringere Rolle.

Dagestan hängt mehr als alle anderen Republiken der Russischen Föderation von der Zentralregierung ab. Sein Staatsbudget wird zu 90 Prozent von Moskau finanziert. Seine großen Unternehmen arbeiten nur mit halber Kraft, die Landwirtschaft ist in beklagenswertem Zustand, die Löhne liegen um das Drei- oder Vierfache niedriger als im übrigen Russland. Nach Aussagen des Ministers für Nationalitätenfragen und auswärtige Angelegenheiten, Magomedsalich Gusajew, sind 30 Prozent der Bevölkerung arbeitslos – nach anderen Quellen sind es eher 80 Prozent. Die hohe Arbeitslosigkeit hat die ohnehin desolate Sicherheitslage erheblich verschlechtert: Zusammenstöße zwischen kriminellen Banden sind ebenso verbreitet wie Drogenhandel und Entführungsfälle .

Die Hoffnung der Bevölkerung auf bessere Lebensbedingungen, öffentliche Sicherheit und Beschäftigung hat sowohl die Popularität der Kommunisten erhöht als auch den Einfluss des islamischen Radikalismus gefördert. Bei den Parlamentswahlen von 1993 erhielten die Kommunisten 50,8 Prozent der Stimmen, und beim ersten Wahlgang für die Präsidentschaftswahl von 1999 votierten 63,3 Prozent für den KP-Chef Gennadi Sjuganow. Es bedurfte massiven Drucks von Seiten des Kreml sowie einiger „technischer“ Manipulationen, um dieses Wahlergebnis im zweiten Wahlgang umzudrehen.

Niemand weiß, wie die dagestanische Bevölkerung im kommenden Dezember bei der Wahl zur Duma entscheiden wird, allerdings steht jetzt schon fest, dass die Gruppierungen, die für einen politischen Islam stehen, einen Stimmenzuwachs verbuchen werden. Manche nennen sie Fundamentalisten oder Islamisten, doch für die Mehrheit sind sie „Wahhabiten“, Anhänger einer glaubensstrengen Sekte, die im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel von dem Prediger Mohammed Abd al-Wahhab gegründet wurde und bis heute erheblichen Einfluss innerhalb der saudiarabischen Herrscherdynastie besitzt.

Im heutigen Dagestan muss man offenbar unterscheiden zwischen Fundamentalisten, die sich auf einen „reinen Islam“ berufen, aber politisch nicht aktiv sind, und aktiven Kämpfern, die als „Islamisten“ bezeichnet werden können.

Kaukasische Allianz gegen Moskau?

WIE auch immer – ein Teil der Bevölkerung hegt Sympathien für einen islamischen Staat, der nach der Scharia, dem islamischen Sittengesetz regiert würde. Die Motive sind die Enttäuschung über die postsowjetische Ära, die Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Rückkehr zu einem harten, aber Geborgenheit bietenden kommunistischen Regime und mangelndes Vertrauen in die lokalen Politikern. Diese Menschen glauben, in einem islamischen Staat werde die soziale Gerechtigkeit am Ende siegen, und die Souveränität Allahs werde die ersehnte Stabilität bringen.

Dieses „islamische Projekt“, entstanden und gewachsen innerhalb einer machtvollen religiösen Erweckungsbewegung, deckt sich trotz seiner utopischen Züge mit den Hoffnungen vieler Menschen, die auch bereit sind, dafür zu kämpfen. 1999 gab es in Dagestan offiziell 1 670 Moscheen (tatsächlich sollen es 5 000 sein), während es zehn Jahre zuvor gerade vierzig waren, hinzu kommen 650 Koranschulen. Und in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, steht inzwischen die größte Moschee Russlands. Auch zählt man offiziell 3 500 Religionsgelehrte, aber auch hier soll die wirkliche Zahl weitaus höher liegen.

Diese Statistiken lassen die Wiedergeburt des Islam nur ausschnitthaft sichtbar werden. Die Bevölkerung hat heute ein Bewusstsein dafür, dass sie „muslimisch“ ist, also zur Umma, der islamischen Gemeinschaft von 1,2 Milliarden Menschen gehört. Den Muslimen von Dagestan ist durchaus klar, dass sie in Russland einer Minorität angehören, aber sie wissen auch, dass ihr Einfluss im Weltmaßstab viel bedeutender ist.

Zwar gibt es auch politische Kräfte, die in der gesamten dagestanischen Republik operieren – etwa die Partei der islamischen Wiedergeburt Nachdat, die Dschamaat-ul-Muslimin und die Union der Muslime Russlands –, aber hunderte von proislamischer Gruppierungen haben nur lokale Reichweite, weil sie auf ethnischer Basis gegründet wurden, und können nur in einem oder mehreren Dörfern Fuß fassen. Einzig Schabanmaschi und Karamschi, zwei wichtige Städte in den Bergen im Südwesten, haben sich offen zum Wahhabismus bekannt und die Scharia eingeführt.

Allmählich entsteht eine neue, fundamentalistische Elite. Es fehlt ihr noch an Festigkeit und politischer Erfahrung, aber sie hat hochfliegende Ambitionen und hofft, entscheidenden Einfluss auf die Zukunft von Dagestan auszuüben. Die Islamisten wenden sich sowohl gegen die lokalen Obrigkeiten, denen sie Korruption und Moskauhörigkeit vorwerfen, als auch gegen die konformistische Geistlichkeit, die den Radikalismus als Bedrohung der eigenen Position und der Stabilität des Landes sieht und deshalb die derzeitigen Machthaber unterstützt.

Anfang des Jahres entluden sich diese Konflikte in der Ermordung von Said-Mohammad Abubakarow, dem Mufti von Dagestan, der sich einer großen Popularität in der Bevölkerung, bei den lokalen Politikern und in Moskau erfreute. Er hatte sich der Radikalisierung und dem Wahhabismus widersetzt, war jedoch gleichzeitig für die Einführung der Scharia eingetreten, unter der Bedingung, dass sie mit den Gesetzen der Russischen Föderation harmonisiert werde.

Der ausländische Einfluss auf den verhärteten Kurs der dagestanischen Muslime ist nicht zu unterschätzen. Nach amtlichen Angaben studieren 1 500 junge Bürger der Republik an islamischen Universitäten und Institutionen des Nahen Ostens. Bei ihrer Rückkehr sind sie in vielen Fällen von einer radikalen Ideologie beeinflusst, etwa vom saudischen Wahhabismus. Zudem sind hunderte, ja tausende von ausländischen Predigern (aus Pakistan, Ägypten und Jordanien) im Lande, ebenso eine Reihe von Organisationen, die häufig Saudi-Arabien nahe stehen (wie die Internationale Islamische Organisation, Taiba, und die Ibraim-Al-Ibraim-Stiftung). Nach manchen Quellen soll auch die Gruppierung des saudi-arabischen Regimegegners Usama bin Laden – „Staatsfeind Nummer 1“ der USA – im Land aktiv sein.

In drei Jahren ließ das Innenministerium mehr als vierzig ausländische Personen wegen illegaler Aktivitäten festsetzen, darunter Araber, Afghanen und Tadschiken. Es sind sogar Fälle von grenzübergreifender Zusammenarbeit zu beobachten; 1997 etwa wurde ein chinesischer Bürger verhaftet und Peking überstellt, wo die Regierung, beunruhigt über islamistische Aktivitäten in Singkiang, sich bei den russischen Behörden herzlich bedankte.

Der wachsende Einfluss wie auch die Politisierung des Islam machten es immer wahrscheinlich, dass sich Dagestan mit Tschetschenien verbündet, dessen Führung offiziell einen islamischen Staat ausgerufen und die Scharia eingeführt hat. Tatsächlich unterstützen nicht wenige Politiker der abtrünnigen Republik die Idee einer gemeinsamen Struktur mit Dagestan, wobei sich die neue Einheit dann als Imamat bezeichnen würde. Extremisten wie Schamil Bassajew und der frühere tschetschenische Außenminister Mowladi Udugow haben regelmäßig zum Heiligen Krieg, zum Dschihad, aufgerufen, um die Muslime aus der Bevormundung durch die (russischen) „Ungläubigen“ zu befreien. Sie haben sogar einen Islamischen Rat – Schura – in Dagestan ins Leben gerufen, dessen Mitglieder allerdings keinen großen Einfluss haben.

Indes haben all diese Anstrengungen nicht zum Erfolg geführt. Denn die Dagestani wissen, dass eine Vereinigung mit Tschetschenien bestenfalls auf eine Neuverteilung der Pfründen und Machtpositionen zweier ohnehin armer Staatswesen hinauslaufen würde, schlimmstenfalls aber auch dazu führen könnte, dass die Tschetschenen die Kontrolle über ihr Land gewönnen. Die „kleinen“ Völker wie die Awaren, Darginen und Laken können das nicht akzeptieren, denn sie wollen die Reichtümer Dagestans – Boden, Erdöl und Kaviar – nicht teilen. Auch wünscht die Mehrheit keine Loslösung von Russland, was nur zu einem Bürgerkrieg führen würde und zu interethnischen Konflikten, die angesichts der ungeheuren kulturellen Zerklüftung des Landes blutiger verlaufen würden als der Tschetschenien-Krieg.

Dieser Krieg hat den Völkern des Kaukasus den hohen Preis vor Augen geführt, den sie für die Souveränität und insbesondere für einen unabhängigen Nationalstaat zu zahlen hätten. Für einen Staat, der vom Ausland nicht anerkannt ist – sieht man ab von Bosnien und der „Türkischen Republik Nordzypern“ – und den niemand braucht. Selbst in der islamischen Welt bleibt man Tschetschenien gegenüber eher reserviert, dessen Präsident Aslan Maschadow übrigens mit einem russischen Pass durch die Welt reist. Überdies bleiben die Beziehungen zwischen den beiden Kaukasusrepubliken von Misstrauen geprägt, weil Tschetschenien den Anspruch auf sechs Gebiete Dagestans erhebt.

Der jüngste „Dagestan-Feldzug“ von Schamil Bassajew wurde in der russischen Presse als ein erneuter Schritt zur Auflösung der Föderation dargestellt. Wird der Einmarsch der Russen in Tschetschenien und Dagestan nunmehr den gemeinsamen Widerstand der Kräfte auslösen, die darin einen Eingriff in ihre inneren Angelegenheit sehen könnten? Der Kreml wird jedenfalls beträchtliche Anstrengungen unternehmen und eine große Geschicklichkeit beweisen müssen, um nicht in große Schwierigkeiten zu geraten. Die Möglichkeiten der Intervention sind schließlich auch durch die Wirtschaftskrise begrenzt.

Die Krise sollte besser als Gelegenheit gesehen werden, die nationalen Interessen Russlands in der Region abzuklären. Doch die Regierenden sind sich nicht einmal hinsichtlich der Frage einig, ob es notwendig sei, den Nordkaukasus mit Gewaltmitteln in der Föderation zu halten, falls sich die separatistischen Tendenzen verstärken sollten. Man darf nicht vergessen, dass viele von ihnen froh waren, das muslimische Zentralasien „los zu werden“, als die Sowjetunion 1991 auseinanderbrach.

Gleichwohl überwiegt in Moskau die Tendenz, den Kaukasus zu halten, den Separatismus zu verurteilen und die Autorität Moskaus wiederherzustellen. Bei einem Treffen zwischen Boris Jelzin und dem Präsidenten des Staatsrats von Dagestan, Magomedali Magomedow Ende August 1999 zeigte der russische Präsident sich erfreut über „die Loyalität“ der dagestanischen Bevölkerung gegenüber der russischen Verfassung und sagte eine Hilfe von 300 Millionen Rubel (mehr als 12 Millionen Dollar) für den Wiederaufbau im Grenzgebiet zu. Doch die Ausweitung der Kämpfe und die Einmischung in die interethnischen Beziehungen könnte im Chaos enden und dazu führen, dass Moskau jede Kontrolle über Dagestan verliert.

dt. Passet/Petschner

* Carnegie Center, Moskau.

Fußnote: 1 Siehe Marie-Claude Slick, „Grosny – Weder Krieg noch Frieden“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996; Karel Bartak, „Krieg in Tschetschenien“, Le Monde diplomatique, Mai 1995; Nina Bachkatov, „Grozny, tombeau de la Fédération de Russie“, Le Monde diplomatique, März 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von ALEXEJ MALASCHENKO