11.02.2000

Die Spinne hockt im Web

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Die Spinne hockt im Web

VERFOLGT man die Vorgeschichte des Zusammenschlusses zwischen AOL und Time Warner etwa zehn Jahre zurück, so stößt man auf die unterschiedlichsten, aber vielfach ineinander verwobenen Entwicklungsstränge: die zunehmende Finanzspekulation, den Aufstieg der neuen Medien, das Experimentieren mit neuen Geschäftsmodellen.

AOL entwarf ein Instrumentarium zur Vermarktung von Online-Diensten und sicherte sich auf dem neuen Markt eine gewinnträchtige Vormachtstellung. Im Zuge dieser Entwicklung stieg der AOL-Aktienkurs in astronomische Höhen und füllte die Unternehmenskassen für weiteres Wachstum. Mit der 165 Milliarden Dollar teuren Übernahme von Time Warner ist AOL nunmehr in der Lage, das einst unabhängige Medium Internet zum Dreh- und Angelpunkt des Mainstream-Mediensystems umzubauen.

Ein Jahr vor dem Zusammenschluss des weit verzweigten Verlagshauses Time Inc. mit dem Medienkonzern Warner Communications im Jahr 1988 wiesen die beiden Fusionisten einen Umsatz von 4,2 Milliarden beziehungsweise 3,4 Milliarden Dollar aus. Quantum Computer Services, die Vorläuferfirma von AOL, hatte zwar schon damals die strategische Entscheidung getroffen, den entstehenden Markt für Online-Dienste zu beackern, doch ansonsten hatte sich die Unternehmensgeschichte vor allem durch wiederholte Fehltritte und Fehlstarts ausgezeichnet. Zudem war die Kapitaldecke von Quantum verschwindend knapp.1

Dann kam das Web. Das Internet, das ursprünglich der Kooperation zwischen der US-Armee und den Universitäten entsprungen war, expandierte explosionsartig zu einem öffentlichen Allzweckmedium. Das erkannte AOL als seine Chance. Binnen kurzer Zeit und mit Hilfe einer flächendeckenden Werbestrategie katapultierte sich die Firma – als problemloser Internet-Zugang – ins Bewusstsein von Millionen Online-Novizen. Das Geheimnis dieses Erfolgs war ein breit gefächertes Arsenal an hauseigenen Diensten wie Chat-Rooms, virtuellen Gemeinschaften und E-Mail sowie ein wachsendes Angebot an Inhalten, die vielfach von Partner-Unternehmen zur Verfügung gestellt wurden, und schließlich ein strategischer Cross-Promotion-Deal mit Microsoft, der das AOL-Icon auf jeden Windows-Desktop beförderte.

Besondere Beachtung verdient dabei der eigenständige Charakter des AOL-Modells: AOL basiert nach wie vor nicht auf den Standards des offenen Internets. Das AOL-Netz stellt zwar einen Gateway zum Web bereit, doch dieser Zugang, der allein über das besondere AOL-Einwahlsystem verfügbar ist, ist „praktisch nur Beiwerk und in der Regel etwas umständlich zu erschließen“2 . Und in der Tat sind für seine Nutzer die AOL-Inhalte identisch mit dem Netz. Dass zeigt sich schon daran, dass die 20 Millionen AOL-Mitglieder 84 Prozent ihrer zunehmenden Online-Zeit mit AOL-eigenen Inhalten und Diensten verbringen und nur während der restlichen 16 Prozent im Internet surfen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Internet-Providern fuhr AOL mit seinen Online-Diensten substantielle Erträge ein und wies regelmäßig Gewinne aus. Grund dafür waren vor allem die monatlichen Nutzungsgebühren, zunehmend jedoch auch Einnahmen aus Werbebannern anderer Unternehmen, die erpicht darauf waren, die wachsende Nutzerschaft von AOL anzusprechen und für ihre Produkte zu gewinnen. Insofern ist es kein Wunder, dass AOL im Zuge der exorbitanten Kursgewinne der amerikanischen Internet-Aktien in den neunziger Jahren zur führenden Web-Company aufstieg. Seit 1992 ist der sehr volatile Kurs der AOL-Aktie auf das 800fache angestiegen, während die Börsenkapitalisierung des Unternehmens vor kurzem auf rund 200 Milliarden Dollar geschätzt wurde – das Doppelte von Time Warner.3

Allein diese Zahlen zeigen schon, dass der Kauf eines führenden Online-Unternehmens wie AOL heute astronomische Summen erfordert. Mangels Zugang zu Spekulationskapital – der Hauptwährung von Cyber-Fusionen und Übernahmen – können selbst die größten konventionellen Medienkonzerne kaum mehr hoffen, eine jener meistbesuchten unabhängigen Web-Sites zu erwerben, zu denen außer AOL auch das Portal Yahoo und die E-Commerce-Giganten Amazon.com und eBay gehören.

Trotz erheblicher Investitionen und unermüdlicher Anstrengungen mussten sich die traditionellen Mediengiganten mit dem zweiten Rang begnügen. Snap.com, ein Ableger von General Electric, erreicht zwar ebenso wie Disneys Go.com relativ hohe Zugriffszahlen, doch keine der beiden Web-Sites kann AOL (54 Millionen Besucher im November 1999) oder Yahoo (zwei Drittel aller US-Surfer im Dezember 1999) das Wasser reichen.

Für die kommerziellen Beziehungen zwischen Online- und Offline-Unternehmen markiert die Übernahme von Time Warner durch AOL einen Wendepunkt. Erstmals versucht eine Internet-Firma zu zeigen, dass ihre Aktien nicht nur im Cyberspace einen Wert darstellen, sondern auch in der Offline-Welt. Zwar ist momentan noch ungewiss, ob die AOL-Aktionäre den Handel akzeptieren werden. Die Firma begnügt sich mit einem kleineren Anteil am gemeinsamen Unternehmen, als ihr nach der Börsenbewertung der beiden Partner zustehen würde; doch dieses Problem wird wohl bald gelöst sein, weil der Zusammenschluss auch in der jetzigen Konstruktion höchst vorteilhaft für AOL ausfällt. Während Time Warner 80 Prozent der voraussichtlichen Erträge des neuen Unternehmens erwirtschaften wird, soll die Aktienmehrheit mit 55 Prozent bei AOL bleiben.

Dass Time Warner bereit war, sich unter solchen Bedingungen an einen Neuling wie AOL zu verkaufen, mag verblüffen. Die Tatsache beweist jedoch nur, dass die herkömmlichen Medienkonzerne den Anspruch des Internets auf eine strategisch beherrschende Stellung inzwischen anerkennen. Umgekehrt zeigt das Interesse von AOL an Time Warner, dass das Massenmedium Internet in absehbarer Zeit mit dem traditionellen Mediensystem verschmelzen wird. Der Zusammenschluss von AOL und Time Warner wird diesen Integrationsprozess weiter beschleunigen. Das zeigt nicht nur die Übernahme von EMI durch den neu gebildeten Konzern, sondern auch die Tatsache, dass die Rivalen bereits begonnen haben, Defensivbündnisse zu schmieden.

Um die ganze Tragweite dieses epochalen Ereignisses zu verstehen, müssen wir uns die strukturelle Logik des Handels zwischen AOL und Time Warner vor Augen führen. Seit einiger Zeit ist klar, dass das Internet für sämtliche herkömmlichen Medien – ob Zeitung, Zeitschrift oder Buch, ob Kino, Video, Radio oder Fernsehen – eine mehr oder weniger direkte Konkurrenz und Bedrohung darstellt. Selbst ein so mächtiger Medienkonzern wie Time Warner ist in praktisch allen Geschäftsbereichen zunehmend unter Druck geraten und hat sich als verwundbarer Koloss erwiesen. Im Frühstadium der Fusionsverhandlungen mit AOL reagierte Time-Warner-Generaldirektor Gerald Levin auf diese strategische Gefahr, indem er in einem Memorandum für seinen Verhandlungsführer die Forderung nach einer „digitalen Erneuerung aller Geschäftsbereiche von Time Warner“ formulierte.4

Doch nicht nur Time Warner, auch AOL sah seine Felle davonschwimmen, wenn auch in einem ganz anderen Bereich. AT&T, ein weiterer Gigant der Kommunikationsbranche, hat 110 Milliarden Dollar beiseite gelegt, um zwei der größten amerikanischen Kabelfernsehbetreiber aufzukaufen (wobei eine der beiden Übernahmen noch nicht ganz spruchreif ist). Wie AT&T erklärt, beabsichtigt man die beiden Filialen zu modernisieren, um dem Verbraucher eine breite Palette von Diensten anbieten zu können.

Der Zweck des Manövers liegt auf der Hand: AT&T will sich vom Kuchen der schätzungsweise 100 bis 150 Milliarden Dollar, die allmonatlich von den Mittelschichten der USA für Kabel-TV, Telefon und Internet ausgegeben werden, ein möglichst großes Stück abschneiden. Parallel dazu schmiedete AT&T eine Allianz mit Microsoft, dem Erzrivalen von AOL, der die nötige Software für die Settopboxen liefern wird, damit man die anvisierte Dienste-Palette realisieren kann.

AOL musste in den Kabelplänen von AT&T eine ernst zu nehmende Gefahr erblicken, denn AT&T will den Hochgeschwindigkeits- oder Breitbandzugang zu seinem Diensteangebot nur über Exklusivverträge mit seinen neu erworbenen Filialen zur Verfügung stellen. Wer als AT&T-Kunde auch die Dienste konkurrierender Provider wie AOL nutzen möchte, hätte dafür eine Zusatzgebühr zu entrichten. AOL lief damit Gefahr, den Anschluss an die nächste Generation der Internet-Dienste zu verpassen.

Mit dem Erwerb von Time Warner ist dieses Problem auf elegante Weise gelöst, denn der zweitgrößte Kabelbetreiber der Vereinigten Staaten erreicht landesweit 13 Millionen Haushalte und wird die Breitband-Zukunft der Kabel-TV-Branche aufgrund seiner strategischen Marktposition maßgeblich mitgestalten. Auf der anderen Seite löst der Zusammenschluss aber auch die Probleme von Time Warner im Bereich der digitalen Medien, und er wird den Aktionsradius der neuen Unternehmensgruppe drastisch erweitern.

Es steht zu erwarten, dass die Verknüpfung des reichhaltigen Zeitschriften-, Musik-, Film- und Fernsehangebots von Time Warner mit der digitalen Plattform von AOL rasch voranschreitet. „Das Netzwerk des Millenniums bietet ein Multimedia-Angebot, das sich über alle Online- und Offline-Plattformen erstreckt“, kommentiert ein außenstehender Unternehmenschef aus der Branche.5 Doch die Ambitionen von AOL und Time Warner gehen noch viel weiter.

AOL-Generaldirektor Steve M. Case hat der neuen Unternehmensgruppe zum Ziel gesetzt, das Internet „zu einem Massenmedium auszubauen und in die Alltagsgewohnheiten normaler Verbraucher einzuführen“6 . Vom banalen Haushaltsgerät ist das Web in seiner heutigen Gestalt zwar noch weit entfernt, doch AOL und andere Unternehmen der Kommunikationsindustrie wollen das unbedingt ändern. Mit der Einführung der Breitbandtechnik soll erreicht werden, dass die angeschlossenen Haushalte sieben Tage in der Woche rund um die Uhr online bleiben und somit das Diensteangebot zu einem profitablen Geschäft machen.

Online-Dienste und Online-Transaktionen sollen damit zu einem integralen Bestandteil des Alltags (zumindest bei den Mittelschichten) werden. Dabei ist nicht nur an den Bereich von Unterhaltung und Information gedacht, sondern auch an Dienste wie Online-Banking und Internet-Shopping oder an Funktionen wie Hausalarmanlagen und die Vernetzung von herkömmlichen Haushaltsgeräten.

Aber diese von Steve Case so getaufte „AOL Anywhere“-Strategie zielt noch weit über den engen Haushaltsbereich hinaus. So hat AOL mit dem US-Konzern Wal-Mart vereinbart, dass der Einzelhandelsriese in seinen Filialen elektronische Kioske einrichtet und damit seinen wöchentlich fast 100 Millionen Kunden einen Online-Zugang bietet. Darüber hinaus unternimmt AOL große Anstrengungen, Internet-Inhalte und -Dienste – E-Mail, Börsenkurse, Nachrichten und Wetterberichte, aber auch eine Fülle von neuen Diensten der „dritten Generation“ – über Funk, d.h. via Handy, Pager oder PDI-Assistenten zugänglich zu machen. Der Zweck dieser atemberaubenden Vernetzungsstrategie besteht einzig und allein darin, die wesentliche Funktion kommerzieller Medien – die Verkaufsförderung – zu vertiefen und auszubauen.

Seit einer Generation beklagen sich die Marketingmanager über die immer größere Aufsplitterung des Publikums im Zuge der Verbreitung der neuen Medien. Mit dem explosionsartigen Wachstum des Internets wurden ihre Klagen immer lauter. In der Tat hat das Web nicht nur den beklagten Fragmentierungsprozess forciert, es droht auch, die heiß umworbene Zielgruppe der Besserverdienenden dem Werbezugriff der Wirtschaft mehr und mehr zu entziehen. Was kann ein führender Verbrauchsgüterhersteller wie Procter & Gamble oder Unilever gegen diese Gefahr unternehmen?

Eine der bevorzugten Strategien war bislang das so genannte „integrierte Marketing“ – die Verbindung von medienübergreifenden Werbekampagnen mit Marktforschung. Besonders beliebt war diese Taktik bei einigen der führenden Medienkonzerne, die zum Teil nur infolge der Aufsplitterung des Publikums entstanden sind. Ausdifferenzierte Medienriesen wie News Corporation und CBS sind in der Lage, dem Verbraucher über die Grenzen der verschiedenen Medien hinweg auf den Fersen zu bleiben und ihren werbestarken Auftraggebern eine breite Palette an Werbeträgern zur Verkaufsförderung anzubieten: vom gewöhnlichen Fernsehen über Kabel-TV und Fach- und Publikumszeitschriften bis hin zum Kino.

Demgegenüber erschließt der Zusammenschluss von AOL und Time Warner den Cyberspace unmittelbar für diese integrierten Marketingaktivitäten. Michael Wolf, ein prominenter Management-Berater der Medienindustrie, erklärt diese Strategie wie folgt: „Unternehmen, die für ihre Produkte werben wollen, müssen eine medienübergreifende Gesamtstrategie entwickeln und dabei auch die TV-Spartenkanäle, die Lokalradios, die Internet-Portale, die themenspezifischen Publikumszeitschriften und ähnliches berücksichtigen.“7 Gibt es einen besseren Weg, den Cyberspace in dieses Marketing-Arsenal einzubinden, als über den führenden Anbieter kommerzieller Online-Dienste, AOL?

AOL - ein virtuelles Einlkaufszentrum

DABEI sind die Web-Seiten von AOL bereits heute „mit Anzeigen, Werbebannern, markenbezogenen Informationen und Infotainment von bekannten Unternehmen überladen. AOL ist im Wesentlichen ein virtuelles Einkaufszentrum mit eingestreutem E-Mail- und Internetzugang. AOL bestimmt wie der Besitzer eines Einkaufszentrums, wer seine Waren präsentieren darf, wer mit welchem Zahlungsmittel kaufen darf und welche Zielgruppe mit welchen Werbe-Inhalten versorgt wird.“8

Die Fusion mit Time Warner wird diese Tendenz drastisch beschleunigen. Manche Wirtschaftskommentatoren begeistern sich denn auch an der Fähigkeit der neuen Unternehmensgruppe zu One-to-One-Marketing, d. h. der nutzerspezifischen Einblendung von Werbebannern. Denn Web-Portale bieten weit ausgefeiltere Möglichkeiten zur Sammlung persönlicher Daten als konventionelle Fernsehgeräte. In der Tat wird AOL-Time Warner in bisher unbekanntem Maß über den Zugang zu personenbezogenen Informationen über Mediennutzung, Kreditwürdigkeit und Kaufverhalten verfügen.

Nie zuvor in der Weltgeschichte besaß ein Unternehmen so viele Informationen über so viele Menschen“, schreibt der Medienkritiker Jon Katz.9 Angesichts des AOL-Sündenregisters in puncto Schutz der Privatsphäre verheißen die gesteigerten Marketing-Fähigkeiten der neuen Unternehmensgruppe wenig Gutes – zumal der Global Player die Nutzerdaten vermutlich grenzüberschreitend verwerten will.

Der diesjährige Gesamtertrag von AOL-Time Warner wird auf voraussichtlich 35,9 Milliarden Dollar veranschlagt, die derzeitige Börsenkapitalisierung soll bei 300 bis 350 Milliarden Dollar liegen. Die größten frei gehandelten Medienkonzerne Europas – Reuters und Person – bringen 18 beziehungsweise rund 20 Milliarden Dollar auf die Waagschale. (Der weltweit viertgrößte Medienkonzern Bertelsmann würde von der Börse weitaus höher bewertet, wenn sich der Aktienbestand nicht im Privatbesitz der Bertelsmann Stiftung und der Familie Mohn befände.) Anders gesagt, der Marktwert von AOL-Time Warner entspricht rund 60 Prozent des spanischen Bruttoinlandsprodukts.

Darüber hinaus haben AOL und insbesondere Time Warner maßgeblich die transnationale Ausweitung der Kulturindustrie vorangetrieben. AOL hat mit zahlreichen führenden Medienunternehmen in Europa und Lateinamerika Partnerschaftsabkommen getroffen, wobei in einigen Fällen, beispielsweise beim Joint Venture mit Bertelsmann, eine Umgestaltung angesichts der Fusion mit Time Warner nötig werden dürfte. Die transnationalen Aktivitäten von Time Warner sind Legion und weisen hohe Wachstumsraten auf. Der Unternehmensableger CNN beispielsweise kann auf der ganzen Welt empfangen werden. Durch eine Regionalisierung der Programmgestaltung gelang es, die hohen Einschaltquoten gegen konkurrierende Nachrichtensender zu verteidigen. Ein bedeutender Teil des wachsenden Angebots an „lokaler“ Kultur lässt sich bis zu Time Warner und anderen transnationalen Medienkonzernen zurückverfolgen. Sony zum Beispiel produzierte 1999 nicht weniger als 4 000 fremdsprachige TV-Sendestunden – mehr als das Doppelte der englischsprachigen Sendungen. In manchen Ländern werden bis zu 70 Prozent der verkauften CDs von lokalen Künstlern eingespielt.

Todesstoß für das unabhängige Internet

WIE die Zeitschrift Fortune berichtet, „beherrschen fünf global agierende Unternehmen – Sony, Warner, Universal, Bertelsmann und EMI – die lokale Szene ebenso effizient, wie sie internationale Hits vermarkten. Sie verfügen also über zwei Ertragsquellen: die Exportmusik und die lokalen Künstler.“ Und Time-Warner-Präsident Richard Parsons, der nach der Fusion den Posten des stellvertretenden Chief Operating Officer bekleiden wird, hat erklärt: „Innerhalb der nächsten zwanzig Jahre wird dieses Modell [der lokalen Produktion bei globaler Vermarktung] auf sämtliche Bereiche übergreifen.“10

Das Wall Street Journal räumt denn auch bereitwillig ein, dass die Fusion von AOL und Time Warner „das Gespenst an die Wand malt, dass die US-Unternehmen bedeutende Sektoren der neuen globalen Ökonomie allein aufgrund ihrer schieren Größe beherrschen werden, noch bevor viele Menschen zum erstenmal online gehen.“11 Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die marktbeherrschende Stellung der amerikanischen Internet- und Medienkonzerne entspringt nicht nur ihrer schieren ökonomischen Macht, sondern resultiert auch aus der neoliberalen Wirtschaftspolitik, in deren Gefolge das Internet zu einer einzigartigen globalen Freihandelszone avanciert ist.

Die Geschichte der Medien ist gepflastert mit rosigen Prophezeiungen und enttäuschenden Ergebnissen. Der dezentrale Aufbau des World Wide Web und das ihm zugrunde liegende Prinzip, dass es keinem gehört, sind die Hauptstärken des Internets, und kein Unternehmen wird je imstande sein, dieses Netz vollständig in Beschlag zu nehmen. In Anbetracht des AOL-Deals ist dies vielleicht aber gar nicht das Wesentliche. Der Zusammenschluss mit Time Warner beschleunigt den Trend zur medienübergreifenden Herausbildung gigantischer Kommunikationskonzerne in einer Weise, die dem offenen und unabhängigen Internet den Todesstoß versetzen könnte – zumal wenn sich die weitere Entwicklung des Cyberspace am hauseigenen AOL-Modell orientiert. Keine guten Aussichten, fürwahr.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der Universität von Kalifornien, San Diego.

Fußnoten: 1 Robert W. McChesney, „Rich Media, Poor Democracy“, Urbana (University of Illinois Press) S. 19-20. 2 Katie Hafner, „American Online deal will put more pressure on Internet rivals“, New York Times, 17. Januar 2000. 3 Michael Lewis, „AOL: almost obscenely large“, Wall Street Journal, 13. Januar 2000. 4 Steve Lohr u. Laura M. Holson, „Price of joining old and new was core issue in AOL deal“, New York Times, 16. Januar 2000. 5 Stuart Elliott, „The AOL-Time Warner deal changes everything for those who move, and buy, in media circles“, New York Times, 11. Januar 2000 6 Zit. n. Steve Lohr, „Medium for main street“, New York Times, 11. Januar 2000. 7 Michael J. Wolf, „The Entertainement Economy“, New York (Times Books) 1999, S. 106f. 8 Gary Chapman, „AOL-Time Warner merger could steer Internet down wrong road“, Los Angeles Times, 17. Januar 2000. 9 Janet Kornblum, „AOL Time Warner could get personal“, USA Today, 12. Januar 2000. 10 Frank Rose, „Think globally, script locally“, Fortune, 8. November 1999, S. 158. 11 Charles Goldsmith, William Boston, Pamela Druckerman u. Robert Frank, „World looks much smaller form abroad“, Wall Street Journal, 11. Januar 2000.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2000, von DAN SCHILLER