17.03.2000

Der alte Mann und das Militär

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Der alte Mann und das Militär

Von FRANÇOISE CAYRAC-BLANCHARD *

„Gus Dur“, großer Bruder Dur, nennen die Indonesier ihren neuen Präsidenten Abdurrahman Wahid achtungsvoll. Die indonesische Regierung, die am 26. Oktober 1999 ihr Amt übernahm, hat ihm sehr viel zu verdanken. Wahid verfügt über einen erweiterten Handlungsspielraum, da er sich auf eine zweifache Legitimierung berufen kann: zum einen auf seine Wahl, die unter Wahrung aller demokratischen Regeln ablief, und zum anderen auf seine Autorität als muslimischer Führer.1 Er ist ein energischer Verteidiger der Menschenrechte, wendet sich gegen jede Art von Sektierertum und spricht sich für die religiöse Neutralität des Staates aus. Mit seinem bissigen Humor und seiner Unberechenbarkeit setzt er sich nur allzu deutlich von der zeremoniösen, schweigenden Macht eines Suharto ab.

Mit fünf Ministerposten überließ der Präsident den Generälen erneut eine bedeutende Rolle in der Regierung. Beobachter stellen jedoch fest, dass er zugleich die einflussreichsten unter ihnen aus dem aktiven Dienst herausnahm – kürzlich auch General Wiranto, Oberbefehlshaber der Bewaffneten Streitkräfte (TNI) in der Osttimor-Krise, der als ein Mann des einstigen Diktators Suharto gilt. Mit Wirantos Nachfolger Widodo Adisucipto gelangte erstmalig ein Marineoffizier an die Spitze der Streitkräfte. Und zum ersten Mal seit vierzig Jahren ging das Verteidigungsministerium an einen Zivilisten, freilich mit Zustimmung des Militärs. Ganz offensichtlich beabsichtigt die neue Regierung, die Landstreitkräfte zu kontrollieren, die sich seit jeher als oberster Schiedsrichter über die Geschicke der Nation verstanden haben.

Die neue Regierung ist ein Zusammenschluss so außerordentlich disparater Gruppen, dass Zweifel an ihrer Handlungsfähigkeit aufkommen. Der Koalition gehören Vertreter aller großen Parteien an, Mitglieder der ehemaligen Regierungspartei Golkar ebenso wie der muslimischen Parteien, deren Zusammenschluss nicht die eigentliche Wahlsiegerin Sukarnoputri, sondern Abdurrahman Wahid zum Präsidenten gewählt hat. Megawati Sukarnoputri, die Tochter Sukarnos, des ersten indonesischen Staatschefs (1945 bis 1967), war im Laufe der Jahre zum Symbol für den Widerstand gegen General Suharto geworden, jetzt erhielt sie das Amt der Vizepräsidentin. Außerdem wurde ein neues Ministerium für Menschenrechte geschaffen, die Nichtjavaner sind in der neuen Regierung stärker vertreten, und das wichtigste Ressort, nämlich Wirtschaft und Finanzen, wurde einem sinoindonesischen Ökonomen übertragen. Dies galt als wichtige Geste gegenüber der chinesischen Minderheit, die in der letzten Zeit ihr Kapital aus Indonesien abgezogen hatte und beruhigt werden sollte.

Diese Reihe positiver Signale kann hingegen nicht verhindern, dass sich über Indonesien dunkle Wolken zusammenbrauen. Die Stimmung ist allenthalben explosiv. Durch das Beispiel Osttimor hat die Separatistenbewegung in Aceh Auftrieb erhalten und fordert ihrerseits ein Referendum und Unabhängigkeit. Seit 1980 ist die Guerilla in der erdgasreichen Provinz im Norden Sumatras aktiv. Alle Versuche der Armee, diese zu zerschlagen, verliefen bislang erfolglos, und die gewalttätigen Übergriffe haben sich verdoppelt. Die Provinz Aceh, wo der Islam militanter auftritt als in den übrigen Regionen Indonesiens, widersetzte sich seit langem der Zentralgewalt. Bereits 1976 wurde die Bewegung für die Unabhängigkeit Acehs gegründet. Die indonesische Armee war hier mit so brutaler Repression vorgegangen, dass General Wiranto sich im Oktober 1998 bei der Bevölkerung entschuldigen musste, nachdem in der Provinz Massengräber entdeckt worden waren.

Die Forderungen der Militärs, in Aceh das Standrecht einzuführen, lehnte Präsident Wahid ab. Allerdings musste er auch sein etwas voreilig gegebenes Versprechen zur Durchführung eines Referendums wieder zurücknehmen, um seine Partner im Verband Südostasiatischer Staaten (Asean) zu beruhigen. Diese fürchten einen unliebsamen Präzedenzfall, falls die Einheit Indonesiens in Frage gestellt würde. So leitete Wahid Verhandlungen mit den Separatisten in Aceh ein, wobei er von deren internen Streitigkeiten profitieren konnte. Die Situation bleibt zwar sehr gespannt, doch nachdem der Präsident am 25. Januar 2000 die Provinz besucht hat, wächst allmählich die Aussicht auf einen Waffenstillstand.

Auch in Irian Jaya hat das osttimoresische Beispiel die Unabhängigkeitsbestrebungen verstärkt. Bei seinem Besuch am 1. Januar erteilte Präsident Wahid der Provinz die Erlaubnis, ab sofort wieder den Namen Papua anzunehmen. Die Region, die reich an Erdöl, Kupfer und Holz ist, stand bis 1962 unter niederländischer Kolonialherrschaft. Schon in den siebziger Jahren setzte der Kampf um die Unabhängigkeit ein, nachdem eine manipulierte Volksbefragung die Zugehörigkeit zu Indonesien bestätigt hatte. Seither hat die Regierung durch ihre Transmigrationsprogramme den Zuzug von Siedlern aus Java und Sulawesi nach Irian Jaya organisiert, so dass heute von den zwei Millionen Einwohnern nur noch weniger als die Hälfte Papua sind.

Auch hier setzte man auf Verhandlungen, die der Provinz größere Autonomie zugestehen sollen. Im Mai 1999 wurde ein Gesetz erlassen über die günstigere Aufteilung der Einkünfte auf die Regionen, und zwar auf Ebene der Distrikte und nicht der Provinzen. Das im Mai 2001 in Kraft tretende Gesetz ist zwar nicht zufriedenstellend (offen bleibt, was mit den armen Regionen geschieht), doch immerhin als erster Vorstoß hin zur notwendigen Dezentralisierung zu werten.

Abdurrahman Wahid hat die Voraussetzungen für ein neues Klima der Freiheit geschaffen. Dies macht sich für die Presse bemerkbar, weil das Informationsministerium und damit die alles erstickende Zensur aufgelöst wurde. Es gilt auch für die politischen Gefangenen, die freikamen, für die politischen Flüchtlinge, deren Rückkehr aus dem Exil gefördert wird, und für ehemals inhaftierte Kommunisten, die nun offen über ihre Erfahrungen zu sprechen wagen. Nach südafrikanischem Vorbild wird die Einrichtung einer Kommission für Wahrheit und Versöhnung angestrebt. Die Untersuchungen über das Regime Suharto, wegen des schlechten Gesundheitszustands des ehemaligen Präsidenten ausgesetzt, sollen wieder aufgenommen werden. Während all dies von Kommentatoren als Stärkung der Zivilgesellschaft begrüßt wird, zeigen sich einige Generäle sehr beunruhigt. Doch die Machtposition der Armee ist erschüttert: Ihre Haltung ist uneinheitlich – so hält ein Teil der Offiziere eine Beschneidung der politischen Rolle des Militärs für notwendig – und die Ausschreitungen der Vergangenheit sind kein Tabuthema mehr.

Am 13. Januar schritt Wahid zur Tat und enthob den Wortführer der Streitkräfte seiner Ämter, nachdem dieser sich der Verhandlungspolitik des Präsidenten in Aceh offen widersetzt hatte. Wahid ersetzte ihn durch einen Luftwaffenoffizier und nutzte dabei die Rivalitäten innerhalb der Armee, um den Einfluss der Landstreitkräfte auszuschalten. Unterdessen häuften sich die Gerüchte über ein Komplott, so dass die USA ihren Botschafter bei den Vereinten Nationen, Richard Holbrooke, eine offizielle Warnung aussprechen ließen: „Wir sind derzeit Zeuge eines dramatischen Kampfes zwischen den Kräften der Demokratie und den Kräften eines korrupten, rückwärts gewandten Militarismus. Die Vereinigten Staaten setzen auf die Demokratie und nicht auf Staatsstreiche“, erklärte er, und Präsident Clinton sandte eine Botschaft an Wahid, in der er ihm seine Unterstützung zusagte. Die Zeiten haben sich offenbar geändert seit 1965, als die USA General Suharto bei der Machtübernahme und bei der Unterdrückung der Kommunisten unterstützten.2

Vom „heiligen Krieg“ der Soldaten

IN diesem Zusammenhang stehen auch die blutigen Konflikte zwischen Christen und Muslimen, die seit mehr als einem Jahr auf den Molukken toben. Der Boden für einen solchen Konflikt war bereitet. Auf den Molukken, die zwei Millionen Einwohner zählen und wo einst die Niederländer Soldaten für ihre Kolonialarmee rekrutierten, befanden sich früher die Christen gegenüber den Muslimen in der Mehrheit. 1945 hatte das Verhältnis bei 68 versus 22 Prozent der Bevölkerung gelegen. Durch die Transmigration wurde es im Laufe der Jahre umgekehrt, so dass sich die molukkischen Christen heute mit 44 Prozent in der Minderheit befinden. Die Molukken haben von der wirtschaftlichen Entwicklung des Suharto-Regimes wenig profitiert, und die Einheimischen fürchteten die Konkurrenz der Transmigranten im Handel und in der Verwaltung. Dies ist eine mögliche Erklärung für die Massaker, die 1999 mehr als 1 200 Menschenleben forderten und von der Armee nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten.

Es hat den Anschein, dass die Unruhen, die sich unterdessen auch auf andere Regionen wie Lombok ausgedehnt haben, durch einen Teil des Militärs insgeheim begünstigt wurden. Offenbar hofften sie, damit ein Misstrauensvotum gegen die Regierung rechtfertigen zu können. Noch verhängnisvoller ist, dass sich diese Militärs mit den muslimischen Extremisten zusammengeschlossen haben. In Jakarta und Bandung organisierten sie Demonstrationen, in denen die Regierung aufgefordert wird, die Muslime auf den Molukken zu schützen. Mit Parolen wie „Steckt die Kirchen in Brand!“ gingen sie so weit, zum „heiligen Krieg“ gegen die Christen aufzurufen. Damit drohte der lokale Konflikt eine nationale Dimension anzunehmen. Wie schon in Aceh weigerte sich Präsident Wahid erneut, das Standrecht einzuführen, ja mehr noch, er deckte auf, dass hinter den Vorgängen ein Komplott des Militärs steckt. Durch entsprechend strengere Maßnahmen sollten die Gemüter wieder beruhigt werden. Doch der Graben ist inzwischen tief, und da die Unruhestifter über Schusswaffen unbekannter Herkunft verfügen, dürfte die Wiederherstellung der Ordnung schwer fallen.

Umso mehr, als sich der Konflikt zwischen dem Präsidenten und der Armee – zumindest einem Teil von ihr – in der Zwischenzeit verschärft hat. Die Auseinandersetzungen spitzten sich zu im Fall des General Wiranto, des koordinierenden Ministers für Politik und Sicherheit. Über ihn und andere führende Militärs liefen gleichzeitig Ermittlungen einer indonesischen Menschenrechtskommission und einer internationalen Kommission, um die zweifellos vorsätzlich begangenen Verbrechen vom September 1999 in Osttimor aufzuklären.

Indonesien hat jedoch darauf bestanden, die eigene Justiz walten zu lassen. Präsident Wahid ließ schon im November verlautbaren, dass General Wiranto, sollte er angeklagt werden, sein Amt niederlegen werde. Die Erklärung des Präsidenten wirkte wie ein Donnerschlag, es war, als wäre damit die Büchse der Pandora geöffnet. Nach Bekanntgabe der Untersuchungsergebnisse am 31. Januar 2000 wurde Wiranto tatsächlich von Wahid zum Rücktritt aufgefordert. Der General weigerte sich zunächst, doch wurde der Druck auch seitens der anderen Generäle offenbar so stark, dass er sich dem beugen musste. Schließlich traf der Staatschef eine Entscheidung: In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar suspendierte er General Wiranto „vorübergehend“ von seinen Aufgaben – so lange, bis die Untersuchungsergebnisse des obersten Staatsanwalts zur Verantwortung für die Ausschreitungen in Osttimor vorliegen. Gleichzeitig kündigte er an, dass der General im Falle einer Verurteilung durch den Präsidenten begnadigt werden könne.

Und eins ist gewiss: Solange das politische Problem weiter besteht – und das gilt nicht nur für Indonesien, sondern für die gesamte Region – wird der wirtschaftliche Aufschwung auf sich warten lassen.

dt. Erika Mursa

* Centre d’études et de recherches internationales.

Fußnoten: 1 Seit 1984 leitet Abdurrahman Wahid die erste islamische Organisation des Landes, den Nahdlatul Ulama mit 35 Millionen Mitgliedern, der den traditionalistischen Islam repräsentiert (im Unterschied zum reformistischen Islam der Muhammadiyah). 2 Vgl. Noam Chomsky, „Unversöhnliche Erinnerung“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von FRANÇOISE CAYRAC-BLANCHARD