17.03.2000

Warum Tschetschenien nicht klappt

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Warum Tschetschenien nicht klappt

Von ISABELLE ASTIGARRAGA *

ALS Alexander Lebed, seinerzeit Sekretär des russischen Sicherheitsrats, und Aslan Maschadow, Oberkommandierender der tschetschenischen Separatisten, am 31. August 1996 den „Frieden von Chasawjurt“1 unterzeichnen, täuscht sich niemand darüber, dass alle Fragen offen sind. Der Vereinbarung zufolge soll der Status der Kaukasusrepublik in den folgenden fünf Jahren geklärt werden, doch erweisen sich die Positionen von vornherein als unversöhnlich: Moskau würde einer Unabhängigkeit Tschetscheniens unter keinen Umständen zustimmen, und die tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer, noch trunken von ihrem Sieg in Grosny, sind zu keinerlei Zugeständnissen aufgelegt.

Schon kurz Zeit später sind die russischen Truppen im Alltag nicht mehr wahrnehmbar, doch sie bleiben, zurückgezogen auf einen Militärstützpunkt, noch vier Monate im Lande. Dort bedarf es nur weniger Tage, und die große russische Armee hat ihre sehr reale Niederlage vergessen, ja sie gelangt zu der Überzeugung, dass sie den Krieg gar nicht verloren habe: Die Politiker waren es, die ihr schließlich „den Sieg geraubt“ hätten; sie bräuchte lediglich den Kampf wieder aufzunehmen, um mit den tschetschenischen „Banditen“ fertig zu werden. Es folgen Monate, in denen der russische Abzug wieder und wieder hinausgezögert wird und es zu immer neuen Provokationen kommt. Tschetschenien verharrt in einem gespannten Zustand, der weder Krieg noch Frieden ist.

Die fünf Monate, die Chasawjurt von der Wahl Aslan Maschadows zum tschetschenischen Präsidenten trennen, sollten entscheidend sein. Es gibt keine wirkliche Staatsgewalt mehr. Der amtierende Präsident und Nachfolger von Dschochar Dudajew2 , Selimchan Jandarbijew, wird nur als eine Interimsfigur angesehen. Jede Gruppierung versucht ihren Einfluss auf Kosten der anderen zu stärken. Die Separatistenarmee zerfällt erneut in eine Vielzahl kleiner Banden, die häufig in einer doppelten Loyalität sowohl ihrem Clan als auch einem einzelnen Anführer gegenüber verpflichtet sind.

Unter diesen Anführern gibt es aufrichtige und ernsthafte Verfechter der Unabhängigkeit. Die meisten von ihnen haben erst zu den Waffen gegriffen, als 1994 russische Truppen in Tschetschenien einmarschierten. Aber schon bald vertieft sich die Kluft zwischen den Gemäßigten, die sich um Präsident Maschadow gruppieren und Verhandlungen mit Moskau sowie einen laizistischen Staat anstreben, und den Hardlinern, die befürchten, ihre teuer errungene Unabhängigkeit werde von dem neuen Staatsoberhaupt billig an Moskau verkauft. Viele sind überzeugt, Moskau wolle einen neuen Krieg vom Zaun brechen und das Wichtigste sei, sich militärisch darauf vorzubereiten.

Andere „Militärchefs“ haben weniger redliche Ziele. Einige von ihnen scheinen zugunsten Moskaus zu handeln und werden rasch beschuldigt, gekauft zu sein. Bei wieder anderen handelt es sich um vereinzelte Mafiabosse, die bei Kriegsbeginn im Lande geblieben waren; manche von ihnen kämpfen aus Patriotismus oder um eine Staatsführung zu verteidigen, von deren Schwäche und Korrumpierbarkeit sie profitierten, andere nutzen den Krieg, um ihren kriminellen Machenschaften ungehinderter denn je nachzugehen. So begann bereits in den letzten Kriegsmonaten des Jahres 1996 die Entführung von reichen Tschetschenen, wobei es allein um die Erpressung von Geld ging, auch wenn vorsichtshalber politische Ziele vorgeschützt und lediglich prorussische Tschetschenen entführt wurden.3

Nach Kriegsende tauchen auch die Mafiabosse wieder auf, die die Kaukasusrepublik verlassen hatten, und mit ihnen aus allen Ecken Russlands Dutzende von Kriminellen, Dieben und Mördern tschetschenischer Herkunft, die oftmals unter der Bedingung, dass sie nach Tschetschenien zurückkehren, aus russischer Haft entlassen wurden.

Die andere große Kraft, die die Konsolidierung Tschetscheniens verhindern sollte, ist der islamische Fundamentalismus. Noch in den letzten Jahren der UdSSR begann die stille Einwanderung von Islamisten nach Tschetschenien. Es gelang ihnen zwar, die unter der sowjetischen Herrschaft zerstörten Moscheen wieder aufzubauen, aber letztlich blieben sie während der Regierungszeit des früheren sowjetischen Generals Dudajew ohne Einfluss. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die aus dem Nahen Osten importierte Strömung des Islam dem in Tschetschenien traditionellen Sufismus diametral entgegengesetzt ist. Der Sufismus gründet sich vor allem auf eine individuelle Beziehung zu Gott, die in der Zugehörigkeit zu einer Bruderschaft ihren Ausdruck findet. Er zeigt sich überaus tolerant, was die äußeren Bekundungen des Glaubens (wie Kleidung oder Alkoholkonsum) anbelangt.

Eine zweite Welle von Fundamentalisten strömt während des Krieges ins Land: „Freiwillige“, die im Nahen Osten oder in Afghanistan ausgebildet wurden, und zwar insbesondere ab dem Sommer 1995, als jenes Geld zu fließen beginnt, das es den Unabhängigkeitskämpfern erlaubt, sich mit neuen Waffen und Kommunikationstechnologie auszurüsten. Zu dieser Zeit macht auch ein aus Afghanistan kommender saudiarabischer oder jordanischer Kommandant von sich reden, der Chattab genannt wird und eigene Truppen befehligt; seine Siege werden im Übrigen Schamil Bassajew zugeschrieben, dessen Verbündeter er ist. Im Laufe der Monate wächst Chattabs Popularität unter den Kämpfern, die ihn wegen seiner kampferprobten Guerillaerfahrungen bewundern.

Die ungeliebte Allianz mit den Islamisten

IN den letzten Monaten vor dem Ende des Krieges und unmittelbar danach rekrutieren die Islamisten – von denen Chattab zwar der bekannteste, aber nicht der bedeutendste ist – an allen „Fronten“. Sie bieten Geld, Waffen und eine Doktrin, die den jungen Männern zusagt, denn sie sehen darin eine Möglichkeit, sich vom Druck der tschetschenischen Tradition zu befreien. Den Respekt vor den Älteren, Kern dieser Tradition, hatten die Jungen ohnehin weitgehend verloren, weil sie mit ansehen mussten, wie die „Alten“ in Städten und Dörfern mit den Russen über die Kapitulation verhandelten, damit die Bombardierungen aufhören, während sie ihr Leben riskierten und in der Schlacht fielen. Es dauerte nicht lange, und in jeder kleinen bewaffneten Einheit fanden sich zumindest zwei, drei Anhänger der Islamisten.

Als Aslan Maschadow Ende Januar 1997 Präsident wird, sind die Karten bereits gelegt. Mafia und Fundamentalisten haben Fuß gefasst und Bündnisse mit dem einen oder anderen Militärchef geschlossen. Allen voran mausert sich Bassajew zum offiziellen Schirmherrn der Islamisten. Er rechtfertigt die Allianz damit, dass man sich, für den Fall, dass die Russen wiederkommen, bewaffnen müsse. Aus panischer Angst vor einem Bürgerkrieg wie in Afghanistan wagt es der tschetschenische Präsident nicht, entschieden gegen diese unterschiedlichen Gruppierungen vorzugehen. Überdies hat jeder dieser Anführer mit seinen Verbündeten faktisch ebenso viele Soldaten aufzubieten wie die Regierungstruppen, die zudem von diesen verschiedenen Gruppen unterwandert sind.

Maschadow verfügt kaum noch über finanzielle Mittel. Das Land ist vollkommen verwüstet: Die Russen haben alle Fabriken bombardiert und die Herden dezimiert; sie haben Hunderte von Minen in Feldern, Weiden und Wäldern dieses gebirgigen Landes hinterlassen, das weitgehend bäuerlich geprägt ist. Die Unabhängigkeit Tschetscheniens, die im Lande für erreicht gilt, wird von keiner einzigen Regierung anerkannt. Jedes Hilfsangebot aus dem Ausland macht gezwungenermaßen den Weg über Moskau. Der Kreml lehnt jede Hilfe ab und erklärt, er werde den Wiederaufbau dieses russischen Gebietes aus eigenen Kräften bewerkstelligen – doch entgegen allen offiziellen Ankündigungen fließt praktisch keine Kopeke an die tschetschenische Regierung.

Ein Ereignis von größter Tragweite ist im März 1997 die Entführung von zwei Journalisten des russischen staatlichen Fernsehens ORT. Alle Informationen, über die man seinerzeit in der Kaukasusrepublik verfügt, besagen, dass der Drahtzieher der Aktion ein Tschetschene sei, der für den FSB arbeite, für jene KGB-Nachfolgeorganisation also, die sich in Russland mit Spionageabwehr und Sicherheit befasst. Als die Journalisten freigelassen werden, gibt der ORT-Präsident im Fernsehen bekannt, dass er Lösegeld in Höhe von einer Million Dollar bezahlt habe. „Eine Million Dollar, so viel ist heute ein Journalist in Tschetschenien wert“, wiederholt er und zeigt einen Koffer, gefüllt mit grünen Geldscheinen. Diese Sequenz sollte drei Tage lang vom russischen Fernsehen – das die Tschetschenen ebenfalls empfangen – ausgestrahlt werden.

Von da an folgt eine Entführung auf die andere. Ausländer, Journalisten, Geschäftsleute und Mitarbeiter humanitärer Organisationen sind die Opfer. So lange, bis diese Personengruppen das Land verlassen, das nun vollkommen isoliert ist. Bald müssen die Entführer ihre Opfer in den Nachbarrepubliken suchen. Dass sie dort mit Beihilfe der FSB operieren, haben mehrere Untersuchungen ans Licht gebracht. Nicht zu klären war allerdings, ob diese Unterstützung von oben verordnet war oder ob es sich um Einzeltaten korrupter Beamter gehandelt hat. Auftraggeber der Entführungen sind meist tschetschenische Militärchefs und vor allem muslimische Fundamentalisten.

Die Fundamenatlisten haben inzwischen an Einfluss gewonnen. Sie verfügen über enorme Summen Geldes und kommen offiziell von islamistischen Organisationen im Nahen Osten, in Pakistan oder Afghanistan. Doch viele ihrer Vertreter gelangen illegal vom Süden her ins Land. Andere wiederum reisen ganz offen über Russland ein, auch hier unterstützt von russischen Stellen, die dies aus freien Stücken tun oder gekauft sind.

Präsident Maschadow beschuldigte Moskau mehrfach, die Fundamentalisten zu finanzieren, um die Isolierung und Destabilisierung Tschetscheniens weiter voranzutreiben. Zwar gibt es für eine solche Finanzierung keinen Beweis, doch von einigen dieser Islamisten ist bekannt, dass sie vor und während des Krieges prorussische Positionen vertraten. Die „wahhabitischen“ Traktate, die in Tschetschenien auf Russisch zirkulieren, werden in Moskau gedruckt.

Dennoch bleiben die Fundamentalisten unpopulär. Auf dem Höhepunkt ihres Einflusses, Anfang 1998, als sie sich überall mit ihren dicken amerikanischen Jeeps zeigen und behaupten, sie diktierten das Gesetz – was ihnen in Wahrheit nie richtig gelingen sollte –, zählt ihre Anhängerschaft kaum 4 000 Mann. Dass es ihnen nicht gelungen ist, mehr Adepten zu finden in einem Land von 700 000 Einwohnern, in dem 80 Prozent der Männer arbeitslos sind und das in Trümmern liegt, zeigt, wie wenig Anklang sie finden.

Gegen die Einflussnahme dieser zahlenmäßig unbedeutenden, aber reichen und bewaffneten Gruppen versucht der Präsident mit kleinen Attacken vorzugehen, doch einen offenen Krieg gegen sie zu führen wird er nie wagen, aus der – vielleicht richtigen – Annahme, dass er ihn verlieren würde. Moskau sichert ihm russischen Beistand beim „Kampf gegen die Kriminalität“ zu, unternimmt in Wahrheit jedoch nichts. Im Sommer 1998 liefern sich die offizielle tschetschenische Armee und die Islamisten dann doch Gefechte, bei denen die Letzteren eine Niederlage davontragen. Zwar wagt es Präsident Maschadow nicht, die fundamentalistischen Gruppen definitiv zu zerschlagen, er kündigt aber tief greifende Maßnahmen zur Beschneidung ihrer Aktivitäten an. Wenige Tage später wird er bei einem Bombenattentat verletzt, seine Leibwächter kommen ums Leben.

Politisch gerät Maschadow bald von allen Seiten in die Kritik. Die Gemäßigten werfen ihm vor, die Fundamentalisten nicht wirklich ausgeschaltet zu haben, die Hardliner halten ihm vor, das Ziel eines unabhängigen Staates aufgegeben zu haben, und die Bevölkerung lastet ihm an, er lasse die Kriminellen walten, während die Menschen kaum das Nötige zum Überleben zusammenbringen.

Während Maschadow dem Kreml unablässig – und vergeblich – die Wiederaufnahme der unterbrochenen Verhandlungen anträgt, entwickelt sich in Moskau eine gespannte Lage. Die Vorstöße von Unabhängigkeitskämpfern und fundamentalistischen „Rebellen“ nach Dagestan mehren sich. Schon beginnt man, im Juli 1999, in Russland offen von einem neuen Tschetschenien-Krieg zu reden. Wenn auch nur, um zu beteuern, er werde nicht stattfinden ...4

dt. Passet/Petschner

* Journalisten der Agence France Presse, Russland-Korrespondentin von 1992-97, Autorin von „Tchétchénie, un peuple sacrifié“, Paris (l’Harmattan) 2000.

Fußnoten: 1 Von Lebed und Maschadow wurde damals eine „Erklärung über die Prinzipien der Grundlagen der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Republik Tschetschenien“ unterzeichnet; der so genannte Friedensvertrag wurde am 12. Mai 1997 von Jelzin und Maschadow in Moskau unterzeichnet. 2 Der frühere sowjetische General Dschochar Dudajew hatte im Herbst 1991 Tschetschenien für unabhängig erklärt. Er wurde im April 1996 bei einem russischen Luftangriff getötet. 3 Die Tschetschenen sind seit langem in zwei etwa gleich große Gruppen gespalten: Der prorussische Teil, in der Regel Bewohner der Ebene, ist stärker russifiziert und besser in die Gesellschaft integriert; die Verfechter der Unabhängigkeit sind mehrheitlich Bergbewohner, sie sind des Russischen kaum mächtig und leben in ärmeren Verhältnissen. 4 Dies betonte – neben anderen – am 23. Juli 1999 der damalige Premierminister Sergej Stepaschin.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von ISABELLE ASTIGARRAGA