17.03.2000

Freiheitliches Österreich

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Freiheitliches Österreich

Von PAUL PASTEUR *

Seit der Nationalpopulist Jörg Haider 1986 Obmann der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) wurde, konnte er einen Wahlerfolg nach dem anderen verbuchen. Lag die FPÖ in den sechziger Jahren bei 5 Prozent der Stimmen, so erzielte sie 1990 16,6 Prozent, 1994 22,5 Prozent, und bei den Wahlen am 3. Oktober 1999 wurde sie mit 26,9 Prozent zur zweitstärksten Partei des Landes, wobei sie die konservative Österreichische Volkspartei mit 415 Stimmen knapp hinter sich ließ.

Zahlreiche Beobachter sehen im Erfolg der FPÖ einen Ausdruck des Protestes gegen ein festgefahrenes „System“. Tatsächlich haben die Sozialdemokraten (SPÖ) und die Christdemokraten der ÖVP seit Beginn der fünfziger Jahre die wichtigsten Posten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft unter sich aufgeteilt, und zwar im Rahmen einer niemals offiziell deklarierten, aber umso wirksameren Politik des Proporzes. Die Sozialdemokraten, die von 1970 bis 1983 an der Macht waren, ließen dieses System unangetastet. Soziale Gegensätze wurden im Modell der so genannten Sozialpartnerschaft aufgefangen, das im Wesentlichen darin bestand, alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens paritätisch auszuhandeln. Eine politische Erstarrung des Landes war die Folge.

Das Jahr 1986 markiert einen Wendepunkt in der österreichischen Geschichte: Jörg Haider übernahm die Führung der FPÖ, die Grünen zogen zum ersten Mal ins Parlament, und die große SPÖ-ÖVP-Koalition erfuhr eine Neuauflage, die bis Oktober 1999 hielt. Mit ihrer Ignoranz gegenüber jeglicher Forderung nach Transparenz, mit der Vernachlässigung von Umweltfragen und den äußerst zweifelhaften Sparvorschlägen wurde die Koalition alsbald zur Zielscheibe der Kritik von Seiten der FPÖ und der Grünen.

1986 war aber auch das Jahr, in dem Kurt Waldheim österreichischer Bundespräsident wurde: Erstmals wurde die Gesellschaft dieses Landes national wie international mit ihrer verdrängten Geschichte konfrontiert.1 Historikerkommissionen wurden eingesetzt. 1988 schließlich brachten die Diskussionen über den fünfzigsten Jahrestag des Anschlusses und über die so genannte Reichskristallnacht vom 9. November 1938 die seit 1945 offiziellerseits vertretene These ins Wanken, wonach Österreich das „erste Opfer des Nazismus“ gewesen sei.

Der damalige Kanzler Franz Vranitzky, aber auch Präsident Waldheim anerkannten in einer offiziellen Erklärung die Mitschuld der Österreicher an den im Dritten Reich begangenen Verbrechen. Dieses Eingeständnis findet sich auch in der Präambel des Regierungsprogramms, die Präsident Thomas Klestil am 3. Februar dem christlich-konservativen Kanzler Wolfgang Schüssel und dessen national-populistischem Bündnispartner Jörg Haider zur Unterschrift vorlegte, bevor er die neue Regierung einsetzte. In der österreichischen Gesellschaft herrscht jedoch noch immer ein eher laxer Umgang mit der eigenen Geschichte. Die durchaus vorhandene Entnazifizierung der Nachkriegszeit fand keinen symbolischen Widerhall.2 So vermisst man etwa bis heute in den Schulbüchern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Periode.

Die Bürger, die sich wohlbehütet und von ihrer historischen Verantwortung entlastet fühlen, sind empfänglich für die Denunzierung des Andersartigen. Fremdenhass ist keineswegs neu: In der Geschichte des Habsburgerreiches, das immer wieder mythisch überhöht oder auf den Glanz des Wiener Fin de Siècle reduziert wird, finden sich der Pangermanismus eines Georg von Schönerer oder des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger wie auch der Antislawismus der Deutschnationalen. In diese Atmosphäre reihen sich die blutigen Ausschreitungen der „Kristallnacht“ ebenso ein wie die schwierige bzw. fast unmögliche Rückkehr der österreichischen Antifaschisten, die nach 1945 als ausländische Agenten beschimpft wurden.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit den Kriegen im nahen Exjugoslawien gewannen Wien und andere österreichische Städte in den neunziger Jahren wieder etwas von ihrem kosmopolitanen Charakter aus der Zeit vor 1914 zurück. Doch die plötzliche massive Präsenz der Menschen aus dem ehemaligen Ostblock lieferte den geeigneten Nährboden für Haiders Rhetorik. Der FPÖ und ihrem Chef war es ein Leichtes, den latenten Fremdenhass anzustacheln: Sie diffamierten die Flüchtlinge und mittellosen Touristen aus Ostmitteleuropa oder den Ländern des Balkans3 und initiierten eine Kampagne gegen die Osterweiterung der EU. Die Argumente sind alt, doch sie ziehen immer wieder: Die Ausländer gefährden angeblich die Arbeitsplätze und die Sicherheit in Österreich.

Doch die Ursachen für den Aufstieg der FPÖ liegen tiefer; sie hängen mit dem raschen gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre zusammen. Im Zuge der Globalisierung und der schnellen Integration Österreichs in die EU musste ein erheblicher Teil des staatlichen Sektors privatisiert werden. Die Folgen für den Alltag der Österreicher wurden allzu wenig bedacht.

Die Altparteien verfolgten seit dem Ende der achtziger Jahre eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, die im Widerspruch zu ihren ursprünglichen Prinzipien von Solidarität, Unterstützung der schwächsten Bevölkerungsschichten und sozialer Gerechtigkeit stand. Das erlaubte es der FPÖ und Jörg Haider, sich – zumindest während des Wahlkampfes – als Verteidiger der Pensionen und der sozialen Errungenschaften zu profilieren. Das Programm der neuen Koalition dürfte nun allerdings denen, die die FPÖ wegen ihrer Attacken gegen die „Altparteien“ und die „Bonzenprivilegien“ gewählt haben, eine Enttäuschung bereiten.

Die nationalpopulistische Demagogie ist für die FPÖ umso einträglicher, als die beiden großen Familien, denen sich die Österreicher traditionell zugehörig fühlen, angeschlagen sind. Jahrhundertelang hat die katholische Kirche dem Land ihre Gesetze aufgezwungen. Sie erlebt nun einen massiven Machtverlust: Nach offiziellen Angaben verliert sie jährlich 4 000 Mitglieder. Zudem widersetzen sich die von Johannes Paul II. ernannten Bischöfe der bislang treu verfolgten Linie des II. Vatikanischen Konzils, sodass eine tiefe innere Krise das gesamte katholische Lager erfasst hat. Der Sozialdemokratie wiederum, die Jahrzehntelang ein gewisses Maß an Kritik in ihren Reihen geduldet und für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gestanden hatte, vermag nach dreißig Jahren ununterbrochenen Regierens und dreizehn Jahren neoliberaler Politik niemanden mehr anzulocken. Die Anhänger eines ungebremsten Liberalismus haben eine bessere Heimat gefunden. Am 3. Februar, dem Tag, an dem das neue Regierungsprogramm der FPÖ-ÖVP-Koalition vorgestellt wurde, haben mehrere Generationen von Österreicherinnen und Österreichern zu ihrem Erstaunen entdeckt, dass es zwei Modelle des Kapitalismus gibt: ein sozialdemokratisches und ein ultraliberales.

Dieser Ultraliberalismus stellt eines der Wesensmerkmale der Freiheitlichen Partei dar – wobei „freiheitlich“ gleichzusetzen ist mit „liberal“. Die im April 1956 gegründete Partei, die sich politisch nur schwer einordnen lässt, entstand aus dem Zusammenschluss mehrerer Gruppierungen, deren bedeutendste der Verband der Unabhängigen (VdU) war, gegründet 1949, nachdem die „minderbelasteten“ ehemaligen Nazis durch die ersten Amnestiegesetze von 1948 in ihren bürgerlichen Rechten rehabilitiert worden waren. Der Großteil von ihnen fand im VdU seine neue politische Heimat, viele wurden aber auch von den traditionellen Parteien (SPÖ und ÖVP) absorbiert.

Die FPÖ wurde seit ihrer Gründung durch verschiedene Strömungen geprägt, denen jedoch sämtlich das deutschnationale Erbe und die liberale Herkunft gemein sind. Im November 1997 verabschiedete die Partei ein neues Programm, aus dem die unverhüllten Bezüge auf den Nazismus (etwa Begriffe wie „Volksgemeinschaft“) und auf den Pangermanismus eliminiert wurden. Doch im Unterschied zu den Christlich-Sozialen und den Sozialdemokraten ist die FPÖ nicht aus einer einzigen Partei hervorgegangen, sondern entstand aus mehreren sehr dezentralisierten Gruppierungen, die ihre Hochburgen in Kärnten, in Oberösterreich und im Land Salzburg haben: Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen ist es diesen Gruppierungen niemals gelungen, die österreichische Gesellschaft in einer Massenorganisation repräsentativ zu erfassen. Daher rekrutiert die FPÖ ihr Potential aus Wechselwählern, wobei bestimmte Gruppen überrepräsentiert sind – Männer, Protestanten, Konfessionslose, das Kleinbürgertum, Städter; das galt zumindest, bis Jörg Haider die Jungwähler und Arbeiter gewinnen konnte.

In dieser vielsträngigen Partei hat der FPÖ-Chef eine Einheit stiftende Funktion übernommen und vermittelt zwischen den einzelnen Fraktionen. Die Anhänger des liberalen Flügels unter Norbert Steger, der zwischen 1983 und 1986 mit der SPÖ eine Regierungskoalition bildete, haben jeden Einfluss verloren. 1993 verließen die Liberalen, die für die Achtung der Person und die Wahrung der Menschenrechte eintraten, die FPÖ und gründeten das „Liberale Forum“. Seit Haider 1986 Parteivorsitzender wurde, rügt er, sanktioniert er und schließt aus – er distanzierte sich insbesondere von jenen Mitgliedern, die durch ihre Nähe zum Neonazismus deutlich kompromittiert waren. Gegenwärtig verfügt er über einen sehr kleinen Apparat, der ihm jedoch völlig hörig ist, mit Ausnahme des fremdenfeindlichen Millionärs Thomas Prinzhorn, der dank der Christlich-Sozialen zum Zweiten Parlamentspräsidenten gewählt wurde.

Haider wurde 1950 in eine Nazifamilie geboren. Sein Vater war zur Zeit des Austrofaschismus Mitglied der in Österreich verbotenen Nationalsozialistischen Partei, seine Mutter war beim Bund deutscher Mädchen aktiv. Haider selbst bewegte sich zeitlebens im deutschnationalen Milieu. Zunächst war er Mitglied der deutschnationalen Schülerorganisation, dann, in der deutschnationalen Studentenvereinigung, nahm ihn Friedrich Peter, ein ehemaliges Mitglied der SS und Vorsitzender der FPÖ, unter seine Fittiche. So begann Haiders unaufhaltsamer Aufstieg.

Er, der die Politiker gerne als Bonzen bezeichnet, ist selbst das typische Produkt eines Apparates. 1968 wird er Vorsitzender der Freiheitlichen Jugend Oberösterreichs, von 1970 bis 1974 bekleidet er die Position des Obmanns der Freiheitlichen Jugend Österreichs, 1976 wird er zum Landesparteisekretär der FPÖ in Kärnten ernannt. Damals war die Partei gespalten: in einen liberalen und einen deutschnationalen Flügel. Haider propagierte eine „nationale“ Linie, was für ihn bedeutete: eine deutsch-nationale Linie, denn er leugnete die Existenz einer österreichischen Nation, die er als eine „ideologische Missgeburt“ bezeichnete. Damals anerkannte er weder die Kärntner Slowenen noch eine andere Volksgruppe des Landes als nationale Minderheit. 1979 zieht Jörg Haider als Abgeordneter ins Parlament ein. Zehn Jahre später wird er mit 39 Jahren zum Landeshauptmann von Kärnten gewählt. Von dieser Funktion muss er 1991 aufgrund seiner berüchtigten Äußerung von der „ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“ zurücktreten.

Jörg Haider stellt den Archetypen eines nationalpopulistischen politischen Führers dar, der alle Register ziehen kann: Er gebraucht und missbraucht seinen Charme, erlaubt sich verbale Entgleisungen, verlautbart dröhnende Erklärungen, ändert seine Meinung wie ein Chamäleon die Farbe. Kaum an die Spitze der FPÖ aufgestiegen, denunzierte er die „alten verrotteten Parteien“, den Parlamentarismus, die Ausländer. Im Laufe des Jahres 1999 änderte er seine Taktik. Nun, da er sich seinem Ziel, der Macht, näher fühlte, wollte er sich salonfähig geben, nicht nur in Österreich, wo seine Partei in Kärnten und Vorarlberg dank der Christlich-Konservativen regiert, sondern auch in Europa. Dies erklärt die öffentlichen Entschuldigungen im letzten November bezüglich seiner „unglücklichen“ Erklärungen in der Vergangenheit.

Als Student, der Redewettbewerbe gewann, perfektionierte Haider die Gabe, seine Sprache dem Publikum anzupassen. Einmal erobert er seine Wählerschaft, indem er sich prägnanter Formeln bedient, die den Gegner angreifen und den Durchschnittswähler abholen und amüsieren sollen. Einen Augenblick später verwandelt er sich in den distinguierten „Doktor Haider“. Seine Bonmots kompensieren seine Entgleisungen und dienen nur dem Zweck, zu gegebener Zeit das eine oder das andere Tabu der österreichischen Gesellschaft zu lüften, egal ob es sich dabei um den revisionistischen Versuch, die Nazivergangenheit zu rehabilitieren, oder um die Infragestellung der Sozialpartnerschaft handelt. Seine Körpersprache ist ein weiterer Trumpf. Haider versteht es, sich zu bewegen, und im Gegensatz zum steifen Gehabe anderer Politiker kombiniert er seinen Trachtenjanker auch einmal mit einer Jeans. Während die Frauen seinen Reden und Manieren gegenüber reserviert bleiben, identifizieren sich die Männer leichtherziger mit ihm.

Dieser Politiker, der bis 1995 zur „Ehre und Anerkennung der Veteranen der Waffen-SS“ aufgerufen hatte, der Rumänen als Taschendiebe betitelt, der Europa mit einem Hühnerstall vergleicht, der das Schicksal der Sudetendeutschen dem der Juden gleichstellt, zieht die Fäden jener Partei, mit der die Christlich-Sozialen am 3. Februar unter dem ohrenbetäubenden Schweigen der katholischen Kirche ein Bündnis eingegangen sind.

dt. Andrea Marenzeller

* Dozent an der Université de Rouen, Autor von „L’Autriche. De la libération à l’intégration européenne“, Paris (La Documentation française) 1999; Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift „Austriaca“.

Fußnoten: 1 Kurt Waldheim, der vor seiner Präsidentschaft zehn Jahre UN-Generalsekretär war, hatte entgegen seiner Aussagen über die Partisanenbekämpfung und die völkerrechtswidrigen Praktiken „genau Bescheid gewusst (...) und war in den Kenntnis- und Handlungsablauf eingeschaltet“. Auch seine Behauptung, er habe erst nach dem Krieg vom Abtransport der griechischen Juden erfahren, wurde widerlegt. (s. Bericht der internationalen Untersuchungskommission, profil, 15. Februar 1988) 2 Ab August 1945 wurden Volksgerichte eingesetzt, die bis 1953 in 136 829 Fällen strafrechtliche Voruntersuchungen einleiteten und 13 607 Personen verurteilten. Vgl. insbesondere Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried R. Garscha (Hrsg.), „Keine ,Abrechnung‘: NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945“, Leipzig/Wien 1998, S. 9-129; Klaus Eisterer, „La présence française en Autriche (1945-1946). Occupation, dénazification, action culturelle“, Rouen (PUR) 1998, S. 39-143. 3 Vgl. Pierre Daum, „Ausländer auf Lebenszeit“, Le Monde diplomatique, Oktober 1998.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von PAUL PASTEUR