17.03.2000

Die nächste Ölkrise kommt bestimmt

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Die nächste Ölkrise kommt bestimmt

Von NICOLAS SARKIS *

SEIT 1973 wurde der globale Rohölmarkt von zwei heftigen „Preisschocks“ und zwei „Gegenschocks“ (sowie einigen bedeutenderen Krisen) erschüttert. Nach dem Oktoberkrieg von 1973 trat praktisch eine Vervierfachung der Ölpreise ein, von 2,67 Dollar pro Barrel 1972 auf 9,82 Dollar 1974. Seinen bisherigen Höchststand von 17,13 Dollar (auf Basis des Dollarkurses von 1973 berechnet) erreichte der Ölpreis 1982, nach der islamischen Revolution im Iran, dann fiel er mit der Gegenbewegung von 1985/1986 wieder auf ein Drittel dieses Wertes. Der zweite große Gegenschock kam 1998, als die Preise um 34,4 Prozent fielen. 1999 folgte dann ein erneuter Anstieg um 42,2 Prozent, womit der Ölpreis allerdings nicht einmal die Hälfte des Niveaus von 1974 erreichte.

Dieses Auf und Ab hat zu Wahrnehmungsverzerrungen und widersprüchlichen Einschätzungen geführt. In Perioden eines kräftigen Preisauftriebs wuchsen bei den Verbraucherländern die Befürchtungen, ihre Versorgung könnte nicht mehr gesichert und der Weltenergiebedarf nicht mehr zu decken sein. Solche Reaktionen, die auf die erste Ölkrise 1973/74 zurückgehen, waren häufig so hysterisch, dass etwa vom Zusammenbruch der westlichen Volkswirtschaften und dem Untergang der „jüdisch-christlichen Kultur“ die Rede war. In Phasen von Niedrigpreisen wiederum blühten euphorische Vorstellungen über unerschöpfliche Weltölreserven, über sinkende Kosten und ein dauerhaftes Überangebot.

Dieses Gefühl ist, trotz der 1999 eingetretenen relativen Erholung der Ölpreise, noch immer vorherrschend. Die Befürchtungen scheinen vergessen, die Anfang der siebziger Jahre aufgekommen waren, als im Nahen Osten und in Nordafrika die Vermögen westlicher Ölgesellschaften nationalisiert wurden, und die weiter genährt wurden durch das Embargo von 1973, die iranische Revolution von 1979/80 oder die irakische Invasion in Kuwait im August 1990. Auch von dem berühmten Problem des „Recycling“ von hunderten Milliarden an Petrodollars, die sich angeblich in den Erdölförderländern angehäuft hatten, ist heute keine Rede mehr, denn es gibt keine finanziellen Überschüsse mehr zu recyceln.

Inzwischen sind es die Förderländer, die sich Sorgen machen: um die Stabilität ihrer Absatzmärkte, wegen des Preisverfalls und ihrer sinkenden Einkünfte und wegen der wachsenden Steuern, die in den Industriestaaten für Erdölprodukte fällig werden. Für die meisten dieser Länder stellt sich nicht mehr die Frage, wie sie ihre Einkommensüberschüsse am besten anlegen können, sondern wie sie ihre Schulden zurückzahlen und die anhaltende Wirtschaftskrise bewältigen sollen. Kein Förderland denkt mehr daran, das Öl als „politische Waffe“ einzusetzen, obwohl drei der wichtigsten Mitglieder der Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) – Irak, Iran und Libyen – US-amerikanischen und internationalen Sanktionen unterworfen sind.

Wie lange kann diese Situation noch andauern? Angesichts der Gelassenheit, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Golfkrieg die Energiepolitik der westlichen Länder kennzeichnet, mag diese Frage unangemessen erscheinen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass der technische Fortschritt bei der Erschließung und Ausbeutung von Ölvorkommen sowie der Preisverfall und der gewachsene Einfluss der USA – global wie vor allem im Nahen Osten – ausreichende Garantien für die langfristige Sicherung der Energieversorgung und eine Stabilisierung der Preise auf relativ niedrigem Niveau bieten.

Zusätzlich genährt wird dieser Optimismus durch die umfassende „Offensive des Lächelns“, die sich die Länder mit fossilen Energievorkommen haben einfallen lassen und die ausländische Ölgesellschaften dazu bewegen soll, Erschließungs- und Fördervorhaben zu beginnen oder wieder aufzunehmen. Überdies ist immer noch der Irak aus dem Geschäft: Seine uneingeschränkte Rückkehr auf den Ölmarkt würde die Konkurrenz unter den Förderländern verschärfen und die Preise sinken lassen.

Auf mittlere Sicht – etwa für die nächsten fünf oder sechs Jahre – sind diese Argumente sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass es nicht in einem der großen Förderländer zu unvorhergesehenen politischen Umwälzungen kommt, wie es etwa 1969 bei der Abschaffung der Monarchie in Libyen, 1979 beim Sturz des Schahs im Iran oder 1990 nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait der Fall war.

Was allerdings den Zeitraum 2005 bis 2010 und darüber hinaus betrifft, so sind in Anbetracht des steigenden Weltenergiebedarfs die Prognosen für die Entwicklung von Angebot und Nachfrage wie auch für die Förderkapazitäten keineswegs beruhigend. Zwei Aspekte verdienen dabei besondere Beachtung: die Basisdaten der Erdölindustrie und die Geopolitik.

Alle Prognosen besagen, dass der Weltenergiebedarf kontinuierlich zunehmen und die konventionelle Erdölgewinnung noch auf Jahrzehnte hinaus die wichtigste Energiequelle bleiben wird. Hingegen gehen die Meinungen darüber auseinander, ob, in welcher Weise und zu welchen Preisen das Angebot in der Lage sein wird, den ständig steigenden Bedarf zu decken.

Im Vorwort zum jüngsten Bericht (World Energy Outlook) der Internationalen Energie-Agentur (IEA) verweist Robert Priddle, der leitende Direktor der Organisation, auf die großen Unwägbarkeiten bei langfristigen Energieprognosen. Dabei gibt es für ihn zwei große Fragezeichen: die Rolle des Nahen Ostens bei der Deckung des Weltbedarfs und die Entwicklung im Bereich der „unentdeckten Ölvorkommen und der nichtkonventionellen Ölgewinnung“ im Zeitraum 2010 bis 2020.1

Allein die Opec-Länder des Nahen Ostens müssten ihre Förderung von Öl und Ölkondensaten von 1996 bis 2010 mehr als verdoppeln – von 18,5 Millionen Barrel pro Tag (Mbd) auf 43,7 Mbd – um zur Deckung der Weltölnachfrage, die von 17 auf 94,8 Mbd steigen soll, den von ihnen erwarteten Anteil beizutragen. Bis 2020 müsste die Förderung im Nahen Osten auf 49 Mbd ansteigen – ein Wachstum von 164,2 Prozent gegenüber 1996. Und auch die Gasförderung dieser Länder müsste sich nach den Berechnungen der IEA von 1995 bis 2010 praktisch verdoppeln (von täglich 110 auf 214 Millionen Tonnen des Öläquivalents, Mtoe) und bis 2020 mehr als verdreifacht haben (auf 376 Mtoe).

Je effektiver die Jagd, desto rarer die Beute

DIESE Prognosen erscheinen jedoch völlig unrealistisch. Sie könnten sich nur bewahrheiten, wenn rasch ein kräftiger Preisanstieg eintreten würde – und ebenso rasch eine Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak und den Iran, die zusammen über fast ein Drittel der Ölreserven in der Region verfügen. Nicht weniger hypothetisch ist die Annahme, zwischen 2010 und 2020 werde man 19,1 Mtoe bislang unerschlossener Öl- und unkonventioneller fossiler Vorkommen (Ölschiefer, Asphaltsände, Kohleverflüssigung, Biomasse etc.) ausbeuten. Auch hier wird die Preisentwicklung entscheidend sein. Die IEA rechnet mit einem Barrelpreis von 17 Dollar (auf Basis des Dollarkurses von 1990) für den Zeitraum 2000 bis 2010 und von 25 Dollar für 2020. Zur Erläuterung solcher Projektionen verweist die IEA darauf, dass eine Zunahme des globalen Energiebedarfs um 65 Prozent zu neuen Energiekrisen oder sogar Versorgungsengpässen führen könnte. Deshalb müsse man sich auf dem Gebiet der Verbraucherpolitik, der CO2-Emissionsbegrenzung und der Produktion neue Strategien einfallen lassen.

Wie lassen sich diese Herausforderungen bewältigen? Nach optimistischen Schätzungen wird der technische Fortschritt es ermöglichen, die Förderkosten zu reduzieren und immer neue Vorkommen zu erschließen und auszubeuten. Das Angebot werde also mindestens bis zum Jahre 2020 ausreichend sein. Die Realisten unter den Experten verweisen hingegen darauf, dass Erdöl zu den nicht erneuerbaren Ressourcen gehört und dass neue Vorkommen immer seltener entdeckt werden.

Alain Perrodon von der Firma Petroconsultants hat in seinem Buch „Quel pétrole pour demain?“2 die tatsächliche Entwicklung im Bereich der Ölvorkommen detailliert dargelegt. Für ihn ist die Ölförderung ein permanenter Wettlauf zwischen der Entwicklung von Technik und Know-how einerseits und der unabweisbaren Tatsache, dass der begehrte Rohstoff begrenzt ist: Was man herausholt, wächst nicht mehr nach. Je effektiver die Jagd, desto rarer und magerer die Beute. Die weltweite Entdeckung neuer Ölvorkommen erreichte ihren Höhepunkt Anfang der sechziger Jahre, seither ist der Umfang der erschlossenen Vorkommen stetig zurückgegangen. Aus der aktuell guten Versorgungslage kann man also keineswegs auf die Zukunft schließen.

Zu den zahlreichen unabhängigen Fachleuten, die diese Meinung teilen, gehört auch Colin Campbell von der Petrodata Group Company, ein sehr angesehener Experte. In einer ausführlichen Studie vom November 1999 zur Begrenztheit der Ölreserven kommt auch er zu dem Schluss, dass die Zeit der großen Neuerschließungen vorbei ist und dass sich in einigen Jahren die Schere zwischen nachgewiesenen Ölreserven und Nachfrage deutlicher öffnen wird.3 Für Campbell liegt, wie für die früheren Präsidenten der Ölgesellschaften Agip und Arco, der schicksalhafte Zeitpunkt, an dem die Förderung zu schrumpfen beginnt (um etwa 3 Prozent im Jahr) ungefähr im Jahre 2005. Bis dahin wird der Schwerpunkt der Welterdölförderung dauerhaft in fünf Ländern des Nahen Ostens liegen: in Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten – mit allen Einschränkungen und politischen Risiken, die sich daraus ergeben.

Aber darüber schweigen sich die Politiker und die Verantwortlichen der Ölgesellschaften aus. Erstere, weil sie bei einem extrem unpopulären Thema nicht die Kassandra spielen wollen, Letztere, weil sie vor allem kurzfristige Gewinne machen und ihren Aktionären und Geldgebern versichern wollen, dass alles in bester Ordnung sei. Auch die Präsidenten von Arco und Agip haben vor einem Ende der Ölreserven erst gewarnt, nachdem sie ihre Posten abgegeben hatten.

Ihre gelassene Wahrnehmung basiert auch auf einer zweiten Entwicklung: Die sinkenden Preise haben seit Mitte der achtziger Jahre dazu geführt, dass Öl als Faktor der Weltwirtschaft erheblich an Bedeutung verloren hat. Der Preisanstieg von 1999 hat zwar die alten Ängste aus den Ölkrisen von 1973/74 und 1979/80 wieder erweckt, und manche sahen schon die Gespenster von Inflation und Rezession. Doch solche Befürchtungen und Warnungen gehen an der Wirklichkeit vorbei, weil dabei weder die Preisentwicklung, bezogen auf einen fixen Dollarpreis, berücksichtigt wird noch die erheblichen Umwälzungen der Weltwirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten, und schon gar nicht der deutliche Rückgang des Anteils, den das Öl im Welthandel ausmacht.

Seit dem Oktoberkrieg von 1973 ist der Wert der weltweiten Exporte auf nahezu das Siebenfache gestiegen, von 829,1 Milliarden Dollar 1974 auf 5 546,8 Milliarden 1997 (nach dem jeweils aktuellen Dollarkurs). Doch in dieser Zeit hat sich der Gesamtwert der globalen Erdölexporte lediglich verdoppelt, nämlich von 163,4 Milliarden auf 341,6 Milliarden Dollar. Deren Anteil am Weltexport lag 1974 noch bei 19,6 Prozent und 1981 bei 23,3 Prozent, während er sich 1997 nur noch auf 6,1 Prozent belief und für 1999 bei höchstens 5 Prozent liegen dürfte. Der entsprechende Anteil der Opec ist von 14,4 Prozent (1974) auf bescheidene 2,9 Prozent (1997) zurückgegangen.

1999 konnte die Opec ihre Ölexporte wieder auf den Wert von mehr als 130 Milliarden Dollar steigern, aber man muss diese Zahl im Zusammenhang sehen. Vor dem Preisverfall von 1998 hatte der Gesamtwert der Exporte der Opec-Staaten (mit einer Gesamteinwohnerzahl von 484,9 Millionen) bei 161,5 Milliarden Dollar (1997) gelegen, das entspricht 23,4 Prozent der Exporte der Vereinigten Staaten, 31,5 Prozent der deutschen und 38,4 Prozent der japanischen Exporte.

Selbst Länder wie Belgien (mit 10,2 Millionen Einwohnern) oder die Niederlande (15,6 Millionen Einwohner) haben damit mehr Güter ausgeführt als alle Opec-Staaten zusammen. Die Beispiele machen deutlich, welche schiefen Informationen von manchen Medien gelegentlich, und womöglich bewusst, verbreitet werden. Ein anderer wichtiger Indikator ist die Tatsache, dass in den Opec-Staaten das Bruttosozialprodukt pro Kopf 1997 nur bei 1 930 Dollar lag. In den westeuropäischen Staaten liegt dieser Wert zwischen 19 850 und 24 730 Dollar, in Israel sind es 17 230 und in Japan 36 716 Dollar.

Zwar sind die weltweiten Ölexporte von 1974 bis 1997 um 27,4 Prozent, das heißt von 39,43 auf 50,19 Mpd angewachsen, aber ihr Wert ist deutlich gesunken. In Dollar von 1973 ausgedrückt ist der effektive Durchschnittspreis des Opec-Öls von 9,82 Dollar pro Barrel (1974) auf 5,61 Dollar (1997) und schließlich auf 4,82 Dollar (1999) gefallen. Aus den jüngsten Daten IWF ergibt sich, dass der Erdöl-Durchschnittspreis auf einem Index, der das Niveau von 1990 als Basiswert 100 annimmt, heute bei 83,8 liegt, während der weltweite Preisindex für Rohstoffe auf 112,9 gestiegen ist.

Die abnehmende Bedeutung des Erdöls als Faktor der Weltwirtschaft hat unter anderem damit zu tun, dass vor allem in den Industrieländern der Dienstleistungssektor einen enormen Aufschwung auf Kosten der Industrieproduktion genommen hat. In den USA ist der Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttosozialprodukt von 22 Prozent (1977) auf 17 Prozent (1997) gesunken. Die für jeden Dollar des BSP verbrauchte Energie hat sich 1997 und 1998 um jeweils 4 Prozent verringert, in den vorausgegangenen Jahren dagegen nur um durchschnittlich 1 Prozent. Nach Angaben des US-Energieministeriums machten die Ausgaben für Erdöl 1998 3 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts aus, 1981 hingegen noch 8,1 Prozent. Für Westeuropa gilt schon seit langem, dass die hohen Steuern auf Erdölprodukte die Inflationsrate deutlich stärker beeinflussen als die Ölimportpreise.

Entsprechend hatte der Preis des schwarzen Goldes, trotz seines lebhaften Anstiegs im Laufe von 1999, nur begrenzten Einfluss auf den Anstieg der Verbraucherpreise in den Abnehmerländern. Im Wall Street Journal vom 18. Dezember 1999 wurde nachdrücklich auf diese Entwicklung verwiesen, und zwar unter der Schlagzeile: „Der Ölpreis hat sich in diesem Jahr verdoppelt. Wo bleibt die Rezession?“ Der Artikel zitiert auch Mark Mills vom Competitive Enterprise Institute in Washington: „Die Unternehmen sollten sich eigentlich nicht mehr über den Ölpreis beklagen, sondern über den Preis für Schweinefleisch.“

Dennoch hat das Öl seine Bedeutung nicht verloren. Zwar ist der Anteil von Erdgas und anderen Energiequellen gestiegen, aber für die nächsten Jahrzehnte wird Erdöl die wichtigste Energiequelle und ein Rohstoff von strategischer Bedeutung bleiben. Damit stehen zwei Probleme zur Lösung an: die Stabilisierung der Preise auf einem ausreichend hohen Niveau, um die enormen Fördermengen zu ermöglichen, die zur Deckung des jährlich um 2 Prozent steigenden Bedarfs nötig sein werden, sowie eine Verteilung der Ölgewinne zwischen Förderländern und Abnehmerländern.

Kein Dialog auf dem Energiemarkt in Sicht

DIESE Aufgaben waren schon früher nicht einfach zu lösen, werden aber durch die heutige Vorherrschaft der USA noch weiter kompliziert.

„Aus dem Golfkrieg hat das amerikanische Volk gelernt, dass es wesentlich einfacher und weitaus lustiger ist, den Leuten im Nahen Osten in den Hintern zu treten, als selber Opfer zu bringen, um die Abhängigkeit Amerikas von Ölimporten zu verringern.“ So hat James Schlesinger, Energieminister in der Regierung Carter, 1992 in einem Vortrag („Geopolitischer Wandel und Energiemarkt“) vor dem 15. Kongress des Weltenergierats in Madrid resümiert, wie die Mehrheit in seinem Land während des Golfkriegs gedacht hat. Wobei er die Quelle präzisierte: „Wer mich kennt, weiß, dass ich solche Worte niemals angeführt hätte, wenn sie nicht auch in höchsten Regierungskreisen gefallen wären.“

Um noch deutlicher zu werden, rief der Exminister in Erinnerung, dass in den USA – nachdem der Irak besiegt war und die Ölquellen im Nahen Osten durch die Sowjetunion nicht mehr bedroht waren – die Sicherung der Ölversorgung praktisch kein Problem mehr darstellte. Dass das niedrige Preisniveau zu einem drastischen Rückgang der US-amerikanischen Förderquoten und erhöhten Öleinfuhren geführt hatte, schien niemanden zu beunruhigen. Aber nach Schlesinger ist die Situation nach wie vor problematisch, denn nun komme es vor allem darauf an, welche Politik Saudi-Arabien verfolge und wie sich die saudisch-amerikanischen Beziehungen entwickelten.

Der Golfkrieg war auch ein Beleg dafür, dass von einem „Dialog“ zwischen Erzeuger- und Abnehmerländern nicht mehr die Rede sein konnte und dass beide Gruppen von einer Zusammenarbeit durchaus unterschiedliche Vorstellungen hatten. Seit 1974 gab es überdies keinen Zweifel daran, wie weit die Interessen und politischen Ziele der USA und ihrer westlichen Bündnispartner auseinander gingen. Im Unterschied zu Westeuropa und Japan verfügen die USA über Energiequellen, die ihnen langfristig eine Selbstversorgung für den Notfall ermöglichen. Und sie können sich aufgrund ihrer privilegierten Position auf dem globalen Energiemarkt in Krisenzeiten wesentlich leichter „bedienen“ als alle anderen Staaten.

Die Vereinigten Staaten sind weltweit die Nummer eins im Verbrauch und Import von Erdöl wie auch Ursprungsland der größten internationalen Ölgesellschaften. Sie haben in der Entwicklung und Ausrichtung der Erdölindustrie seit jeher eine entscheidende Rolle gespielt, desgleichen bei den großen Umwälzungen der Branche, vor allem während der ersten Ölkrise von 1973/74.

Diverse Signale, die von den USA wie von den ihnen verbundenen Förderländern (Saudi-Arabien, Venezuela und Mexiko) ausgehen, lassen vermuten, dass der Ölpreisanstieg 1999 den Beginn einer neuen Phase markiert. Die drei genannten Länder haben eine führende Rolle bei den Abkommen über die Begrenzung der Fördermengen gespielt, wobei sie offenbar die Rückendeckung der amerikanischen Regierung genossen, die jedenfalls keine Einwände geltend machte.

Zwischen 1986 und 1999 sind die nachgewiesenen Erdölreserven der Vereinigten Staaten um 40 Prozent zurückgegangen, von 35,1 Milliarden Barrel auf 21,1 Milliarden. Auch die Rohölförderung sank um 31,2 Prozent, von 8,68 auf 5,97 Mbd. Gleichzeitig wuchs der Verbrauch um 18,1 Prozent, von 16,33 Mbd (1986) auf 19,2 Mbd (1999), und die Abhängigkeit von Ölimporten stieg von 33,2 Prozent auf 50,9 Prozent. Vor diesem Hintergrund scheint es fraglich, ob Washington auf Dauer eine Niedrigpreispolitik zu Lasten einer gesicherten Versorgung befürworten wird. In absehbarer Zukunft jedenfalls dürfte diese Sicherheit nicht so sehr politisch bedroht als vielmehr zunehmend durch geophysische Faktoren gefährdet sein. 1999 sind die nachgewiesenen Erdölvorkommen weltweit um 1,8 Prozent, in den USA dagegen um 6,7 Prozent geschrumpft. Die USA müssen damit wohl oder übel Ölpreise akzeptieren, die hoch genug sind, um Anreize für Investitionen in die Erschließung und Ausbeutung von Ölvorkommen zu bieten – in den USA wie in anderen Teilen der Welt, wie aktuell vor allem in der kaspischen Region. Das war ihre Strategie bereits Anfang der siebziger Jahre und dann wieder nach dem Preisverfall von 1985/86.

Daraus ergeben sich zwei Schlüsse. Der wichtigste lautet: Entgegen allem Anschein ist Erdöl eben kein gewöhnlicher Rohstoff, sondern eine nicht erneuerbare natürliche Ressource. Für die Entwicklungstendenz der Ölindustrie in den kommenden Jahren sind vor allem zwei Faktoren entscheidend: zum einen der Umfang der gesicherten Vorkommen und der Förderung in den letzten Jahren, zum anderen der Zuwachs der globalen Nachfrage.

Zum zweiten muss man feststellen, dass die wichtigsten Akteure in diesem Bereich – die Förderländer, die Abnehmerländer und die großen Ölgesellschaften – in der Vergangenheit unfähig waren, die großen Entwicklungsaufgaben gemeinsam anzugehen und zu bewältigen. Dass sich daran in der Zukunft etwas ändern könnte, ist äußerst unwahrscheinlich. Weil allseitig nur auf kurze Sicht kalkuliert wird, droht in Zukunft dasselbe wie in der Vergangenheit: ein Auf und Ab der Preise und mehr oder weniger ernste Krisen, die unvorhersehbare politische Umwälzungen auslösen können; aber auch mit einer zunehmenden Unfähigkeit, den wachsenden Bedarf mit der Erschließung von Reserven und den Förderkapazitäten in Einklang zu bringen.

Es hat also den Anschein, als ob die Erdölindustrie und die gesamte Weltwirtschaft für das Stichjahr 2005 mit gewaltigen Erschütterungen rechnen müssen.

dt. Edgar Peinelt

* Herausgeber der Zeitschrift „Le Pétrole et le Gaz Arabes“, Paris.

Fußnoten: 1 Die bekannten nichtkonventionellen Ölreserven (Ölschiefer, Asphaltsände, Kohleverflüssigung, Biomasse etc.) berechnen sich auf der Basis relativ genau kalkulierter Projekte. Bei den noch nicht erschlossenen nichtkonventionellen Vorkommen geht es um derzeit ungewisse oder nicht begonnene Projekte. Siehe World Energy Outlook (1998) und die Aktualisierung von 1999, http://www.iea.org/pubs/studies/files/weo/weo.htm. Die Internationale Energie-Agentur wurde 1974, nach der ersten Ölkrise, von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eingerichtet. 2 Alain Perrodon, „Quel pétrole pour demain?“, Paris (Éditions Technip) 1999. 3 1999 war erstmals seit 1992 ein Rückgang der weltweiten Ölreserven zu verzeichnen; sie verringerten sich um 18,2 Milliarden Barrel auf den Stand von 1 016 Milliarden Barrel im Januar 2000.

Le Monde diplomatique vom 17.03.2000, von NICOLAS SARKIS