14.04.2000

Demokratisierung in Taiwan – Provokation für Peking

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Demokratisierung in Taiwan – Provokation für Peking

Von FRANÇOIS GODEMENT *

Vier Jahre nach den ersten allgemeinen und freien Präsidentschaftswahlen in Taiwan am 23. März 1996 hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen können: in der ganzen Welt für die politische Demokratie ihrer taiwanesischen Mitbürger zu werben. Zugleich wies man aber auch eindringlich darauf hin, was alles auf dem Spiel stehe. Als China im März 1996 Raketen über die Straße von Taiwan schickte, schlug sich das prompt in einem deutlichen Stimmenvorsprung des Kuomintang-Kandidaten Lee Teng-hui nieder.1 Obwohl er gegen den Bewerber der Separatisten angetreten war, ist Lee Teng-hui bei der chinesischen Regierung in Ungnade gefallen, weil er für eine neue taiwanesische Identität eintrat.2

Bei der jüngsten Wahl kamen die Pekinger Drohgebärden dem ehemaligen Bürgermeister von Taipeh, Chen Shui-bian, zugute, dem designierten Kandidaten der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Obwohl er mit 39 Prozent der Stimmen keine starke Mehrheit erzielen konnte, ist er doch als der große Sieger aus diesem Urnengang hervorgegangen. Chen Shui-bian, Sohn armer Bauern aus dem Süden der Insel, ein mutiger Dissident während der Kuomintang-Diktatur, gilt als pragmatischer Staatsmann, der jedoch unumwunden erklärt, an erster Stelle Chinese und dann erst Taiwaner zu sein. Und doch sieht China in ihm ausschließlich das Mitglied einer DPP, in deren Statuten der ketzerische Passus von der Selbstbestimmung Taiwans vorkommt.

Das jüngste Wahlergebnis ist nicht zuletzt deshalb so spektakulär, weil es lange so aussah, als würde bei der Nachfolge von Lee Teng-hui nach den üblichen Mustern verfahren. Die Fortschrittspartei, zermürbt von personellen Querelen und geschwächt durch ihre unrealistische Haltung zur Unabhängigkeitsfrage, hatte sich nicht wirklich geschlossen hinter Chen Shui-bian gestellt. Und der strenge Moralist ist alles andere als ein Volkstribun, der die Herzen seiner Wähler im Sturm erobert.

Was die machthabende Partei betrifft, so wusste man, dass die alte Garde der Kuomintag wie schon 1996 versuchen würde, Lee Teng-huis Nachfolgekandidaten auszuhebeln. Sie hat dem Präsidenten nie verziehen, dass er sich der Stammbevölkerung der Insel3 angenähert hatte. Der designierte Thronfolger, Vizepräsident Lien Chan, hat noch zu keinem Thema irgendeine dezidierte Meinung geäußert und besitzt so gut wie kein Charisma. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn auszubooten.

So wäre der Wahlkampf zwar lebhaft, aber auch bizarr verlaufen: eine Karikatur der amerikanischen Wahlkampfumzüge mit ihrem Kitsch und ihren Baseballmützen, den Cheerleaders und Karaoke-Auftritten. Erwartungsgemäß kam der designierte KMT-Kandidat Lien Chan bei den ersten Umfragen im Juli 1999 nicht so recht aus den Startlöchern. China, das offenbar Lehren aus den verheerenden Folgen seiner Einschüchterungsmanöver vom März 1996 gezogen hatte, schickte sich an, Wang Daohan, einen engen Vertrauten von Präsident Jiang Zemin, zu den ersten Verhandlungen mit den Behörden auf die Insel zu entsenden.

Diesen Augenblick wählte der amtierende Präsident, um in einer Kehrtwendung sein politisches Credo bekannt zu geben. In einem eigentlich unbedeutenden Radio-Interview mit der Deutschen Welle erklärte er am 9. Juli 1999, dass die Voraussetzung für Verhandlungen aller Art die Anerkennung einer „besonderen zwischenstaatlichen Beziehung“ zwischen der Volksrepublik China und der Republik China sei. Große Aufregung in Peking war die Folge: Schließlich gilt nicht nur die Anerkennung eines taiwanesischen Staates, selbst wenn sie de facto praktiziert wird, als inakzeptabel, sondern in dem Riesenreich mit 1,3 Milliarden Einwohnern wird schon die Idee einer gleichberechtigten Beziehung zu einer 21-Millionen-Provinz als Beleidigung des Selbstwertgefühls aufgefasst.

Mit einem Satz hatte Lee Teng-hui den politischen Raum neu definiert. Zunächst für Taiwan, wo sich die drei wichtigsten Kandidaten verpflichtet sahen, seine Aussage zu unterstützen, auch wenn die traditionellen Verfechter der „Ein-China-Doktrin“ ihre Vorbehalte hatten. Doch vor allem auch für Peking, wo umgehend ein altbekanntes Drama inszeniert wurde – inklusive offizieller Empörung und Entrüstung in der Partei bis hin zur Diskussion über mögliche militärische Vorstöße. Wie schon 1996 betrieb die chinesische Regierung kriegstreiberische Rhetorik und vergrößerte damit unwillentlich den Abstand zwischen ihrer eigenen nationalistischen Diktatur und einer Demokratie, die in die internationale Wirtschaftsgemeinschaft integriert ist.

Anders als oft behauptet, war die chinesische Hetze nicht rein verbal. Sie ging einher mit der Stationierung einer ständig wachsenden Zahl von Raketen in der Taiwan gegenüberliegenden Küstenregion. Mit einer Flugdauer von sieben bis acht Minuten wäre deren Wirkung auf die räumlich am stärksten konzentrierte Volkswirtschaft der Welt verheerend, die aufgrund der Just-in-time-Produktion und ihrer Abhängigkeit vom Außenhandel zugleich auch die anfälligste ist. Chinesische Kräfte waren es auch, die dafür sorgten, dass sich die Zwischenfälle im Luftraum über der Straße von Taiwan häuften.

Wesentlich ist aber, dass hier zwei zeitliche Strategien aufeinander prallen. So will Lee Teng-hui – und laut Umfragen auch 97 Prozent der taiwanesischen Bevölkerung – nichts von einer schnellen Wiedervereinigung wissen. Die Führung der Volksrepublik China dagegen ist versucht, die Wiedervereinigung durch Druck und Gewalt zu beschleunigen, nachdem ihr immer häufiger die de facto existierende Unabhängigkeit der Insel vor Augen geführt wird.

Diese Position wurde durch verschiedene Thesen im jüngsten Weißbuch unterstützt, das am 28. Februar, also mitten im taiwanesischen Wahlkampf, erschienen ist und offenbar auch Einfluss auf ihn nehmen sollte. Von chinesischer Seite wird nicht nur dann mit Gewaltanwendung gedroht, wenn die Führung in Taipeh – in der Praxis die Kuomintang, die allein als Dialogpartner anerkannt ist – die Gespräche auf unbestimmte Zeit hinausschiebt, sondern auch, wenn diese ergebnislos verlaufen sollten.

Drohgebärden und Versöhnungsgesten

IN Regierungs- und Diplomatenkreisen ist man aber auch auf andere Aspekte des Weißbuchs aufmerksam geworden. So heißt es darin explizit, dass Gewalt nur als äußerstes Mittel eingesetzt würde – was wohl in erster Linie Rhetorik ist. Zudem werden, und das ist in der Tat neu, beide Protagonisten als gleichberechtigt anerkannt. Doch allein der Umstand, dass ein solches Dokument mitten im taiwanesischen Wahlkampf veröffentlicht wird, belegt die anhaltende Missachtung der Demokratie seitens der Volksrepublik. Eine Missachtung, die Peking teuer zu stehen kommen kann, wenn man an die womöglich heftigen Reaktionen der öffentlichen Meinung in Taiwan und auch in den Vereinigten Staaten denkt.

Die drei Anwärter für die Präsidentschaft übertrumpften sich geradezu in ihrer moderaten Haltung gegenüber China und sorgten so dafür, dass sich die Wählerschaft in der politischen Mitte konzentrierte. In Verteidigungsfragen nahmen sie jedoch allesamt eine härtere Position ein. James Soong beispielsweise, ehemaliges KMT-Mitglied, der mit Rückenwind aus Peking angetreten war, stellte zwar die Wiedervereinigung nicht in Frage, sprach sich aber dennoch für die Stationierung ballistischer Langstreckenraketen zur Verteidigung Taiwans aus. Dessen ungeachtet hat er am 15. März erklärt, im Falle seiner Wahl einen Friedensvertrag mit China abschließen zu wollen.

In den Vereinigten Staaten, wo sich die regierenden Demokraten der historischen Herausforderung einer strategischen Partnerschaft mit Peking zu stellen versuchen, sah man sich praktisch gezwungen, engere Sicherheitsbeziehungen mit Taiwan zu akzeptieren. Umgehend wurde mit dem Verkauf modernster Waffensysteme aus dem amerikanischen Arsenal begonnen. Nur um diesen Preis, so ist anzunehmen, wird der amerikanische Kongress die Normalisierung der Handelsbeziehungen mit China billigen und damit die Vorbedingung für Chinas Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO) schaffen.4

Wie schon 1996 schien die Führung der Volksrepublik auch dieses Mal bereit, nach den Ursachen ihrer Fehleinschätzung zu forschen. In seiner Rede vor dem Nationalen Volkskongress am 5. März hatte Ministerpräsident Zhu Rongji ganz allgemein von Gesprächspartnern in Taiwan gesprochen, ohne speziell die KMT zu nennen. Zumindest er scheint verstanden zu haben, dass Ungewissheit ein wesentliches Charakteristikum der Demokratie ist. Im Gegensatz zu den Militärs, die in ihren öffentlichen Stellungnahmen kein Blatt vor den Mund nehmen und die offenbar nicht müde werden, auf die geplante Wiedereroberung Taiwans hinzuweisen, schlägt der stellvertretende Regierungschef Qian Qichen, der in letzter Zeit recht schweigsam war, versöhnlichere Töne an. Nur selten ist die Kluft zwischen Zivilisten und Militärs so deutlich zutage getreten – selbst 1996 hatte man diesen Dissens nicht öffentlich gemacht.

Bislang weiß man noch nicht, welche Meinung die politisch Verantwortlichen, also die Mitglieder des ständigen Ausschusses des Politbüros, vertreten. Während an der harten Linie eines Li Peng keine Zweifel aufkommen, bleibt die Haltung von Präsident Jiang Zemin unklar. Er setzte bislang viel auf die Normalisierung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, aber auch auf das neue internationale Format Chinas. Zhu Rongji selbst wird von den an Handelsbeziehungen mit China interessierten Kreisen im Westen regelmäßig zum Vorkämpfer der liberalen Reformpolitik erklärt. Allerdings hat er – etwa im November 1998 vor einer Versammlung chinesischer Militärs – aus seiner orthodoxen Haltung in der Taiwan-Frage nie einen Hehl gemacht.

Um ihr politisches Überleben nicht zu gefährden, dürfen die wichtigsten Männer an der Staatsspitze bei all ihren Auseinandersetzungen jedoch keine starken Divergenzen nach außen dringen lassen. Sie umkreisen sich innerhalb ihres Zirkels wie Sumo-Ringer und versuchen in erster Linie, einander aus dem Ring zu drängen. Sollte sich dieser Mangel an kollektiver Verantwortung und das damit verbundene Eskalationsrisiko – wie schon 1996 – zuspitzen, dann wächst die Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerät.

Die Präsidentschaftswahl in Taiwan dürfte schließlich von Faktoren entschieden worden sein, auf die man sich in Peking kaum einen Reim zu machen vermag. Der Wahlkampf ist im Grunde von drei Seiten geführt worden, was sowohl seine Protagonisten als auch die von ihnen vertretenen Positionen anbelangt. Der Sieger Chen Shui-bian (DPP) ist Taiwaner und ein Gegner der seit 1949 herrschenden KMT. Lien Chan (KMT), ein Festlandchinese, wurde in der Küstenregion Fujian geboren und spricht daher denselben Dialekt, vor allem aber wird er von Lee Teng-hui unterstützt, der für die Fortentwicklung der KMT steht.

James Soong schließlich, ein reiner Technokrat, hat sich immerhin den lokalen Dialekt angeeignet. Dennoch wurde der Kampf der drei Widersacher in einem einzigen Wahlgang entschieden. Offenbar hatten bereits die Umfragen die Funktion eines ersten Wahlgangs – wenn man so will von „primaries“ – übernommen. Die chinesischen Drohungen der vorausgegangenen Wochen, vor allem die aggressiven Äußerungen von Zhu Rongji in den allerletzten Tagen, haben bei den gemäßigten oder unentschlossenen Wählern den Ausschlag für Chen Shui-bian gegeben.

Ein weiterer entscheidender Faktor war die Macht der Apparate – für den parteilosen James Soong kein günstiger Umstand. Die Demokratische Fortschrittspartei von Chen Shui-bian konnte alle emotional aufgeladenen Register ziehen, vom Lokalpatriotismus bis hin zu den Ressentiments gegen die Maschinerie der KMT, der immerhin reichsten politischen Partei der Welt. Die wurde offenbar für ihre Dienste am Wähler belohnt.

Wenn westliche Beobachter solche Dienste gelegentlich etwas vorschnell als mafiös abqualifizieren, machen sie es sich zu leicht und verkennen das Funktionieren der Demokratie. Obwohl die KMT nur über eine knappe parlamentarische Mehrheit verfügt, werden Präsidentschaftswahlen sie kaum von der politischen Bühne vertreiben. Es sei denn, vorgezogene Parlamentswahlen würden ihr den Todesstoß versetzen.

All diese Faktoren sind wohl in den letzten Tagen des Wahlkampfs, in denen jedes Mittel erlaubt war, ausschlaggebend gewesen. Am 13. März hat ein unerklärlicher Kurseinbruch an der Börse von Taipeh den Verdacht auf Manipulationen seitens der KMT genährt. Es war paradox, wie derselbe Lee Teng-hui, der noch 1996 aufgrund des Widerstandes gegen das chinesische Säbelrasseln siegreich aus der Wahl hervorgegangen war, nun ebensolche Drohgebärden Pekings instrumentalisierte, um den chinafreundlichsten Kandidaten zu verteidigen. Zweifellos hat er als Erster erkannt, dass China mit seinen Drohungen gegen die Wählerschaft und den Beschimpfungen des Kandidaten Chen Shui-bian dessen Chancen nur erhöhte.

Das Wahlergebnis hat in der Tat alle Vorhersagen Lügen gestraft. Die Wähler haben deutlich Partei ergriffen für den Widerstand gegen die Drohungen aus Peking. Doch mit der Ablehnung Lien Chans haben sie auch zur Polarisierung beigetragen, ein Phänomen, das sich in den Straßen von Taipeh unmittelbar niederschlug, als Anhänger von James Soong den Sitz der KMT mit Steinen bewarfen.

Für Soong war nunmehr ein Zusammengehen mit Chen Shui-bian ausgeschlossen, und Lee Teng-hui sah sich gezwungen, vom Vorsitz der KMT zurückzutreten. Der Meister der Marionetten hatte so gut gespielt, dass er politisch alles verlor. Doch in anderer Hinsicht kann er sich als Sieger betrachten – schließlich hat die Wahl eine Demokratie legitimiert, die sich dem Druck aus Peking widersetzt. Und das war eines der erklärten Ziele seiner zwölf Jahre währenden Präsidentschaft.

Die chinesische Führung ihrerseits hat einen schweren Gesichtsverlust erlitten und muss jetzt die Konsequenzen ihrer kriegstreiberischen Äußerungen tragen. Für sie bieten sich verschiedene Optionen an. Eine davon hat Zhu Rongji am Vorabend der Wahl skizziert. Indem er Taiwan die schlimmsten Konsequenzen androhte, erklärte er zugleich, dass die chinesische Regierung nachgeben werde und zu Verhandlungen mit jedem Gesprächspartner bereit sei, vorausgesetzt, er fordere nicht die Unabhängigkeit.

Chinas waghalsige Dialektik

AM Tag nach der Wahl verschärfte Präsident Jiang Zemin diese Bedingung und verlangte zuerst die ausdrückliche Zustimmung zur „Ein-China-Doktrin“. Chen Shui-ban aber wird diese Forderungen kaum erfüllen können.

Es gibt für China aber noch eine zweite Möglichkeit, eine Art Übergangslösung. China würde dabei zunächst keine größere Entscheidung weder im Sinne von Verhandlungen noch von unmittelbaren militärischen Auseinandersetzungen treffen. Stattdessen könnte man auf die politischen Schwierigkeiten setzen, die für den neuen Präsidenten gewiss nicht ausbleiben werden.

Die gewalttätigen Demonstrationen in den Straßen von Taipeh haben die chinesische Führung vielleicht auf die Idee gebracht, dass die politische Lage in Taiwan unkontrollierbar werden und vielleicht gar ins Chaos abgleiten könnte. Eine solche Hypothese, die in Peking schon lange durchgespielt wird, würde sogar den Einsatz von Gewalt rechtfertigen. Solange aber das Chaos ausbleibt, kann das Regime in Peking immer noch darauf hoffen, dass sich die Präsidentschaft von Chen Shui-ban nur als ein Intermezzo erweisen und am Ende die „guten“ Führer in einer Art Canossa-Gang an die Macht zurückkehren werden. Eine solche Hypothese setzt natürlich voraus, dass der Termin für die Wiedervereinigung nicht allzu kurzfristig angesetzt wird.

Freilich gibt es noch eine dritte Hypothese, nämlich der baldige Ausbruch eines offenen Konflikts. Sollte China es tatsächlich darauf ankommen lassen, unterschätzt es allerdings die Bedeutung Taiwans und die zu erwartenden amerikanischen Reaktionen. Denn die Strategen in Peking und die Diplomaten alter Schule, die weder die neue Logik der internationalen Wirtschaft noch die des modern geführten Krieges bedenken, haben immer noch nicht begriffen, dass das mächtigere China in Wirklichkeit Taiwan heißt. Als eine wahre Drehscheibe der Informationsindustrien ist die Insel ein unersetzliches strategisches Glied innerhalb des neuen, auf den Kommunikationstechnologien beruhenden Wachstums.

Für Taiwan mit seiner massiven Konzentration an Hightechindustrie und den aus ihr erzielten immensen Gewinnen geht es nicht mehr allein um die Verteidigung der Bevölkerung. Die Insel ist zu einem der neuen Zentren der globalisierten Wirtschaft geworden.

Dass die Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten – nicht anders als die chinesische Führung – nur ungern zusehen, wie ihre Interessen durch die Bedürfnisse und Initiativen eines „politischen Zwerges“ durchkreuzt werden, ist durchaus verständlich. Dabei steht ihr Aufgabenkatalog, der traditionell auch die Verteidigung der Demokratie auf chinesischem Boden enthält, derzeit eigentlich nicht zur Diskussion. Ganz im Gegenteil, die Drohungen aus China verstärken in Amerika automatisch die Verteidigungshaltung – und genau das hätte Washington lieber vermieden.

Angesichts solcher Denkmuster, die nicht nur auf einer international gültigen Moral oder öffentlichen Meinung basieren, stößt China immer neue militärische Drohungen aus, denen wahrlich etwas Selbstmörderisches anhaftet. Zwar könnten die ballistischen Raketen aus China militärische und technologische Zentren auf der Insel treffen, und die Zerstörer vom Typ Sovremenny mit ihren Raketenköpfen könnten so manches taiwanesische Schiff versenken. Doch ist dieses Pulver erst einmal verschossen, hat die Volksarmee weder echte Kapazitäten, um auf der Insel zu landen, noch wäre sie in der Lage, ihre weitgehend überholte Flotte und ihre veralteten Flugzeuge zu verteidigen. Die Volksarmee ist noch heute ohne jegliche wirksame Abwehr – vergleichbar mit der Situation, in der das syrische Militär 1973 gegenüber Israel war. Was eine Schiffsblockade durch chinesische U-Boote tatsächlich bewirken würde, ist daran zu ermessen, dass das Land bei einem einzigen Vergeltungsschlag der Vereinigten Staaten oder auch Taiwans aller Voraussicht nach fast seine gesamten in Aktion befindlichen See- und Luftstreitkräfte verlieren würde.

Das Gebiet, auf das China setzt, ist in Wahrheit nicht militärischer, sondern psychologischer und politischer Natur. Einige chinesische Kommentatoren berauschen sich an der Idee, dass die Doktrin „keine Toten“ die Vereinigten Staaten schon von einem militärischen Eingreifen abhalten wird.

Da diese Bedingung im Falle Chinas offensichtlich nicht gilt, stellt sich die Frage, ob die Siebte Flotte der Vereinigten Staaten im Südchinesischen Meer lediglich ein Papiertiger ist. Manchmal ist die Illusion eine sehr schlechte Ratgeberin.

China würde mit einem militärischen Konflikt, auch wenn dieser schon von vornherein verloren wäre, einen ähnlichen Schlag führen wie 1968 mit der Têt-Offensive in Vietnam: Um den Preis hoher Verluste würde das Land der internationalen Gemeinschaft demonstrieren, dass die Wiedervereinigung mit Taiwan Vorrang vor allen anderen Erwägungen hat, sogar vor der Globalisierung, die doch vermeintlich alle Ideologien und Nationalismen absorbiert. Auch würde es den Vereinigten Staaten und Taiwan ein sehr langwieriges militärisches Engagement aufzwingen.

Die Erfahrung des Golfkriegs von 1991 hat gezeigt, dass eine solche Mobilisierung mit ihren Koalitionen in der Regel nicht von Dauer ist. Niemand zweifelt daran, dass die meisten westlichen Länder nach einem ersten Schock eine Einigung mit Peking suchen und Taiwan an den Verhandlungstisch zwingen würden. Was heute noch unmöglich erscheint, wäre es dann nicht mehr, wenn Taiwan wieder in stete Abhängigkeit von einem privilegierten Verbündeten geriete. Im Übrigen kann die Insel ihre Zukunft nicht ohne einträgliche Handelsbeziehungen mit dem Festland gestalten.

In einer waghalsigen Dialektik setzt China nicht allein auf seine – wiewohl begrenzte – Stärke, sondern auch auf sein mittlerweile beachtliches wirtschaftliches und politisches Gewicht. Intern muss sich das Regime freilich mit weiteren Widersprüchen auseinander setzen, das heißt zu allererst mit der Tatsache, dass die gegenwärtige politische Diktatur hinfällig wird, sobald bestimmte systemische Wirtschaftsreformen wirklich greifen. Eine Konfrontation in der Taiwan-Frage würde die Notwendigkeit einer internen Anpassung des Regimes aber wieder in den Hintergrund drängen, und das käme einem Teil der chinesischen Nomenklatura durchaus gelegen.

dt. Erika Mursa

* Professor am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco) und Dozent am Institut français des relations internationales (IFRI). Autor von „Dragon de feu, dragon de papier, l'Asie a-t-elle un avenir?“, Paris (Flammarion) 1998.

Fußnoten: 1 Vgl. Selig S. Harrison, „Nationalisme taiwanais“, Manière de voir, Nr. 47, September/ Oktober 1999. 2 Vgl. Selig S. Harrison, „Pékin-Taiwan, par-delà les diktats“, Le Monde diplomatique, April 1996. 3 Hier handelt es sich um die Nachkommen der Einwanderer aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die bereits vor dem Eintreffen der KMT vor Ort waren und die in ihrer Identität und der politischen Vertretung ihrer Interessen von der KMT massiv unterdrückt wurden. Sie stellen die große Mehrheit der Bevölkerung dar. 4 Vgl. Philip S. Golub, „Rivalität zwischen Washington und Peking“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.04.2000, von FRANÇOIS GODEMENT