12.05.2000

Die Versuchung der genetischen Apartheid

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Die Versuchung der genetischen Apartheid

Von DOROTHÉE BENOIT BROWAEYS und JEAN-CLAUDE KAPLAN *

DIE Menschen träumten schon immer davon, in die Zukunft blicken zu können. Heute jedoch droht dieser alte, verführerische Traum zum Albtraum sozialer Ausgrenzung zu werden. Mit der prädiktiven Medizin, die anhand von Gentests künftige Krankheiten vorhersagen kann, hat die Zukunft unversehens bereits begonnen. Damit stehen alle, die Bescheid wissen, in der Verantwortung.

So vorteilhaft Krankheitsvorhersagen mit Blick auf mögliche Vorbeugemaßnahmen sind, so bedrohlich wird dieses Wissen, wenn es mit dem Zwang zur Veröffentlichung einhergeht. Schon heute muss in Frankreich jeder Versicherungsnehmer seinem Versicherer detailliert Auskunft geben. Rechtsgrundlage des gesundheitlichen Fragebogens, den man bei Abschluss eines Versicherungsvertrags ausfüllen muss, ist Artikel 225 Absatz 1 des französischen Strafgesetzbuchs, der „bei Versicherungsverträgen eine Ausnahme vom Prinzip der Gleichbehandlung“ zulässt. Eine allgemeine Anzeigepflicht von genanalytisch gewonnenen Informationen hätte hier schwer wiegende Konsequenzen.

Als exemplarischer Fall kann die Geschichte von Frau Y. Q. gelten: Eine freiwillige genetische Untersuchung ergab 1997, dass Frau Q. den erblichen Defekt der Huntington-Krankheit in sich trägt. Mit Anfang vierzig würde bei ihr unweigerlich ein schleichender Prozess geistigen Verfalls einsetzen. Frau Q. wusste natürlich nicht, wie sich dieses Untersuchungsergebnis auf ihre Versicherungspolice auswirken würde. Als die ersten Ausfallerscheinungen auftraten, musste sie ihre Berufstätigkeit aufgeben. Der Versicherer Crédit Mutuel drohte daraufhin, die Lebensversicherung zu kündigen, mit der Frau Q. die Hypothek auf ihr Haus abdeckte. Als Grund wurde in einem Schreiben vom 26. Mai 1997 darauf verwiesen, die Versicherungsnehmerin habe es versäumt, ihn „vor Unterzeichnung des Vertrags von der Durchführung des Tests in Kenntnis zu setzen“. Frau Q. wandte sich an „Huntington-France“. Deren Mitarbeiterin Louise-Marie Marton antwortete in einem Schreiben vom 11. Februar 1998: „In keinem Fall dürfen Versicherer oder Arbeitgeber davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sich ein Mensch, der frei von irgendwelchen Krankheitssymptomen ist, auf eigene Veranlassung einem Test unterzieht. [...] Testkandidaten genießen den Schutz des Bioethik-Gesetzes: Die Testergebnisse unterliegen strengster Vertraulichkeit und werden dem Patienten vom Arzt nur mündlich mitgeteilt.“

Im Fall von Frau Q. konnte auf Druck der Angehörigen von Huntington-Kranken das Schlimmste verhindert werden. Ein ähnlicher Fall – auch er bezog sich auf die Huntington-Krankheit – beschäftigte zur gleichen Zeit die Caisse Nationale de Prévoyance (CNP). Zwar haben sich die französischen Versicherer verpflichtet, grundsätzlich auf die Verwendung von genetischen Testergebnissen zu verzichten, doch gerade der letztgenannte Streitfall hat gezeigt, dass von Rechtssicherheit auf diesem Gebiet keine Rede sein kann. Der Vorsitzende des Landgerichts von Toulouse, Marcel Foulon, empfahl den Vertretern von Selbsthilfeinitiativen denn auch, „alles zu unternehmen, um sich in unklaren Fällen zur Wehr zu setzten“.

Auch die Arbeitgeber könnten ein verstärktes Interesse für die so genannte Prädispositionsdiagnostik entwickeln, um genetische Bewerberprofile zu entwerfen und ungeeignete Kandidaten für risikobehaftete Arbeitsplätze auszusieben. In bestimmten Fällen mag ein solches Vorgehen gerechtfertigt sein. So lassen etwa US-Fluggesellschaften ihre schwarzen Angestellten systematisch auf Sichelzellenanämie untersuchen – jeder zwölfte schwarze Amerikaner leidet an dieser Erbkrankheit der roten Blutkörperchen –, um personelle Ausfälle durch Hypoxie1 während des Fluges zu vermeiden. Entscheidend ist dabei, dass die Betroffenen darüber in Kenntnis gesetzt werden. Dies war bei sieben Mitarbeitern des National Laboratory von Berkeley nicht der Fall. Als sie entdeckten, dass ihr Arbeitgeber sie ohne ihr Wissen auf Sichelzellenanämie getestet hatte, verklagten sie ihn wegen „Verletzung der Bürgerrechte und der Privatsphäre“.

In den Vereinigten Staaten werden derartige Tests immer häufiger mit kaum legitimierbaren Zielen durchgeführt. Man schätzt, dass die Arbeitgeber bei 30 Prozent aller Einstellungen genetische Testergebnisse zu Rate ziehen. Jüdische Organisationen warnen daher vor einer möglichen Diskriminierung durch Banken und Versicherungsgesellschaften, nachdem unter den Juden mittelosteuropäischer Herkunft mehrere Genmutationen identifiziert wurden, die ein erhöhtes Brustkrebsrisiko bergen. Angeblich sei in dieser Bevölkerungsgruppe ein Sechstel aller Krebskranken Träger von „charakteristischen Mutationen“. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass die professionellen Risikobewerter eine jüdische Abstammung unter generellen Krankheitsverdacht stellen.

Angesichts dieses Gefahrenpotentials erhebt sich die Frage nach möglichen Schutzvorkehrungen. In Frankreich vertrat die staatliche Bioethik-Kommission 1995 die Auffassung, „die Verwendung von genetischen Informationen zum Zweck der Auswahl und Ungleichbehandlung im sozialen und wirtschaftlichen Leben [...] würde einen äußerst folgenschweren Schritt in Richtung auf die Infragestellung des Gleichheitsgrundsatzes und der Menschenwürde bedeuten“. Gentests seien daher generell zu verbieten. Doch diese grundsätzliche Position wird, da es sich um Nuancen auf einem schwer abgrenzbaren Kontinuum handelt, durch die laufende Entwicklung zunehmend angefressen. Nach Ansicht des Staatsrats, der in seinem Plenum am 25. November 1999 einen Bericht zur Überarbeitung der Bioethik-Gesetze gebilligt hat, bringt die Erforschung des menschlichen Genoms keine grundsätzliche Neuerung mit sich: „Schon heute ist die gesundheitlich begründete Ungleichbehandlung in vielen Fällen gängige Praxis. Die ärztlichen Erkenntnisse (familiäre Vorbelastungen, Hypercholesterinämie, arterielle Hypertonie), die die Versicherer anfordern dürfen, verweisen indirekt auf genetische Merkmale. Es ist also keineswegs gewiss, dass Gentests tatsächlich die vielfach behauptete radikale Neuerung darstellen.“2

Eine Initiative des Gesetzgebers hält der Staatsrat daher für nicht geboten: „Wer jede genetisch begründete Ungleichbehandlung ausschalten möchte, entzieht der Fragebogenpraxis der Versicherer die Rechtsgrundlage.“ Wie der Höchste Gerichtshof abschließend betont, dürfe ein Antragsteller „einem Versicherer in keinem Fall das Ergebnis eines Prädispositionstests vorenthalten, der vor Vertragsabschluss durchgeführt wurde“. Wer Bescheid wissen will, müsste danach über das Ergebnis auch Auskunft geben.

So verständlich das Interesse der Versicherer an solider Risikoabschätzung und vertrauenswürdigen Angaben der Versicherungsnehmer auch sein mag – in letzter Konsequenz führt dieses System unweigerlich zu erhöhten Beitragssätzen für erblich Vorbelastete und zu besseren Konditionen für „biologisch Begünstigte“. Die in der genetischen Beratung tätigen Ärzte sind sich der Problematik wohl bewusst und tun ihr Möglichstes, um zu verhindern, dass Patienteninformationen zu den Krankenversicherern durchsickern. „Wir sehen uns genötigt, außerhalb des gesetzlichen Rahmens zu handeln“, erklärt der Spezialist für die Huntington-Krankheit am Purpan-Krankenhaus von Toulouse. „Zu uns kommen Menschen, die in ihrer Familie einen Fall von Erbkrankheit haben und beispielsweise vor einer Eheschließung wissen möchten, wie es gesundheitlich um sie bestellt ist. Um keine verdächtigen Spuren zu hinterlassen, teilen wir das Untersuchungsergebnis mündlich mit und vermerken in unseren Unterlagen, dass der Arztbesuch nur durch kleinere funktionelle Störungen motiviert war. Wir müssen die Wahrheit verschweigen und also lügen, um dem legitimen Beratungswunsch unserer Patienten gerecht zu werden.“

Angesichts dieser misslichen Lage macht sich unter den Ärzten der siebzig molekulargenetischen Untersuchungslabors in Frankreich zunehmend Unbehagen breit. Zusätzlich erschwert wird ihre Aufgabe durch unklare Finanzierungsverhältnisse. Da die genetische Diagnostik im Rahmen der Schwangerschaftsberatung entstanden ist, wird sie noch immer nach den Sätzen der Pränataldiagnostik abgerechnet. Dabei unterzogen sich bereits 1996 fast 10 000 Erwachsene schwangerschaftsunabhängig einer genetischen Untersuchung, was insgesamt rund 10 Millionen Franc kostete. Einige Klinikärzte haben die Probleme ihrer Beratungspraxis Ende 1998 in einem Weißbuch veröffentlicht und eine Bewertung ihrer Tätigkeit als biomedizinische Leistung gefordert, ohne bei den zuständigen Stellen Gehör zu finden. „Nichts hat sich bewegt“, klagt Michel Goossens vom Henri-Mondor-Krankenhaus in Créteil, einer der Verfasser des Weißbuchs. Alle möglichen Stellen habe er angeschrieben, doch „jeder hat den schwarzen Peter weiter gereicht. Die privaten Untersuchungslabors blockieren jeden Fortschritt, um eine ausschließliche Zuständigkeit der Krankenhäuser zu verhindern.“ Abgesehen von der Krebsvorsorgeuntersuchung kommen im Allgemeinen die Krankenhäuser für die Kosten von Gentests auf, in manchen Fällen auch die Patienten.

Schlechte Gene werden bestraft

IM Februar 2000 hat die französische Regierung ein Programm mit einem Jahresetat von 750 Millionen Franc beschlossen, das zum Ziel hatte, „dem betroffenen Personenkreis den Zugang zu einer qualitativ hochwertigen onkogenetischen Beratung zu ermöglichen“, wie sich die Staatssekretärin im Gesundheitsministerium Dominique Gillot ausdrückte. Die Maßnahme zielt darauf ab, den klinischen Einsatz von genetischen Früherkennungstests für Brust-, Eierstock- und Dickdarmkrebs vorzubereiten. Michel Goossens findet diese Entscheidung recht merkwürdig, „wenn man bedenkt, dass genetische Krebstests noch immer in den Kinderschuhen stecken. Die meisten krebsrelevanten Gene sind von amerikanischen Unternehmen patentiert worden. Die angekündigten Staatsgelder erwecken daher eher den Eindruck, als hätten sich die Krebsforschungszentren als erfolgreiche Lobbyisten betätigt.“

Wenig Interesse zeigen die zuständigen Stellen hingegen an den monogenetischen Erbkrankheiten, obwohl es hier schon ausgereifte Testverfahren gibt. In der Praxis führt dies zu ungleichen Zugangschancen. „Unsere begrenzten Mittel zwingen uns, allzu kostspielige Testanträge abzulehnen, vor allem im Bereich der so genannten vergessenen Krankheiten“, bedauert Michel Goossens. „Dabei wird die Diagnostik hier immer wichtiger, um die Therapie in geeigneter Weise abzustimmen“, meint auch Éric Molinié, der Vorsitzende der Französischen Vereinigung gegen Myopathien (AFM). Als Beispiel verweist er auf die Duchenne-Muskeldystrophie: „Wenn man bedenkt, dass als Ursache 95 verschiedene Mutationen in Frage kommen, hat man eine Vorstellung von dem erforderlichen gendiagnostischen Aufwand.“

Die Diskrepanz zwischen der Behutsamkeit der Genetiker, denen vor allem aussagekräftige Testverfahren und strenge Interpretationskriterien am Herzen liegen, und der Eile der Privatwirtschaft, die nur den riesigen Markt für genetische Diagnostik im Auge hat, könnte größer nicht sein. Ein Instrumentarium, mit dem sich angeblich das „biologische Schicksal“4 des Einzelnen aufklären lässt, wird in der Öffentlichkeit aller Voraussicht nach auf fasziniertes Interesse und große Nachfrage stoßen. Überdies, so erfährt man aus einer Publikation der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft mit dem viel sagenden Titel „Gentechnik und Haftpflichtversicherung. Die Macht der öffentlichen Wahrnehmung“, ist es „für das künftige Risikoprofil der Gentechnik [...] nicht entscheidend, ob sie gefährlich ist oder nicht, sondern als wie gefährlich sie angesehen wird“. Die diagnostische Treffsicherheit eines Tests ist für die Privatwirtschaft von untergeordneter Bedeutung; Hauptsache, es gelingt, den Schein zu wahren – und zu verkaufen.

Mit Hilfe des genanalytischen Instrumentariums werden die Menschen kästchenweise sortiert, wobei bisher unsichtbare Unterschiede offenbar gemacht werden. „Anhand dieser Unterscheidungsmerkmale lässt sich nun feststellen, welche Personen eine besonders starke Veranlagung für bestimmte Krankheiten haben. Sie dürften in Zukunft von Geburt an durch höhere Versicherungsprämien bestraft werden“, befürchtet der an der University of Chicago lehrende Ökonom Pierre-André Chiappori.5

Die Genomforschung zerstört, was bisher eine größtmögliche Risikostreuung ermöglicht hat: die Symmetrie des Nichtwissens zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer. Ungewissheit hat einen großen Vorteil: Sie lässt die Möglichkeit offen, sich zu versichern. „Das Glück besteht hier gerade im Stand der Unwissenheit. Sobald wir über Wissen verfügen, ist es zu spät“, resümiert Chiappori. „Nehmen wir einmal an, ein Test würde sich darauf beschränken, die Ausweglosigkeit einer Krankheit festzustellen: keine Vorbeugemaßnahmen, keine Therapie. In diesem Fall wäre der Test dem Gemeinwohl nur abträglich.“ Überdies steht zu erwarten, dass mit „guten Genen“ ausgestattete Personen ihre Vorzüge geltend machen. Etwa indem sie sich in einem, wie Professor Axel Kahn es formuliert, „Freundschaftsverein der genetisch korrekten Menschen“6 organisieren und ihre eigene Krankenversicherung inklusive „genetischem Beschäftigungsausweis“ aufbauen.

Auch die Versicherungswirtschaft selbst ist in Gefahr. Eine präzisere Risikoabschätzung nützt in Wirklichkeit weder dem Versicherer noch dem Versicherungsnehmer, da die Versicherungsprämie in diesem Fall in so exorbitante Höhen steigen kann, dass der Versicherungswillige von einem Vertragsabschluss Abstand nimmt. „Genetische Personendaten dürfen beim Abschluss von Versicherungsverträgen keine Rolle spielen. Darüber hinaus sollten wir auch die derzeitige Praxis revidieren und Fragen zu familiären Vorbelastungen untersagen“, meint Claude Henry vom Institut für Ökonometrie an der École Polytechnique von Paris. Nur so lasse sich verhindern, dass die Assekuranz völlig aus den Fugen gerät.

Optimistisch äußert sich hingegen André Chuffart, Versicherungsmathematiker, Direktoriumsmitglied der Schweizerischen Rückversicherungs-Gesellschaft und Präsident des Bioethik-Ausschusses der europäischen Versicherer-Vereinigung Comité Européen des Assurances (CEA). Er meint eher positive Entwicklungen zu erkennen: „Derzeit lehnen wir bei Lebensversicherungen nur 1 Prozent der Anträge ab, und bei nur 3 bis 4 Prozent der Verträge verlangen wir erhöhte Prämien. Manche Versicherungsgesellschaften haben sich übrigens auf Krebskranke in Remission und ähnliche Fälle spezialisiert. Das eigentliche Problem ist nicht technologischer Art; es betrifft vielmehr die Frage, wie weit wir in die Privatsphäre der Menschen eindringen dürfen. Diese Frage stellt sich nicht nur bei Gentests, sondern bei allen funktionellen Untersuchungen wie Ultraschall, Koloskopie, Computertomographie usw.“7

Ungeachtet dessen gibt es neuere Entwicklungen, die sehr wohl beunruhigend sind. Im Februar dieses Jahres beispielsweise kündigte der französische Versicherer Axa an, er werde die Lebensversicherungsprämien von rund 7 000 Eltern behinderter Kinder verdoppeln. Die Öffentlichkeit reagierte empört, und der Versicherer musste sein Vorhaben einstweilen zurückstellen.

Die Tendenz, „minderwertige Gene“ sozial zu ächten und zu bestrafen, ist nicht von der Hand zu weisen. In Frankreich könnte sich diese Entwicklung gefährlich verschärfen, wenn die Krankenversicherung wie in den Vereinigten Staaten privatisiert werden sollte. Allgemein erschwingliche medizinische Leistungen und Gewinnstreben schließen sich nun einmal aus. Schon heute leiden Krebskranke, HIV-Positive und andere Patienten in Remission unter enormen finanziellen Belastungen. „Nur die Politik kann verhindern, dass unsere ungleichen biologischen Startchancen durch soziale und wirtschaftliche Ungleichheit noch verstärkt werden“, schreibt Fabienne Daull vom Zentrum für Bioethik an der Katholischen Universität von Lyon.8

Der Staatsrat jedoch findet sich in seinen oben zitierten Verlautbarungen mit dem Primat wirtschaftlicher Überlegungen ab und fördert damit indirekt die Normierung sowie die Ausgrenzung der sozial Schwachen durch finanzielle Mehrbelastung. Schon müssen Ärzte mit Prozessen rechnen, wenn sie fehlerhafte Prognosen über die genetische Gesundheit ungeborenen Lebens abgeben. Klagepunkt: „inakzeptables Leben oder inakzeptable Geburt“. Nach Ansicht von Thomas Tursz, Biomediziner und Direktor des Institut Gustave Roussy, „stellen solche Prozesse für die Versicherungen ein weiteres Risiko dar. Die Rückversicherer bilden Rücklagen in Milliardenhöhe, um die Unwägbarkeiten der Biotechnologie abzudecken.“

Machen wir uns nichts vor, die Firmen, die gentechnische Anwendungen entwickeln, sind in keiner Weise Herren der Lage. „Gewaltige Summen werden in diese Technologien investiert. Was bleibt angesichts der Finanzmacht der wirtschaftlichen Entscheidungsträger von der Unabhängigkeit der Forscher?“, fragt der Philosoph und Biologe Michel Tibon-Cornillot von der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Eines steht jedenfalls fest: Wenn sich die beteiligten Wissenschaftler und politischen Entscheidungsträger nicht für die Verwendung der gentechnischen Entwicklungen verantwortlich fühlen, negieren sie letztendlich, dass menschliche Solidarität, die Achtung der Privatsphäre und der Schutz sozial Schwacher absoluten Vorrang haben gegenüber wirtschaftlichen Interessen. Sie akzeptieren, dass die Biotechnologen eine Biokratie etablieren, die sich selbst auf unsere Abstammung und unsere persönlichen Bindungen erstreckt.

dt. Bodo Schulze

* Dorothée Benoit Browaeys ist Wissenschaftsjournalistin, Jean-Claude Kaplan ist Professor für Biochemie und Molekularbiologie an der Medizinischen Fakultät Cochin-Port-Royal (Paris).

Fußnoten: 1 Abnahme der Sauerstoffmenge im Blut. 2 „Les lois de bioéthique: cinq ans après“, Rapport du Conseil d'État, Paris (La Documentation française) November 1999. 3 „La Génétique moléculaire médicale en France. Réflexion critique et prospective“, Weißbuch der Association nationale des praticiens de génétique moléculaire (ANPGM), Dezember 1998. 4 Merkwürdigerweise betrachtet der Staatsrat medizinische Tests als Instrumentarium zur „möglichen Erkundung des biologischen Schicksals“. Dabei hatte die Bioethik-Kommission in ihrem Bericht „Recherche biomédicale et respect de la personne humaine“ vom Dezember 1987 betont, dass die biologische Identität des Menschen zwar „unveräußerlich im Genom wurzelt, aber nicht völlig eindeutig und mechanisch von ihm bestimmt wird. Der Mensch zeichnet sich durch die wunderbare Fähigkeit zur Entwicklung neuer Fähigkeiten aus.“ 5 Pierre-André Chiappori, „Risque et assurance“, Paris (Flammarion, coll. „Dominos“) 1996. 6 Axel Kahn, „Et l'Homme dans tout ça?“, Paris (Nil Éditions) 2000. 7 André Chuffart, „Genetics and Life Insurance. A Few Thoughts“, 27. Februar 1997, Compagnie suisse de réassurance, Zürich (internes Papier). 8 Fabienne Daull in „Oncogénétique. Vers une médecine de présomption/prédiction“ (Hg. Yves-Jean Bignon), Lavoisier (coll. „Technique & Documentation“), Paris (Editions médicales internationales) 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2000, von DOROTHÉE BENOIT BROWAEYS und JEAN-CLAUDE KAPLAN