16.06.2000

Lynchjustiz fürs Familienalbum

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Lynchjustiz fürs Familienalbum

Im voll besetzten Gerichtssaal von Chattanooga widerrief Richter Douglas A. Meyers am 27. Februar 2000 das im Vergewaltigungsprozess gegen Ed Johnson vor 94 Jahren ergangene Todesurteil. Die späte Rehabilitierung des jungen Schwarzen gereicht der amerikanischen Justiz zur Ehre. Damals hatte das Oberste Berufungsgericht die Entscheidung der ausnahmslos weißen Geschworenen bestätigt, und Ed Johnson blieb keine Zeit, seine Rechte voll auszuschöpfen. In der Nacht zum 19. März 1906 holten ihn einige ortsansässige Weiße aus seiner Zelle, schleiften ihn durch die Straßen der Stadt bis zur Brücke, die über den Tennessee führt, erhängten ihn und durchsiebten seinen Leichnam mit zahllosen Kugeln. Ein ähnliches Schicksal ereilte – laut Angaben der University of Tuskegee, Alabama – zwischen 1882 und 1968 insgesamt 4 742 Schwarze, von denen rund die Hälfte in den Südstaaten Mississippi, Georgia, Texas, Alabama und Louisiana lebten.

Seit Anfang des Jahres vergegenwärtigt eine Ausstellung der Roth-Horowitz-Galerie in New York diese schwarzweiße Vergangenheit, die unter der glänzenden Oberfläche des modernen Amerika fortschwelt. Zu sehen sind Fotos und Postkarten von Lynchmorden, die zwischen 1883 und 1960 mehrheitlich – aber nicht ausschließlich – in den Südstaaten verübt wurden. Gleichzeitig erschien unter dem Titel „Without Sanctuary“ ein Bildband zum Thema mit Aufsätzen von Historikern und Politikern.1 Die rund sechzig Abzüge, die aus amerikanischen Familienalben stammen und von staubigen Speichern geholt worden sind, zeigen die schwarzen Opfer, gemarterte Körper, misshandelt, gefoltert, ausgepeitscht, die Kehle durchschnitten, verstümmelt, bei lebendigem Leibe verbrannt. Und stets ist die schaulustige Menge zu sehen, wie sie neben den Gehenkten posiert, mit strahlenden oder gleichgültigen Gesichtern, mit der Zufriedenheit von Leuten, die ihre Pflicht erfüllt haben. Offen blicken sie in die Kamera, ihrer Straffreiheit sicher. Und zu Komplizen machen sich die Fotografen, die auf ein Gerücht hin oder von der Presse benachrichtigt herbeigeeilt sind und ihre mobilen Dunkelkammern am Ort des Geschehens aufgebaut haben, um den Mob sogleich mit Abzügen versorgen zu können. „Das ist unser Barbecue von gestern Abend“, schrieb ein gewisser Joe an seine Eltern. Die Postkarte zeigt die verbrannten Überreste des 17-jährigen Jesse Washington, der im Mai 1916 in Robinson (Texas) erhängt wurde. Als aufmerksamer Sohn ließ es sich Joe nicht nehmen, seine Anwesenheit mit einem „Kreuz links neben dem Galgen“ zu markieren.

Für die Weißen im Süden, die durch ihre Angst und ihren Hass auf die in die Freiheit entlassenen „Neger“ zusammengeschweißt wurden, waren diese Lynchmorde jedesmal ein wildes Fest, von dem manch einer ein Andenken mit nach Hause trug: ein Foto, eine Handvoll Haare, ein Finger- oder Zehenglied, einen Fetzen Haut, aus der Trophäe herausgeschnitten. Sadismus und Grausamkeit ergänzten das ohnehin rassistische Rechtsverständnis. In den zwanzig Jahren nach der Befreiung der rund vier Millionen Sklaven im Jahr 1863 und dem Ende des Bürgerkriegs, der einen verwüsteten und gedemütigten Süden zurückließ, explodierte die Gewalt förmlich. Die Schwarzen, bis dahin einigermaßen geschützt durch ihren Status als „Investitionsgut“, wurden fortan als Bedrohung für die weiße Gesellschaft wahrgenommen. Sie zu lynchen galt als Mittel der Kontrolle durch Terror.

„Die Öffentlichkeit“, so schreibt der in Berkeley lehrende Historiker Leon Litwack in „Without Sanctuary“, „hatte damals kein Problem damit, die Gräueltaten als Mittel zur Aufrechterhaltung der etablierten Gesellschafts- und Rassenordnung zu rechtfertigen, im Namen der Reinhaltung der angelsächsischen Rasse.“

Doch nicht nur im Namen der weißen Rasse im Allgemeinen wurde von Florida bis Texas gemordet und verstümmelt, sondern speziell auch, um die Ehre der weißen Frau wiederherzustellen, die man ob der vorgeblich ungezügelten Sexualität der Schwarzen in ständiger Gefahr wähnte. Die Ansicht, dass die Lynchjustiz an Schwarzen nur eine Reaktion auf die Ermordung oder Vergewaltigung weißer Frauen sei, hat in den Südstaaten eine lange Tradition. Dabei wurden zwischen 1882 und 1927 nicht weniger als 92 schwarze Frauen und Kinder gelyncht. Die Ausstellung belegt dies unter anderem mit einem Foto von Laura Nelson. Sie wurde zusammen mit ihrem 14-jährigen Sohn 1911 an einer Brücke in Oklahoma erhängt, weil sie sich schützend vor ihr Kind gestellt hatte.

Oft genügte es, die Überlegenheit der Weißen in Zweifel zu ziehen. Ein Streit, ein Schimpfwort, eine belastende Zeugenaussage vor Gericht konnte den Tod am Galgen nach sich ziehen. Rufus Moncrief etwa hatte sich geweigert, vor einem Weißen den Hut zu ziehen; er wurde gefoltert und mit seinem Hund an einem Baum erhängt.

Gewiss, es wurden auch Weiße gelyncht – die meisten in den westlichen Bundesstaaten – doch wie Leon Litwack hervorhebt, waren die Opfer, denen größtenteils Mord oder Viehdiebstahl zur Last gelegt wurde, zumindest eindeutig überführt. Demgegenüber belegt eine 1933 erschienene Untersuchung2 von einhundert Lynchmorden an Schwarzen, dass ein Drittel der Opfer nachweislich unschuldig war – und dass die Polizei den Mob in der Hälfte der Fälle aktiv unterstützt hat.

Ob der Lynchjustiz eine Gerichtsverhandlung vorausging oder nicht, ist aus zwei Gründen völlig unwichtig: Zum einen war das Gerichtsverfahren im Allgemeinen eine reine Farce, weil das Urteil der weißen Jury von vornherein feststand, und zum anderen kümmerte sich die Menge wenig um den Urteilsspruch des Gerichts – wenn sie ihm nicht gar zuvorkam. Sie wollte Selbstjustiz, und so zögerte sie bisweilen nicht, den Angeklagten aus seiner Zelle zu zerren und zu tun, was sie für richtig hielt – in vielen Fällen im Beisein des Sheriffs, der aus seinem Einverständnis kein Hehl machte. Auch darauf wies Richter Meyers aus Chattanooga hin, als er Ed Johnson ein knappes Jahrhundert nach seiner Verurteilung rückwirkend freisprach: „Die weiße Gemeinschaft brauchte eine schwarze Leiche, und dabei war es ihr völlig gleichgültig, ob die betreffende Person das Verbrechen tatsächlich begangen hatte.“

Am meisten gefährdet waren Schwarze, die ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern suchten, die sich Kenntnisse aneigneten, ein Feld oder eine Farm erwarben und sich aktiv am politischen Leben beteiligten. „Wenn ein Schwarzer sich Gedanken macht, ist es das Beste, man bringt ihn schnellstmöglich unter die Erde“, verkündete ein Abgeordneter aus Mississippi.

Dass die alte Rassenordnung fortbestehen sollte, darin waren sich die oberen Gesellschaftsschichten mit den „Rednecks“ einig. Und wenn Erstere bisweilen Anwandlungen von Mitgefühl zeigten, so deshalb, weil sie sich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung weniger bedroht fühlten als die kleinen Grundbesitzer, die Farmer und Landarbeiter, die sich mit ihrer Arbeit in unmittelbarer Konkurrenz zu den ehemaligen Sklaven befanden. Es brauchten nur die Baumwollpreise zu sinken, und schon stieg die Zahl der Lynchmorde.

Nachdem der Republikaner Rutherford B. Hayes 1877 die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, dauerte es nicht lange, bis der Süden die umfassenden Gleichstellungsgesetze aus der Zeit der Wiedereingliederung der Südstaaten in die Union (1866-1875) abgeschafft und durch neue Regelungen ersetzt hatte, die die Schwarzen abermals zu Bürgern zweiter Klasse herabstuften und ihre Rechte drastisch einschränkten. „Die Weißen können in diesem Land nicht mehr leben, wenn wir es zulassen, dass die Schwarzen sozial aufsteigen“, erklärte in aller Offenheit ein Zeuge während einer Gerichtsverhandlung gegen einen Schwarzen. Schritt für Schritt setzten sich Segregation und Diskriminierung in sämtlichen US-Bundesstaaten durch, vor allem aber in den vormals konföderierten Südstaaten, in denen 80 Prozent der schwarzen Bevölkerung lebten. Es war die Zeit der „Jim Crow“-Gesetze, benannt nach einer Tanz- und Gesangsdarbietung von Thomas Dartmouth „Daddy“ Rice, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Vereinigten Staaten tourte und zur Erheiterung des weißen Publikums mit schwarz angemaltem Gesicht einen älteren Schwarzen namens Jim Crow nachäffte, den er in Louisville (Kentucky) beobachtet hatte.

Neue Welle der Gewalt in den Sechzigerjahren

IM Fall Ed Johnson leitete der Oberste Gerichtshof ein Strafverfahren gegen den örtlichen Sheriff ein und verurteilte ihn wegen Pflichtverletzung im Amt, weil er seinen Häftling nicht geschützt hatte. Es war das erste und einzige Mal, dass die Bundesjustiz in einem solchen Fall intervenierte. Die örtlichen Gerichte entschieden bei Lynchmordprozessen im Allgemeinen darauf, die Täter seien „unbekannt“, obwohl Letztere weder ihr Gesicht noch ihre Identität zu verbergen suchten. Zumal auf den einschlägigen Postkarten, deren Beförderung die Bundespost im Jahre 1908 schließlich verweigerte, waren sie deutlich zu erkennen. Doch wen sollte man verurteilen, wenn sich eine ganze Gemeinschaft als Mittäter entpuppt und die Presse herausstreicht, was für ehrbare Bürger und prominente Mitglieder der örtlichen Gesellschaft die Mörder seien? „In Paris (Texas) lieferten die Gesetzesvertreter den Häftling der Menge aus. Der Bürgermeister gab den Kindern schulfrei, und die Eisenbahnverwaltung stellte einen Sonderzug bereit, damit die Leute dabei sein können, wenn ein Mensch bei lebendigem Leibe verbrannt wird“, schreibt 1900 die Bürgerrechtlerin Ida B. Wells.

Nach der Jahrhundertwende schlossen sich ihrem Kreuzzug gegen das „Gesetz, das keinen Namen trägt“, mehr und mehr Bürger an. 1909 wurde die „National Association for the Advancement of Colored People“ gegründet. Im Mai 1921 stellten sich in Tulsa (Oklahoma) einige Schwarze schützend vor einen Schuhputzer, der von der Menge – nicht aber vom angeblichen weißen Opfer – der Vergewaltigung bezichtigt wurde. Der versuchte Lynchmord weitete sich zum Aufstand aus, der Ku Klux Klan wütete im schwarzen Wohngebiet von Greenwood. Die Behörden bezifferten die Anzahl der Toten damals auf 35; heute weiß man, dass 300 Menschen den Tod fanden, darunter 32 Weiße.

Von 1923 an sank die Zahl der Lynchmorde langsam, schreibt Robert A. Gibson vom Teachers Institute der Yale University3 . Im Vorjahr hatte das Repräsentantenhaus versucht, ein Gesetz gegen Lynchmorde durch den Kongress zu bringen (Dyer Anti-Lynching Bill), war aber am Widerstand des Senats gescheitert. Immerhin trugen die Parlamentsdebatten dazu bei, das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu schärfen. Die gesellschaftliche Elite bekundete ihren Abscheu, einige Frauen gründeten 1930 in Atlanta die „Association of Southern Women for the Prevention of Lynching“, und die entstehende schwarze Presse startete, unterstützt von der Chicago Tribune und anderen großen Tageszeitungen, eine Kampagne gegen die Lynchjustiz. Gleichzeitig verließen viele Schwarze die Südstaaten, wo die meisten Lynchmorde verzeichnet wurden, um sich im industrialisierten Norden der Vereinigten Staaten niederzulassen. Über eine Million packten zwischen 1910 und 1920 ihre Koffer. In den Zwanzigerjahren waren es jährlich noch einmal rund 70 000.

Nachdem die Zahl der Lynchmorde im Laufe der Vierzigerjahre drastisch zurückgegangen war, schwappte gegen Ende der Fünfzigerjahre abermals eine Welle des Terrors über die Südstaaten, eine Reaktion auf die beginnende Bürgerrechtsbewegung. Zwischen 1961 und 1965 wurden Leon Litwack zufolge 21 (schwarze) Bürgerrechtler ermordet, ohne dass ein einziger der (weißen) Täter verurteilt worden wäre. Die weiße Gemeinschaft hieß diese Verbrechen zwar nicht mehr gut, gab sich aber alle Mühe, sie möglichst schnell zu vergessen. „Für die Mehrheit der weißen Amerikaner gehören Lynchmorde fast schon in den Bereich der Literatur“, erklärt der Antiquitätenhändler James Allen aus Atlanta, der die Fotodokumente für „Without Sanctuary“ in fünfzehnjähriger Kleinarbeit zusammengetragen hat. „Das sind keine Dinge, die man in der Schule lernt. Ich habe übrigens beobachtet, dass die weißen Besucher keinen Unterschied machen zwischen einem rassistischen Verbrechen und einem Lynchmord: Dabei setzt ein Lynchmord die Komplizenschaft der ganzen Gemeinschaft voraus. Die afroamerikanischen Ausstellungsbesucher hingegen können nun mit dem Albtraum, der ihre Vorfahren plagte, konkrete Bilder verbinden. Die amerikanische Gesellschaft darf diese Fotos nicht als private Sammlung verstehen, denn dieses abscheuliche Erbe betrifft die ganze Nation.“

Hilton Als, Schriftsteller und Mitarbeiter des New Yorker, schreibt in „Without Sanctuary“: „Diese Fotos zeigen ein Amerika, das von seinen Negern besessen ist – eine Besessenheit, die von Schwarzen und Weißen geteilt wird. Wie oft habe ich als Staatsbürger nachts den Bürgersteig gewechselt, nur um eine mir entgegenkommende weiße Frau nicht zu erschrecken. [...] Lauter Vorsichtsmaßnahmen, nur um die Weißen nicht durch mein bloßes Dasein zu ängstigen.“

dt. Bodo Schulze

* Journalistin, New York.

Fußnoten: 1 James Allen und Leon F. Litwack, „Without Sanctuary. Lynching photography in America“, Santa Fé, New Mexico (Twin Palms Publishers) 2000. Fotos siehe www.journale.com/withoutsanctuary 2 Artur F. Raper, „The Tragedy of Lynching“, New York (Dover Publication) 1970, Erstausgabe 1933. 3 „The Negro Holocaust: Lynching and Race Riots in the United States, 1980-1950“, http://www.yale.edu/ynhti/curriculum/units/1979/2/79.02.04.x.html

Le Monde diplomatique vom 16.06.2000, von ANNE CHAON