11.08.2000

Das Besorgnis erregende Konzept vom Schurkenstaat

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Das Besorgnis erregende Konzept vom Schurkenstaat

IM Juni hat das US-Außenministerium den Ausdruck „Schurkenstaat“ aus seinem diplomatischen Wortschatz gestrichen. An seine Stelle ist der Begriff „state of concern“ getreten (Besorgnis erregender Staat), was nunmehr ein flexibleres Vorgehen gegenüber solchen Staaten gestattet. Der alte Begriff „rogue state“, den man auch mit Banditen- oder Pariastaat übersetzen kann, war für eine scharf umrissene Gruppe von sieben Staaten reserviert (nämlich Nordkorea, Kuba, Irak, Iran, Libyen, Sudan und Syrien). Diese Staaten unterstützen nach Auffassung der US-Regierung den Terrorismus und wurden bzw. werden deshalb von den USA einseitig mit Sanktionen belegt.

Von NOAM CHOMSKY *

Das Konzept des „Schurkenstaates“1 hat für die politische Analyse und die perspektivische Planung eine herausragende Rolle gespielt. Die Irak-Krise ist in dieser Hinsicht nur das bekannteste Beispiel.2 Washingon und London haben den Irak zum „rogue state“ erklärt, der für seine Nachbarn und die ganze Welt eine Bedrohung darstelle. Dieser „geächtete Staat“, an dessen Spitze ein Wiedergänger Hitlers stehe, müsse entsprechend von den Hütern der neuen Weltordnung – den Vereinigten Staaten und deren Juniorpartner Großbritannien – in Schach gehalten werden. Der interessanteste Punkt an der ganzen Debatte über die Irak-Krise ist zweifellos die Tatsache, dass sie niemals stattgefunden hat. Über diese Krise wurde zwar viel geredet, auch gab es Kontroversen darüber, was zu unternehmen sei. Aber die Diskussion bewegte sich in engen Grenzen, und die eigentlich selbstverständliche Antwort war von vornherein ausgeschlossen: dass nämlich die Vereinigten Staaten und Großbritannien in Übereinstimmung mit dem Gesetz und den internationalen Verträgen, die sie unterzeichnet haben, zu handeln haben.

Den entsprechenden gesetzlichen Rahmen formuliert die Charta der Vereinten Nationen, ein „feierlicher Vertrag“, der nicht nur als Grundlage des internationalen Rechts und der Weltordnung allgemein anerkannt ist, sondern auch von der Verfassung der USA als „das höchste Gesetz des Landes“ gewürdigt wird. In der UN-Charta heißt es: „Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen aufgrund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.“ Wobei Artikel 41 die präferierten Maßnahmen „unter Ausschluß von Waffengewalt“ aufzählt, während Artikel 42 dem Sicherheitsrat das Recht einräumt, weiter gehende Schritte zu unternehmen, wenn er die besagten Maßnahmen für unzulänglich hält.

Die einzige Ausnahme wird in Artikel 51 formuliert, der jedem Staat das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ gegen einen „bewaffneten Angriff“ zugesteht, und zwar „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Von diesen Ausnahmen abgesehen, sollen die UN-Mitgliedstaaten „in ihren internationalen Beziehungen (...) jede Androhung oder Anwendung von Gewalt“ unterlassen.

Es gibt legitime Methoden, auf die vielfältige Bedrohung des Weltfriedens zu reagieren. Wenn sich die Nachbarn des Irak bedroht fühlten, so konnten sie vom UN-Sicherheitsrat fordern, geeignete Maßnahmen zur Abwehr der Bedrohung zu autorisieren. Dasselbe können die USA und Großbritannien tun, wenn sie sich bedroht fühlen. Aber kein Staat ist autorisiert, in einer solchen Angelegenheit allein zu entscheiden oder zu handeln. Auch die USA und Großbritannien bilden da keine Ausnahme – zumal sie selbst nicht mit weißer Weste dastehen.

„Schurkenstaaten“ wie der Irak des Saddam Hussein, aber auch die USA akzeptieren diese Bedingungen nicht. Bei einem der ersten irakisch-amerikanischen Konflikte wurde die Position der Vereinigten Staaten von der heutigen Außenministerin und damaligen UN-Botschafterin Madeleine Albright unverblümt zum Ausdruck gebracht. Sie erklärte gegenüber dem UN-Sicherheitsrat, die USA würden „multilateral reagieren, wenn wir können, und unilateral, wenn wir müssen“. Die Begründung lautete: „Wir erachten die gesamte Region des Nahen Ostens als lebenswichtig für die nationalen Interessen der USA“, deshalb könne Washington keine äußeren Beschränkungen hinnehmen.

Frau Albright wiederholte diese Position, als UN-Generalsekretär Kofi Annan im Februar 1998 nach Bagdad reiste, um die Irak-Krise auf diplomatischem Wege zu entschärfen. Damals sagte sie: „Wir wünschen ihm alles Gute, und wenn er zurückkommt, werden wir sehen, was er mitgebracht hat und wie es mit unseren nationalen Interessen übereinstimmt.“ Als Annan dann mitteilte, er habe ein Abkommen mit Saddam Hussein erzielt, kündigte Präsident Clinton ganz im Stile von anderen gewaltbereiten und gesetzlosen Staaten an, wenn der Irak die Kriterien Washingtons nicht erfülle, „würde jedermann verstehen, dass dann die USA und hoffentlich alle unsere Verbündeten das einseitige Recht hätten, zu einer Zeit, an einem Ort und in einer Weise zu reagieren, die wir selbst bestimmen können“.

Der UN-Sicherheitsrat begrüßte einstimmig das von Annan erzielte Abkommen und wies die Forderungen von Washington und London zurück, sie zum Einsatz von Gewaltmitteln zu autorisieren, falls sich Saddam nicht an das Abkommen halte. Die UN-Resolution drohte nur mit „sehr ernsten Konsequenzen“, ohne sie jedoch näher zu spezifizieren. In dem entscheidenden letzten Absatz beschloss der Sicherheitsrat, „in Übereinstimmung mit den Verantwortlichkeiten nach der Charta, mit der Angelegenheit aktiv befasst zu bleiben, um die Durchführung dieser Resolution zu garantieren und Frieden und Sicherheit in der Region zu gewährleisten“. Befasst bleiben sollte also der Sicherheitsrat, und niemand anderes – in Übereinstimmung mit der UN-Charta.3

In Washington wurden diese eindeutig formulierten Texte völlig anders gelesen. Bill Richardson, der UN-Botschafter der USA, bekräftigte, dass „das Abkommen den einseitigen Einsatz von Gewaltmitteln“ nicht ausschließe und dass sich die USA ihr legales Recht vorbehielten, Bagdad anzugreifen, wann immer sie das für richtig halten. Präsident Clinton wiederum erklärte, die Resolution „verleihe ihm die Befugnis zu handeln“ – und zwar mit militärischen Mitteln, wie sein Pressesprecher präzisierte –, falls der Irak das Abkommen nicht zur Zufriedenheit der USA erfülle.

Für einige Kongressabgeordnete hielt sich diese Position noch immer zu eng an die feierlichen Verpflichtungen internationalen und nationalen Rechts. Trent Lott, der Führer der republikanischen Mehrheitsfraktion im US-Senat, warf der Regierung vor, sie habe ihre Außenpolitik „an andere delegiert“ – womit er den UN-Sicherheitsrat meinte. Und Senator John Kerry meinte, es wäre „legitim“ für die USA, einfach in den Irak einzumarschieren, falls Saddam „unnachgiebig bleibt und die UN-Resolutionen verletzt“.

Die Missachtung rechtsstaatlicher Regeln hat in der praktischen Politik wie in der intellektuellen Kultur der USA eine lange Tradition. Man erinnere sich nur an die Reaktion auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofes (IGH) von 1986, das die USA wegen ihres „unrechtmäßigen Einsatzes von Gewaltmitteln“ gegen Nicaragua verurteilte und aufforderte, ihre Aktionen einzustellen und umfassende Reparationen zu zahlen.4

Angriff ist die beste Verteidigung

NACH diesem Urteil bekam der Gerichtshof von allen Seiten zu hören, er habe sich selbst diskreditiert. Die Urteilsbegründung galt in den USA als nicht publikationsfähig und wurde schlicht ignoriert. Der Kongress genehmigte mit seiner demokratischen Mehrheit umgehend weitere Gelder, um den unrechtmäßigen Einsatz von Gewaltmitteln noch zu verstärken. Außenminister George Shultz erklärte unterdessen am 14. April 1986: „Das Wort Verhandlungen ist nur eine freundliche Umschreibung für Kapitulation, wenn kein Schatten der Macht auf den Verhandlungstisch fällt.“ Und er verurteilte die Stimmen, die „utopische, legalistische Mittel befürworten, etwa eine Vermittlung von außen, eine Rolle der Vereinten Nationen oder des Internationalen Gerichtshofes, und die damit den Faktor Macht in der Gleichung unbeachtet lassen“.

Besonders entlarvend ist dabei die offene Missachtung von Artikel 51 der UN-Charta. Sie trat anlässlich des Genfer Abkommens von 1954 deutlich zutage, das die friedliche Beilegung des Indochina-Konfliktes brachte. Washington sah in diesen Abmachungen eine „Katastrophe“ und machte sich unverzüglich daran, sie zu untergraben. Der Nationale Sicherheitsrat befand damals in einem geheimen Dokument, die USA würden selbst in einem Fall, wo „die örtliche Subversion oder Rebellion kommunistischer Kräfte keinen bewaffneten Angriff darstellt“, den Einsatz militärischer Gewaltmittel in Betracht ziehen, einschließlich eines Angriffs auf China, wenn sich das Land „als Ausgangspunkt der Subversion“ erweise. In dem Dokument wird gefordert, Japan wieder aufzurüsten sowie Thailand zum „Brennpunkt der verdeckten und psychologischen Operationen in Südostasien und insbesondere in Indochina“5 (also speziell in Vietnam) zu machen. In der Folge fassten die USA den Begriff Aggression so weit, dass auch „politischer Krieg oder Subversion“ (natürlich auf Seiten der anderen) darunter fiel. Dies entspricht in etwa Adlai Stevensons Begriff der „innenpolitischen Aggression“, mit dem die von Präsident John F. Kennedy angeordnete Eskalation zum umfassenden Angriff im Süden Vietnams verteidigt wurde.6

Um die US-amerikanische Invasion in Panama im Dezember 1989 zu verteidigen, berief sich US-Botschafter Pickering vor dem UN-Sicherheitsrat auf Artikel 51 der UN-Charta, der (so wörtlich) „uns den Einsatz von Waffengewalt zur Verteidigung eines Landes ermöglicht, zur Verteidigung unserer Interessen und unseres Volkes“. Die USA hätten also das Recht, in Panama einzumarschieren, um zu verhindern, dass das Land „als Basis für den Drogenschmuggel in die Vereinigten Staaten genutzt wird“. Sogar die aufgeklärtere Öffentlichkeit hat diese Position zustimmend kommentiert.

Im Juni 1993 befahl Präsident Clinton einen Raketenangriff auf den Irak, bei dem Zivilisten getötet wurden. Der Kongress war begeistert, und auch die US-Presse fand den Angriff „angemessen, vernünftig und notwendig“. Besonders beeindruckt waren die Kommentatoren von der Tatsache, dass sich Madeleine Albright, die damalige UN-Botschafterin der USA, auf Artikel 51 der UN-Charta berief. Demnach erfolgten die Bombardierungen „in Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff“ – sprich gegen den angeblichen Attentatsversuch, der zwei Monate vorher dem früheren Präsidenten Bush gegolten haben soll. Die Presse wurde von anonym gebliebenen Vertretern der US-Regierung darüber informiert, „dass die Feststellung der irakischen Schuld eher auf Indizienbeweisen und Analysen als auf hieb- und stichfesten Erkenntnissen beruht“. Was die Presse nicht daran hinderte, die Berufung auf Artikel 51 einhellig zu begrüßen. Der britische Außenminister Douglas Hurd erklärte damals vor dem Parlament, nach Artikel 51 könne ein Staat „in Selbstverteidigung gegen die Bedrohung eines seiner Staatsangehörigen“ zum Mittel der Gewalt greifen. Damit unterstützte er Clintons These von der „gerechtfertigten und angemessenen Ausübung des Rechtes auf Selbstverteidigung“.

Die hier dargestellte Bilanz rechtfertigt durchaus die verbreitete Angst vor „Schurkenstaaten“, die auf gewaltsame Methoden setzen und sich dabei in ihren Aktionen auf das „nationale Interesse“ berufen, das durch die innenpolitischen Machtverhältnisse diktiert ist. Diese Angst ist zumal gegenüber Staaten berechtigt, die sich selbst zum globalen Richter – und Scharfrichter – erklären (siehe dazu den Text von Eduardo Galeano auf Seite 8).

Das Konzept vom „Schurkenstaat“ entspringt der Auffassung, dass die USA auch nach dem Ende des Kalten Krieges noch immer in der Verantwortung stünden, die Welt zu schützen. Doch wovor? Seit Beginn der Achtzigerjahre war klar, dass die übliche Technik der Massenmobilisierung – im Sinne von Reagans „Reich des Bösen“ – an Wirksamkeit einbüßte. Also musste man neue Feinde finden, innen wie außen.7

An der inneren Front wurde die Angst vor der Kriminalität – insbesondere der drogenbezogenen – angeheizt durch „eine Reihe von Faktoren, die nichts oder nur wenig mit Verbrechen als solchen zu tun haben“, wie die National Criminal Justice Commission befand. Die Kommission hat dabei mehrere Faktoren im Auge: die Berichterstattung in den Medien, „die Rolle der Regierung und der Industrie, wenn es darum geht, die Angst der Bürger zu schüren“, die „Ausbeutung von latenten interethnischen Spannungen zu politischen Zwecken“, wobei in Strafjustiz und Strafvollzug systematische rassische Vorurteile herrschen, die die schwarzen Communitys zerstören und eine „Rassenspaltung“ erzeugen, welche für die Nation „die Gefahr einer sozialen Katastrophe“ mit sich bringe. Das Resultat dieser Entwicklung nennen Kriminologen „den amerikanischen Gulag“, oder „die neue amerikanische Apartheid“. Damit ist gemeint, dass Afroamerikaner heute mit rund zwei Millionen Häftlingen (!) erstmals in der Geschichte der USA die Mehrheit der Gefängnisinsassen ausmachen, ein Prozentsatz, der sieben Mal höher liegt als bei Weißen und der auch den Anteil bei Verhaftungen weit übersteigt, wobei die Schwarzen ohnehin häufiger ins Visier der Polizei geraten, vor allem bei Delikten wie Drogenkonsum oder Drogenhandel.8

Außerhalb der USA wurden als Hauptbedrohungen der „internationale Terrorismus“, die lateinamerikanischen Drogenhändler und – als allergefährlichste – „die Schurkenstaaten“ identifiziert. Eine geheime Studie des Strategic Command (die für das strategische Atomarsenal verantwortliche Institution) skizziert die grundlegenden Überlegungen. Diese Studie mit dem Titel „Essentials of Post-Cold War Deterrence“ (Grundsätze der Abschreckung nach dem Ende des Kalten Krieges) verrät laut AP, „wie die Vereinigten Staaten ihre Abschreckungsstrategie von der untergegangenen Sowjetunion auf die so genannten Schurkenstaaten wie Irak, Libyen, Kuba und Nordkorea verlagert haben“. In der Studie wird vorgeschlagen, die USA sollten sich mit Hinweis auf ihr nukleares Potential als eine Macht darstellen, „die sich irrational und rachsüchtig verhält, wenn sie ihre vitalen Interessen angegriffen sieht (...) Es ist abträglich, wenn wir uns als zu umfassend rational und kühl kalkulierend darstellen“ – oder gar als Leute, die sich an so dumme Dinge wie das Völkerrecht und vertragliche Verpflichtungen halten: „Die Tatsache, dass einige Elemente (der US-Regierung) den Eindruck erwecken, sie könnten potentiell ‚außer Kontrolle‘ geraten, mag insofern günstig sein, als sie bei gegnerischen Entscheidungsträgern Befürchtungen und Zweifel auslösen und verstärken können.“

Der Bericht greift damit auf Nixons „madman theory“ zurück: Unsere Feinde sollten davon ausgehen, dass wir von Sinnen und unberechenbar sind und über ein außerordentliches Destruktionspotential verfügen, also werden sie sich aus schierer Angst unserem Willen fügen. Dieses Konzept wurde offenbar in den Fünfzigerjahren in Israel entwickelt. Wie der damalige Ministerpräsident Mosche Scharett in seinem Tagebuch festhielt, hatten die politischen Führer der regierenden Arbeitspartei seinerzeit auf „Wahnsinnsakte“ gesetzt und angedroht, dass „wir durchdrehen werden“, wenn „uns jemand in die Quere kommt“. Diese „Geheimwaffe“ war übrigens teilweise auch gegen die USA gerichtet, die von den Israelis damals nicht als hinreichend zuverlässig eingeschätzt wurden. Wenn diese Methode heute von der einzigen Supermacht der Welt angewandt wird, die sich selbst als einen rechtlich ungebundenen Staat versteht, und ohne dass ihre Eliten sich weiter dagegen auflehnen würden, so stellt sie für den Rest der Welt ein ziemliches Problem dar.

Von den ersten Tagen der Reagan-Regierung an war Libyen der Schurkenstaat schlechthin. Die schwache und wehrlose Gaddafi-Republik bietet sich für den World Champion USA, wann immer nötig, als idealer Punchingball an. So wurde etwa die Bombardierung von Tripolis im Jahre 1986 zu einer medienpolitischen Weltpremiere, angesetzt zur besten Fernsehzeit, damit die Redenschreiber des „Großen Kommunikators“ Reagan die öffentliche Meinung für die terroristischen Angriffe der Vereinigten Staaten auf Nicaragua gewinnen konnte. Mit der Begründung, der „Erzterrorist“ Gaddafi habe „400 Millionen Dollar und massenhaft Waffen und Berater nach Nicaragua geschickt, um von dort den Krieg in die Vereinigten Staaten hineinzutragen“. Deshalb müssten die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung gegen den bewaffneten Angriff des nicaraguanischen Schurkenstaates wahrnehmen.

Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer, der jeden Verweis auf die sowjetische Bedrohung hinfällig machte, übermittelte die Bush-Regierung dem Kongress ihre alljährlichen finanziellen Anforderungen für einen gigantischen Rüstungshaushalt. Die Begründung lautete: „In einer neuen Ära (...) bezieht sich der Einsatz unserer militärischen Streitkräfte wahrscheinlich weniger auf die Sowjetunion als vielmehr auf die Dritte Welt, wo vielleicht neue militärische Fähigkeiten und Methoden erforderlich werden.“ Als größte Gefahr gelten die „wachsenden technologischen Fähigkeiten der Dritten Welt“, weshalb die USA „die Basis ihrer Verteidigungsindustrie“ stärken müssten. Auch müsse man Interventionsstreitkräfte unterhalten, insbesondere für den Nahen Osten, wo „die Bedrohung unserer Interessen (...) nicht mehr dem Kreml zugeschrieben werden kann“.

Dem Irak ließ sich „die Bedrohung unserer Interessen“ freilich auch nicht zuschreiben. Denn Saddam Hussein war damals noch ein gehätschelter Freund und Handelspartner. Das änderte sich erst einige Monate später, als Saddam die angedeutete Bereitschaft der USA, ihm eine gewaltsame Veränderung des irakisch-kuwaitischen Grenzverlaufs durchgehen zu lassen, als Erlaubnis zur Eroberung des Nachbarstaates missverstand.9 Womit er bloß nachahmte, was ihm die Vereinigten Staaten im Dezember 1989 in Panama vorgemacht hatten.

Als Schurke gilt, wer sich nicht fügt

HISTORISCHE Parallelen stimmen natürlich nie ganz. Als die USA sich teilweise aus Panama zurückzogen, nachdem sie ihre Marionette installiert hatten, herrschten Wut und Erbitterung in ganz Lateinamerika, Panama eingeschlossen. Diese Erbitterung erstreckte sich sogar fast auf die ganze Welt und zwang Washington, im UN-Sicherheitsrat sein Veto gegen zwei Resolutionen einzulegen, die zum einen „die flagrante Verletzung des Völkerrechts und der Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität von Staaten“ verurteilten, und zum anderen den Rückzug „der US-Invasionsstreitkräfte aus Panama“ forderten.

Auf Panama zurückblickend, erscheint es schon eigenartig, dass politische Analytiker wie Ronald Steel heute über das Rätsel nachsinnen, vor die USA angeblich stehen: „Der mächtigste Staat der Welt ist in seiner Freiheit, Gewalt anzuwenden, stärker eingeschränkt als jedes andere Land.“ Das erklärt wohl, warum Saddam Hussein in Kuwait so überaus erfolgreich war, während Washington seinen Willen nicht einmal dem kleinen Panama aufzwingen konnte!

Seit dem Golfkrieg hat der Irak den Iran und Libyen in der Rolle des führenden „Schurkenstaates“ abgelöst. Andere Staaten haben es nie zu diesem Titel gebracht. Der einschlägigste Fall ist womöglich Indonesien. Das Land mutierte 1965 mit der Machtübernahme von General Suharto vom Feind zum Freund. Unter seinem Befehl hatte ein ungeheures Gemetzel stattgefunden, das im Westen damals mit höchster Befriedigung registriert wurde.10 Seitdem war Suharto „our kind of guy“ (so eine Formel der Clinton-Regierung), obgleich er mörderische Attacken und endlose Grausamkeiten gegen sein eigenes Volk verübte. Allein in den Achtzigerjahren wurden nach Auskunft von Suharto persönlich 10 000 Indonesier umgebracht, und er merkt an, dass „die Leichen als eine Art Schocktherapie auf der Straße liegen gelassen wurden“11 .

Im Dezember 1975 beschloss der UN-Sicherheitsrat einstimmig, Indonesien müsse seine Invasionsarmee „unverzüglich“ aus Osttimor zurückziehen. Und er forderte alle Staaten auf, „die territoriale Integrität von Osttimor wie auch das unveräußerliche Recht seiner Bevölkerung auf Selbstbestimmung zu respektieren“. Die USA reagierten damit, dass sie ihre (geheimen) Waffenlieferungen an den Aggressor verstärkten.

In seinen Memoiren hält sich Washingtons damaliger UN-Botschafter Daniel Patrick Moynihan den Erfolg zugute, die Vereinten Nationen bei allen von ihnen ergriffenen Maßnahmen „völlig lahm gelegt“ zu haben. Moynihan befolgte damit die Instruktionen des US-Außenminsteriums, das „die Dinge so zu regeln wünschte, wie es dann tatsächlich eintrat“. Stillschweigend ließen die USA auch den Raub des in Osttimor geförderten Rohöls geschehen, an dem sich US-Unternehmen beteiligten, obwohl dies eindeutig internationale Abkommen verletzte.

Der Fall Osttimor weist also starke Analogien zum Fall Irak/Kuwait auf. Aber es gibt neben anderen einen bedeutenden Unterschied: Die von den USA unterstützten Gräueltaten in Osttimor übertrafen bei weitem alles, was man Saddam Hussein an Verbrechen in Kuwait zugeschrieben hat.12 Doch deshalb wurde Indonesien von Washington noch lange nicht auf die Liste der „Schurkenstaaten“ gesetzt.

Auch Saddam Hussein wurde zum „Ungeheur von Bagdad“ nicht etwa aufgrund der Verbrechen gegen sein eigenes Volk, wie etwa des Einsatzes chemischer Waffen gegen die Zivilbevölkerung, von denen die US-Nachrichtendienste volle Kenntnis hatten. Vor der irakischen Invasion in Kuwait hatten die USA den Diktator demonstrativ unterstützt, und zwar bis zu dem Punkt, dass sie den irakischen Luftangriff auf das US-Kriegsschiff USS Stark vertuschten, dem immerhin 37 US-Marinesoldaten zum Opfer fielen. Ein solches Privileg hatte zuvor nur Israel genossen, als es im Juni 1967 „irrtümlicherweise“ die USS Liberty angriff (damals gab es 34 Tote). Die USA hatten noch 1989 mit Saddam Hussein die diplomatische, militärische und ökonomische Kampagne koordiniert, die zur Kapitulation des Iran „gegenüber Bagdad und Washington“ führte, wie es der Historiker Dilp Hiro formulierte. Sie hatten von Saddam sogar dieselben Dienste gefordert, die normalerweise von Vasallenstaaten geleistet werden. Wie Howard Teicher, ein früherer Berater von Präsident Reagan, enthüllt hat, übernahm der Irak die Ausbildung einiger Dutzend von den USA rekrutierter libyscher Söldner, die Oberst Gaddafi stürzen sollten.13

Wenn Saddam Hussein ins Lager der „Schurkenstaaten“ befördert wurde, so weil er sich als aufmüpfig und allzu eigenmächtig erwiesen hatte. Dasselbe Schicksal ereilte den panamaischen General Manuel Noriega, im Vergleich eher ein Kleinkrimineller, der seine schlimmsten Missetaten beging, als er noch in (bezahlten) Diensten Washingtons stand. Kuba wiederum wurde als Schurkenstaat klassifiziert, weil es angeblich Verbindungen zum „internationalen Terrorismus“ unterhält – während der Ankläger USA über nahezu vierzig Jahre seine terroristischen Attacken gegen die Karibikinsel eskalierte und sogar Attentatsversuche gegen Fidel Castro unternahm. Auch im Fall des Sudan erklärten die USA ein Land zum „Schurkenstaat“, das sie selbst im August 1998 bombardierten. Hinterher erwies sich dann die angebliche Produktionsstätte für chemische Waffen als genau das, was sie laut Aussage der Regierung in Khartum war: eine pharmazeutische Fabrik.14

Das Konzept des „Schurkenstaates“, von dem man sich nunmehr offiziell verabschiedet hat, wurde schon immer äußerst flexibel gehandhabt. Doch letzten Endes waren die Kriterien eindeutig: Ein Schurkenstaat war nicht einfach ein krimineller Staat. Es war vielmehr ein Staat, der sich den Anordnungen der Mächtigen, insbesondere denen der USA, nicht fügen wollte – als würden die USA nicht selbst unter die infame Bezeichnung „Schurkenstaat“ fallen.

Aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Boston, auf Deutsch sind zuletzt erschienen: „Profit over People, Neoliberalismus und globale Weltordnung“, München (Europa Verlag) 2000.

Fußnoten: 1 Der Ausdruck „Schurkenstaat“ habe seine Raison d’etre verloren, weil mehrere der betreffenden Staaten ihr Verhalten zwischenzeitlich korrigiert hätten, lautete die Erklärung von Richard Boucher, dem Sprecher des US-Außenministeriums. Für die Sanktionspolitik bedeutet dies aber zunächst keinerlei Änderung. Siehe Le Monde, 21. Juni 2000. 2 Siehe Alain Gresh, „Unerhörte Agonie in einem zerstörten Land“, Le Monde diplomatique, Juli 1999. 3 Siehe Eric Rouleau, „Zwei Feinde – ein Interesse“, Le Monde diplomatique, März 1998. 4 Siehe dazu Ignacio Ramonet, „La longue guerre occulte contre le Nicaragua“, Le Monde diplomatique, Februar 1987. 5 National Security Council 5 429/2, Washington. 6 Robert McNamara, von 1961 bis 1968 Verteidigungsminister der USA, erklärte vor kurzem, wegen ihrer wachsenden Neigung, auf eigene Faust zu agieren, seien die USA selbst zu einem „Schurkenstaat“ geworden. Siehe Flora Lewis in The International Herald Tribune, 26. Juni 2000. 7 International Herald Tribune, 6. Juni 2000. 8 Siehe dazu „The Real War on Crime – the Report of the National Criminal Justice Commission“ (hrsg. von Steven Donziger), New York (Harper Collins) 1996. 9 Siehe Pierre Salinger und Eric Laurent, „Krieg am Golf – das Geheimdossier“, München (Hanser) 1991. 10 Siehe Noam Chomsky, „Unversöhnliche Erinnerung“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999. 11 Zitiert nach Charles Glass, „Prospect“, London 1998. 12 Siehe Roland-Pierre Paringauax, „Osttimor auf dem Weg in die Unabhängigkeit“, Le Monde diplomatique, Mai 2000. 13 New York Times, 26. Mai 1993. 14 Siehe Alain Gresh, „Heilige Kriege“, Le Monde diplomatique, September 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2000, von NOAM CHOMSKY