16.03.2001

Kapitulieren die Intellektuellen?

zurück

Kapitulieren die Intellektuellen?

Von ALAIN ACCARDO und PHILIPPE CORCUFF *

UND wenn das ganze Universum vor der Ungerechtigkeit, die die Welt regiert, niederkniet, so heißt es für den Intellektuellen aufrecht zu bleiben und ihr das menschliche Gewissen entgegenzusetzen.“1 Mit diesen Worten erinnerte Julien Benda die Intellektuellen in den Zwanzigerjahren an die zentralen Werte einer Berufung, die sie, wie er ihnen vorhielt, verraten würden.

Der gegenwärtige „Verrat der Intellektuellen“ ist gekennzeichnet durch einen Wandel der Sitten, der die Universitäten von innen her aushöhlt. Dazu beigetragen hat zum einen die sozialliberale Politik seit Anfang der Achtzigerjahre und zum anderen eine Logik der freiwilligen Unterwürfigkeit, die sich im akademischen Millieu breit gemacht hat. Die Aufbruchstimmung im Dezember 1995 konnte noch den Eindruck erwecken, dass die Universität eine Bastion des kritischen Denkens geblieben sei. Von innen gesehen jedoch stellt sich die Lage bei weitem beunruhigender dar.

Noch sind es nur wenige, die sich offen für eine Privatisierung der Universitäten aussprechen. Im Gegenteil: Mit ausdrücklichem Hinweis auf die Bedrohung, die von einem solchen Ultraliberalismus ausgeht – einem Bericht zufolge, den ein Ausschuss unter dem Vorsitz von Jacques Attali 1998 veröffentlicht hat, würde dieser gar „alle Fundamente der Republik hinwegfegen“ – soll die akademische Ausbildung in Frankreich „eine gezügelte Konkurrenz, einen wissenschaftlichen und pädagogischen Wettstreit zwischen den Institutionen“ akzeptieren“.2

Wir haben es hier also eher mit einem nachahmenden Liberalismus zu tun. Überwacht und schöngeredet, soll er die Bürokratien und ständischen Vertretungen der Universitäten auf seine Seite ziehen. Diese Entwicklung passt recht gut zur Praxis einer regierenden Linken, die sich auf zwei Schauplätzen behaupten will: Auf den Finanzmärkten versucht sie, ihr Diplom in angewandtem Liberalismus zu erwerben, und dem „linken Volk“ präsentiert sie sich als ein Schutzwall gegen die Exzesse der uneingeschränkten wirtschaftlichen Freiheit. „Unternehmen“ heißt der Schlüsselbegriff, der die aufkommende Vorstellung der neuen Universitas zusammenfasst. Auf Drängen verschiedener aufeinander folgender Minister ist sie inzwischen so weit, sich zunehmend selbst in Analogie zum Feld der Ökonomie wahrzunehmen. Nun geht es im Wesentlichen darum, „die Ströme zu steuern“, „dem gesellschaftlichen Bedarf an Berufsabschlüssen zu entsprechen“, „das Bildungsangebot anzupassen“, „Synergien zu schaffen“, und zwar „in partnerschaftlicher Zusammenarbeit“, und so weiter.

Zwischen dem französischen Bildungsministerium und dem Institut d’Études Politiques (Institut für Politikwissenschaften, IEP) in Lyon wurde am 10. Juli 2000 ein „vierjähriger Entwicklungsvertrag“ geschlossen. Er ist ein Beispiel für den Newspeak, mit dem die höhere Bildung auf die Erfordernisse der wirtschaftsliberalen Globalisierung getrimmt wird: „Um ihre Studierenden besser darauf vorzubereiten, sich in europäische Körperschaften des öffentlichen und privaten Rechts zu integrieren, die dem weltweiten Wettbewerb unterworfen sind, wird die Institution die Dauer ihrer pluridisziplinären Ausbildung schrittweise auf vier Jahre festsetzen und damit der Ausbildung einen internationalen, berufsorientierten Charakter verleihen, der besser mit den Doktoratsstudiengängen der Universitäten abgestimmt ist.“

Universitätslehrer bewegen sich in einem Klima der Unterwerfung unter „internationale wirtschaftliche Zwänge“. Viele haben daraus explizit oder implizit den Schluss gezogen, dass ihre Arbeit im Wesentlichen darin besteht, ihren „Kunden“ die von ihnen gewünschte schnelle Ausbildung und berufliche Qualifikation zu vermitteln. Sie versuchen, dem „Anforderungsprofil“ eines zunehmend internationalisierten Arbeitsmarktes zu entsprechen, der von den Erwartungen und Bedürfnissen der Unternehmen verschiedener Branchen beherrscht wird. Das Diplom der Universität ist dann nur noch ein Siegel, mit dem die Konformität des „Produkts“ Absolvent bestätigt wird.

Folglich haben sich Akademiker, die einer quasiunternehmerischen Vorstellung der Universität ergeben sind, dem Leitbild des „Managers“ angepasst. Ihr wichtigstes Geschäft sehen sie darin, „leistungsfähige, dynamische, mobile und flexible wirtschaftliche Akteure“ auf „den Wettbewerb“ vorzubereiten. Welchem Menschentypus sie jenseits des Homo oeconomicus damit zur Ausformung verhelfen, kümmert sie nicht. Und sie kommen auch nicht auf den Gedanken, den zeitgenössischen Ökonomismus zu hinterfragen, dem zufolge „eine weltweite Öffnung“ vor allem mit „wirtschaftlichem Wettbewerb“ zu tun hat.

Unter diesem doppelten Druck von oben und unten werden die Studiengänge umstrukturiert. Die Priorität liegt bei „berufsvorbereitenden“ oder „professionalisierten“ Studiengängen. Lehrveranstaltungen im Bereich der Allgemeinbildung, der Grundlagenkenntnisse und des kritischen Denkens werden zusammengestrichen. Das gilt vor allem für die naturwissenschaftlich-technischen Fakultäten. Doch sind fast alle Bereiche der höheren Bildung von dieser Entwicklung betroffen, wenn auch in unterschiedlichen Rhythmen und Phasen und nach verschiedenen Verfahrensweisen. Das „berufsorientierte Diplom“, ein im November 1999 von Claude Allègre neu geschaffener Studienabschluss, der „im Rahmen enger Partnerschaften mit Vertretern der Berufswelt“ ausgearbeitet und organisiert wird, entspricht genau diesem Trend. Nachdem das Institut für Politikwissenschaft in Paris den Weg vorgezeichnet hat,3 wird das politikwissenschaftliche Institut der Universität Lyon noch in diesem Jahr den Lehrbetrieb in Fächern wie politische Philosophie, politische Soziologie und Ökonomie im ersten Studienjahr um etwa 20 Prozent kürzen. Zugleich warten in den Schubladen bereits „professionalisierte“ Studiengänge und „Module“. Sie beinhalten nicht zuletzt einen verstärkten Sprachunterricht. Er wird „in Zeiten des Internets“ und der Globalisierung für wichtiger gehalten als die „alten“ Wissenschaftsfelder.

Was die Universitätspolitik betrifft, hat sich eine zunehmende Trennung zwischen den Polen Wissenschaft und Verwaltung durchgesetzt. Innerhalb des Wissenschaftsbereichs selbst wächst die Spaltung zwischen jenen, die hauptsächlich Forschung betreiben und in nationale oder sogar internationale Netze eingebunden sind, und jenen, die lokal arbeiten und in erster Linie Unterrichtsaufgaben übernehmen.

Universitätsangestellten bieten sich drei Tätigkeitsfelder, von denen jedes mit besonderen Belohnungen lockt: starke Präsenz in akademischen Zeitschriften für die „fleißigsten Forscher“, zusätzliches Einkommen für die „eifrigsten Lehrer“ (die diese Arbeit hauptsächlich in so genannten Ergänzungsstunden leisten) und Machtpositionen für die „besten Verwalter“. Es ist eine Arbeitsteilung, die Konflikte zwischen Zuständigkeiten und Personen schürt. Sie nährt ein Klima des Kampfes innerhalb der Institute. Immer mehr und immer kleinere Gebiete werden so abgesteckt. In dieser explosiven Mischung aus Angst und Arroganz entwickeln sich nicht selten Intrigen und wahre Treibjagden.

Dies alles untergräbt den sonst doch beneidenswerten Status des lehrenden Forschers.4 Die Ultraliberalen unter unseren Politikern würden ihn am liebsten als „Privileg aus einer anderen Zeit“ verschwinden lassen. Nicht zuletzt verschärfen der politische Kontext der Reformen und die Enttäuschung über verschiedene Gruppierungen der Linken die Verbitterung unter Akademikern. Nachdem unser Homo academicus in pädagogischen oder politischen Intellektuellenträumen geschwelgt hat, muss er nun zusehen, wie seine Horizonte immer enger werden. Schließlich erhört er, ob widerwillig oder mit Wohlgefallen, die Sirenengesänge des „Realismus“. Und die fordern ihn auf, sich den angeblich unausweichlichen Umwälzungen einer Welt zu ergeben, die nun einmal so sei. Wie Robert Musil zu einer anderen Zeit schrieb, ist etwas mit den Akademikern „umgegangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege; es hat sie da an einem Härchen, dort in ihrer Bewegung festgehalten und hat sie allmählich eingewickelt, bis sie in einem dicken Überzug begraben liegen, der ihrer Form nur ganz entfernt entspricht. Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist.“5

Die Universitäten übernehmen einfach Modelle und Normen, die ihnen von unseren Fürsten und deren Beratern anempfohlen oder aufgezwungen werden. An dieser Stelle soll es genügen, noch einmal auf den Bericht der Attali-Kommission zu verweisen. Er wurde von Akademikern und Führungskräften der Wirtschaft verfasst, die im Konsens über die „Marktdemokratie“ zueinander gefunden haben. Zu ihnen zählt auch der Soziologe Alain Touraine, einst führender Theoretiker der „neuen Linken“. Der Bericht definiert eine der „vier Revolutionen“, zu denen die Universitäten aufgerufen sind: „Die Kontakte mit den Unternehmen, und zwar mit innovativen Unternehmen, die im Wesentlichen die Arbeitsplätze von morgen schaffen werden, lassen sich nur im Rahmen enger und vertrauensvoller Beziehungen zu den Universitäten herstellen.“ Dazu kommt eine der „sieben Aufgaben der höheren Bildung: sich an die Berufe von übermorgen und an den Geist des Unternehmertums anzupassen“. Man sucht in dem Brevier übrigens vergeblich nach einer Empfehlung, dass die Universitäten das kritische Denken und den Sinn für den Dienst an der Öffentlichkeit entwickeln sollen.

Der Akademiker wird zum Entertainer

DEM Ökonomismus in Vokabular und Denkweise kommt innerhalb der Universitäten etwas entgegen, was noch vor zwanzig Jahren unvorstellbar gewesen wäre: das Anwachsen eines wahrhaftigen Antiintellektualismus, der manchmal offen zugegeben und manchmal in Anbetung der neuen Technologien schöngeredet wird. Viele Akademiker haben nicht nur den Glauben daran verloren, dass ihre Aufgabe in der Beschäftigung mit Geistesdingen liegt. Sie lassen auch eine durchaus verächtliche Ironie für alle erkennen, die an diesem „altmodischen“ Vorhaben festhalten. Schon der Versuch, in den Räumen der Universität und in Gesprächen mit Studenten oder Kollegen im engeren Sinn intellektuelle Fragen zu erörtern, wirkt irgendwie unangebracht. Ohne Zweifel liegt das nicht zuletzt an den Auswirkungen des relativen sozialen Abstiegs, von dem alle Universitätslehrer betroffen sind. Denn diese haben grollend einer Entwicklung zusehen müssen, im Zuge derer das kulturelle Kapital immer mehr entwertet wird –und zwar zu Gunsten des ökonomischen und des „medialen“ Kapitals. Als Folge gibt es selbst unter jenen, die das Kapital der Lehre geradezu verkörpern, immer mehr Leute, die es gesellschaftlich befriedigender finden, „zum Fernsehen zu gehen“, mit Lokalpolitikern einem Kolloquium vorzusitzen, in dem es um „Kulturelles“ geht, oder an diversen einträglichen Veranstaltungen teilzunehmen, anstatt im Hörsaal über Soziologie, Linguistik oder Wissenschaftstheorie zu reden.

Angesichts der politischen Entwicklung in den Ministerien und der alltäglichen Umgestaltung des universitären Lebens sind die Reaktionen seitens der Lehrenden und Forschenden mehr als ungenügend. Und leider haben die Gewerkschaften in diesem Bereich erschreckend wenig zu bieten – sofern es überhaupt welche gibt. Unter solchen Bedingungen finden vielleicht auch Akademiker Trost in einer Feststellung, die Max Weber bezüglich der Journalisten getroffen hat: „Nicht das ist erstaunlich, dass es viele menschlich entgleiste oder entwertete Journalisten gibt, sondern dass trotz allem gerade diese Schicht eine so große Zahl wertvoller und ganz echter Menschen in sich schließt, wie Außenstehende es nicht leicht vermuten.“6

Nur dürften diese „wertvollen und ganz echten“ Akademiker nicht den Fehler eines ihrer Vertreter machen, der in einem Artikel7 „das dreifache Elend“ – materiell, intellektuell und moralisch – der französischen Universitäten beklagt hat. Seinen kritischen Formulierungen („übertriebener Klientelismus“, „lehrende Mandarine“, „intellektueller Konservatismus“, Vorherrschaft des „Intrigenspiels“ auf Kosten des „echten intellektuellen Anliegens“ usw.) könnte man eigentlich nur zustimmen. Nur gehen seine Feststellungen leider mit elitärem Hochmut einher, und der Autor lässt sich zu abwertenden Urteilen über Studierende verleiten, und zum Eigenlob einer universitären Würde, die den Respekt der Gemeinschaft beanspruchen dürfe.

Ganz zu schweigen davon, dass dieser Kritiker zur Fetischierung des amerikanischen Universitätsmodells neigt und damit, in Analogie zur Marktideologie, Konkurrenz als wichtigsten Faktor bei der Ausbildung von Wendigkeit, Niveau und Intelligenz betrachtet. Seines Erachtens sollten sich alle ein Beispiel nehmen an den US-amerikanischen Universitäten und an deren Aufnahmebedingungen. Dagegen hätten die französischen Universitäten „mehr Ähnlichkeit mit den Universitäten der Dritten Welt als mit denen der entwickelten Länder“ und seien außerdem zerfressen von „der Verbeamtung der Lehrenden“, „vom Grundsatz der landesweiten Uniformität“ und von „Gleichmacherei“.

Es bedarf anderer Perspektiven8 als eines nostalgischen Rückblicks auf die Dritte Republik oder eines nacheifernden Verfechtens des amerikanischen Traums. Es hat noch nie geholfen, das eine Übel mit einem anderen kurieren zu wollen.

dt. Herwig Engelmann

* Dozent für Soziologie an der Universität Bordeaux III resp. Dozent für Politikwissenschaft am Institut d’Études Politiques in Lyon.

Fußnoten: 1 Julien Benda, „Der Verrat der Intellektuellen“, Berlin (Ullstein) 1983. 2 „Pour un modèle européen d’enseignement superieur“, Paris 1998, S. 17f. Zum Bericht des Ausschusses Attali siehe auch Christophe Charle, „Université et recherche dans le carcan technocratique“, Le Monde diplomatique, September 1999. 3 Zur führenden Rolle des IEP in Paris bei der Einführung des nachahmenden Liberalismus siehe Alain Garrigou, „Comment Sciences-Po et l’ENA deviennent des Business Schools“, Le Monde diplomatique, November 2000. 4 Ein Universitätsdozent oder -professor muss pro Jahr 192 Stunden unterrichten (oft an zwei Tagen der Woche). Den Rest seiner Zeit soll er der Arbeit an seiner Forschung widmen. Die Beobachtung aus nächster Nähe rechtfertigt die Annahme, dass mindestens jeder zweite dieser lehrenden Forscher nur selten Zeit für die Forschung hat. 5 Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek (Rowohlt) 1981, Band 1, S. 131. 6 Max Weber, „Politik als Beruf“, München und Leipzig 1919, S. 18. 7 Jean-Fabian Spitz, „Les trois misères de l’universitaire ordinaire“, Le débat, Nr. 108, Januar/Februar 2000. 8 Die Association de réflexion sur les enseignements superieurs et la recherche („Nachdenken über Lehre und Forschung“) wurde von Pierre Bourdieu und Christophe Charle gegründet. Sie hat in dieser Hinsicht bereits Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt. Siehe ARESER, „Quelques diagnostics et remèdes d’urgence pour une université en péril“, Paris 1997.

Le Monde diplomatique vom 16.03.2001, von ALAIN ACCARDO und PHILIPPE CORCUFF