12.04.2001

„Wie soll ich vergessen?“

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„Wie soll ich vergessen?“

„1959 und 1972 brachten sie alle Männer um, seltener die Frauen und Kinder. 1959 war ich schon einmal geflohen. Sie brannten die Häuser nieder, richteten aber kein solches Blutbad an wie vor vier Jahren [beim Genozid vom April 1994; d. Red.]. Damals, also 1994, war alles ganz anders. Sie töteten sogar Kinder und Greise. Sie brachten alle Tutsi um. Ich hatte Glück: Als sie kamen, haben wir uns zuerst in die Kirche geflüchtet. Sie wollten uns da rausholen, da sind wir in alle Himmelsrichtungen geflohen. Und dann haben wir einander aus den Augen verloren. Ich habe es geschafft, mich bis nach Burundi durchzuschlagen. Hier sind achtzehn Mitglieder meiner Familie ums Leben gekommen. Mein Mann und alle meine Kinder, bis auf die Älteste. Ich weiß nicht, wo sie begraben sind. Damals warf man alle Leichen in Massengräber, und davon gab es viele. Manchmal gehe ich noch zum Beten dorthin. Ich bete zu Gott, dass er mich sterben lässt. Ich bin alt. Was habe ich jetzt noch zu erwarten? Es gibt jemand, der gut zu mir ist und mir etwas zu essen bringt, aber eigentlich hat er gar nicht mehr die Kraft dazu. Ich vertraue nur noch auf Gott.“ Das berichtet Languide (87 Jahre) in einem Dokumentationsband über Frauen in Ruanda, dem wir auch das obige Foto von ihr entnommen haben. 1

DIEJENIGEN, die dem Völkermord von 1994 entkamen, können sich in Ruanda kaum Gehör verschaffen. Sie haben das Gefühl, hier nur zu stören. Die Regierung, die sich ganz auf den Krieg im Kongo konzentriert, ist international zunehmend isoliert, und die ohnehin arme Gesellschaft ist mit dem Wiederaufbau beschäftigt.2 Der Vereinigung Ibuka (Erinnere Dich!), unter deren Dach sich verschiedene Interessengruppen der Überlebenden zusammengeschlossen haben, ist es nicht gelungen, sich mit der Regierung auf die Abhaltung eines Gedenktages zu einigen. Und auch revisionistische Tendenzen sind noch nicht völlig überwunden. Die nicht bestätigte Mitwirkung der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) beim Attentat des 6. April 1994, dem Auslöser für die Tragödie, ist für die am Völkermord Beteiligten eine Gelegenheit, ihre Verantwortung zu relativieren.

Die Überlebenden beklagen sich auch darüber, wie langsam die gerichtlichen Prozesse in Gang kommen und Entschädigungen zugestanden werden. Um die Verurteilungen von etwa 120 000 Inhaftierten zu beschleunigen, hat die Regierung traditionelle Formen der Rechtsprechung wiederbelebt (die Gacaca-Tribunale): Für jede der 10 600 Verwaltungseinheiten wählt die erwachsene Bevölkerung unter unbescholtenen Personen Richter aus. Kapitalverbrechen werden nach wie vor von der traditionellen Justiz abgeurteilt. Geständnisse werden mit Strafmilderung belohnt, was den sozialen Zusammenhalt stärken soll. Insgesamt besteht die Tendenz, die Bevölkerung ab Juli 1994 (als die RPF an die Macht kam) für unschuldig zu halten, da sie ja von den damaligen Machthabern manipuliert gewesen sei. Die Gacaca-Tribunale bieten vielleicht die Möglichkeit, doch noch den einen oder anderen zur Verantwortung zu ziehen.

A.-C. R.

Fußnoten: 1 Zitiert nach Jean-Louis Quéméner und Eric Bouvet, „Femmes du Rwanda“, Paris (Editions Catleya) 1999. 2 Die englische Organisation Justice Africa (www.justiceafrica.org) organisiert während des ganzen Jahres 2001 ein Forum ruandischer Vereinigungen zum Thema Justiz und Verhinderung von Völkermorden.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001, von A.-C. R.