11.05.2001

Außenpolitik der begrenzten Möglichkeiten

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Außenpolitik der begrenzten Möglichkeiten

Von PAUL MARIE DE LA GORCE *

Lang scheinen sie zurückzuliegen, die Zeiten, als die Präsidenten Boris Jelzin und Bill Clinton ein herzliches Verhältnis, ja sogar politische Gemeinsamkeit zur Schau stellten. Heute darf der Präsident der Russischen Föderation aus dem Weißen Haus keine systematische Nachsicht mehr erwarten. Washington nimmt ganz offenbar die russischen Einwände gegen das amerikanische Raketenabwehrsystem (National Missile Defense/NMD) nicht ernst1 , betrachtet umgekehrt jedoch die Kuba-Reise von Präsident Putin als eine Provokation. Die Chefin des Nationalen Sicherheitsrates, Condoleezza Rice, soll sogar geäußert haben, Russland stelle nach wie vor „eine Bedrohung“ dar.

Was die amerikanischen Medien betrifft, so üben sie verständlicherweise harsche Kritik am russischen Vorgehen in Tschetschenien. Bedenklicher erscheint hingegen, dass sie die juristische Auseinandersetzung der russischen Regierung mit den Medienmagnaten Boris Beresowski und Wladimir Gussinski als Angriff auf die Pressefreiheit darstellen. Einige Monate zuvor hatten sie noch die Missetaten dieser „Oligarchen“ angeprangert, die einen erheblichen Teil der Presse und des Fernsehens in Russland kontrollieren.

Kurz gesagt: Seit dem Machtwechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin hat sich der Graben zwischen Russland und den Vereinigten Staaten wieder vertieft. Dies liegt in erster Linie an Veränderungen in der russischen Politik.

Politische Einstellung, Auftreten und Sprache der Leute, die heute im Kreml für die Gestaltung der Außenpolitik zuständig sind, haben sich deutlich gewandelt. Nach Jelzins Amtsübernahme 1991 begeisterte sich die „politische Klasse“ nahezu uneingeschränkt und ohne Vorbehalte für alles, was „westlich“ war. Man wollte um jeden Preis ein gutes Einvernehmen mit den USA; das war schon mehr als ein vorrangiges Ziel, es war zum Dogma geworden. Man strebte von Staats wegen die Umwandlung Russlands in einen modernen kapitalistischen Staat an, und zwar in „fünfhundert Tagen“ – so stand es in dem Programm, das von einer der ersten Jelzin-Regierungen vorgelegt wurde.

Der damalige Erste Vizeministerpräsident Jegor Gaidar, zuständig auch für die Wirtschaftsreformen, gab öffentlich bekannt, Russland werde die Rezepte der amerikanischen Beratergruppe um Jeffrey Sachs befolgen. Die verheerenden Ergebnisse dieses Kurses und der wirtschaftliche, soziale und sogar moralische Zusammenbruch, der aus diesem radikalen Umgestaltungsversuch resultierte, machten zahlreiche Träume, Hoffnungen und Zukunftspläne zunichte.

Die vorläufige politische Bilanz sieht heute folgendermaßen aus: Russlands Grenzen mit seinen europäischen Nachbarn sind annähernd dieselben wie zu Beginn des 17. Jahrhunderts. 25 Millionen Russen leben heute unter fremden Regierungen; einige Millionen haben die zentralasiatischen Republiken bereits Richtung Russland verlassen – ganz zu schweigen von Tschetschenien, wo es praktisch keine russische Bevölkerung mehr gibt.

Von der internationalen Bühne ist Russland so gut wie verschwunden. Das gilt für Mittelamerika ebenso wie für das südliche Afrika, wo die Sowjetunion seinerzeit ausgesprochen kühne politische Vorstöße unternahm, für Südostasien und vor allem den Nahen Osten, wo sie eine sehr aktive und mitunter entscheidende Rolle spielte.

Den Gipfel seiner internationalen Bedeutungslosigkeit erlebte das Land mit dem Krieg gegen Jugoslawien. Der Kreml konnte sich noch so sehr bemühen, sein politisches Gewicht zur Geltung zu bringen, das Ergebnis war: Keine andere internationale Krise der letzten zehn Jahre hat die russischen Empfindlichkeiten so tief verletzt wie der Kosovokrieg. Das Bild der Maschine von Jewgeni Primakow, die in der Luft umkehrte, weil der Premierminister auf halbem Wege nach Washington vom Beginn des Kosovokrieges erfahren hat, ist vielen Russen im Gedächtnis geblieben. In ihren Augen zeigte dies, wie ungeheuer geringschätzig die US-amerikanische Regierung ihre russischen Partner behandelte.

Annäherung an China

ES kann also kaum überraschen, dass die Stimmung unter den politischen und diplomatischen Vertretern Russlands heute eube völlig andere ist. Nach einer Phase, in der eine unerschütterliche Vertrautheit mit den westlichen Gesprächspartnern – insbesondere mit den Amerikanern – regelrecht kultiviert wurde, ist man sich inzwischen klar darüber, dass es in Wahrheit unterschiedliche Interessenlagen gibt. Wer heute in Russland behauptet, den USA sei vor allem daran gelegen, das Hochkommen einer konkurrenzfähigen Weltmacht im Stile der untergegangenen Sowjetunion zu verhindern, braucht nicht mehr mit einem Aufschrei der Empörung zu rechnen. Das gilt gleichermaßen für die Leute, die öffentlich die Vermutung äußern, Amerika wolle die gegenwärtige Schwäche Russlands im Grunde konservieren, wenn nicht sogar vertiefen.

Dennoch lässt sich nicht behaupten, dass die russische Außenpolitik von einem Extrem ins andere gefallen sei. Sie stellt sich heute, von den konkreten Ergebnissen her betrachtet, als Produkt eines Kompromisses dar, der zum einen die einst vorrangige Verständigung mit den USA voranzutreiben sucht, andererseits aber auch mit Partnern zusammenarbeiten will, die sich angesichts der amerikanischen „Übermacht“ beunruhigt zeigen und ein neues Gleichgewicht fordern. Wladimir Putin ist gewissermaßen die Personifizierung dieses Kompromisses. Da er ja bereits unter Boris Jelzin an den Regierungsgeschäften beteiligt war, wird er sich gewiss noch an die Beweggründe erinnern, aus denen heraus seinerzeit dem amerikanisch-russischen Dialog Priorität eingeräumt wurde. Doch zugleich gehört der Präsident zu der Generation, die noch die außenpolitischen Erfolge der Sowjetunion mitbekommen haben, während zu Hause die Grundfesten des Systems bereits zusammenbrachen. Er hat die leidvolle Erfahrung der Erniedrigung Russlands nach der Auflösung der UdSSR miterlebt. Von diesen teilweise widersprüchlichen, jedoch ganz entscheidenden Erfahrungen ist seine heutige Politik geprägt.

Auf Betreiben von Jewgeni Primakow, zunächst Außen- und später Premierminister in der Regierung Putin, wurde gleich nach dessen Amtsantritt die Annäherung an China eine der wichtigen Achsen der neuen russischen Außenpolitik. Beide Staaten bekunden seither laut und einvernehmlich ihre Besorgnis angesichts der amerikanischen „Übermacht“, die eine nicht hinzunehmende Störung des Gleichgewichts in der Welt darstelle, aber auch gegenüber Japan, das aus russischer wie aus chinesischer Perspektive als verlängerter politischer und strategischer Arm der USA im Fernen Osten fungiert. Schließlich äußern beide ihre Sorge angesichts eines politisch radikalen, fundamentalistischen Islam: Moskau fürchtet dessen Ausbreitung in den mittelasiatischen Republiken und in den Gebieten, die wie Dagestan oder Tschetschenien zum Verband der Russischen Föderation gehören, Peking wiederum hat Angst, dass das Beispiel von Xinjiang Schule machen könnte, wo islamische Separatisten für die Unabhängigkeit kämpfen.

Da Moskau für diese Annäherung weder wirtschaftliche noch finanzielle Anreize anzubieten hat, sind die Hebel für eine solche Annäherung vorwiegend diplomatischer und militärischer Natur. In der Praxis jedoch setzt die chinesische Regierung darauf, in Russland den entscheidenden Partner für die Ausstattung seiner Armee mit moderner Waffentechnik zu finden. Diese Entscheidung ist für China von ebenso großer Tragweite wie für den militärisch-industriellen Komplex in Russland. Auch wenn die chinesische Regierung für 2001 ihren Verteidigungshaushalt mit gerade einmal 19 Milliarden Euro veranschlagt, so stellt der Zuwachs von 17,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr doch die größte Ausgabensteigerung seit zwanzig Jahren dar. Zudem schätzen westliche Experten, dass die Gesamtausgaben für militärische Zwecke um das Zwei- bis Dreifache höher liegen, weil sie sich in Wahrheit auf verschiedene Ressorts verteilen.2

Es sieht ganz und gar nicht danach aus, als würden die chinesischen Militärausgaben auf absehbare Zeit gedrosselt werden. Immerhin hat Washington Taipeh für den Ausbau des taiwanesischen Militärpotenzials Waffenlieferungen im Gesamtvolumen von 50 Milliarden Dollar für einen Zeitraum von zehn Jahren zugesagt. Die Antwort aus Peking dürfte nicht lange auf sich warten lassen.3 Die Volksrepublik erhofft sich von Russland den Zugang zu militärischer Spitzentechnologie, insbesondere für die Luftwaffe; auf der Lieferliste stehen aber auch Mittel- und Langstreckenraketen sowie Panzer.4 Der Jagdbomber Suchoj SU-27 wird bereits in China in Lizenz gebaut, und demnächst könnte Peking auch den neuesten russischen Panzer erwerben: den mit lasergesteuerten Boden-Boden-Raketen ausgerüsteten T-90.5 Ohne Übertreibung lässt sich wohl sagen, dass Russland im Begriff ist, zum „Waffenarsenal“ Chinas zu werden.

Ein weiterer bevorzugter Partner Moskaus ist Indien. In den Zeiten der Sowjetunion unterhielt die indische Regierung stets bevorzugte Beziehungen zu Moskau, um das politische Gleichgewicht zwischen den beiden Supermächten auszutarieren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion orientierte Neu-Delhi seine Außenpolitik neu. Inzwischen hat Russland die indische Regierung jedoch davon überzeugt, dass es auch in ihrem Interesse liegt, den alten Dialog wieder aufzunehmen.

Freilich vermag Russland auch in diesem Falle nicht mit wirtschaftlichen und finanziellen Angeboten aufzuwarten, sondern muss sich auf die politische und militärische Ebene konzentrieren. Folgerichtig schlägt sich die Wiederannäherung der beiden Staaten in erster Linie in Verträgen über Waffenlieferungen nieder: Ein Drittel der 4,4 Milliarden Euro, die im Jahr 2000 durch Rüstungsverkäufe nach Russland flossen, stammt aus Indien.

Der Iran ist in gewisser Weise das außergewöhnlichste Betätigungsfeld der neuen russischen Strategie, obwohl zwischen diesen beiden Staaten Welten liegen. Das iranische Regime verkörpert genau jene fundamentalistische und nationalistische Strömung im Islam, deren mächtigen Einfluss Moskau im Kaukasus zu spüren bekommt und die überdies die russische Vormachtstellung in Mittelasien offen bedroht.

Aber der Iran gilt auch als potenzieller Feind der Vereinigten Staaten, und allein dies hat ausgereicht, einen engen Dialog zwischen Moskau und Teheran in Gang zu bringen. Auch in diesem Fall setzte die russische Politik auf das einzig verfügbare Mittel, insofern sie mit Rüstungsexporten lockte. Moskau hatte bereits früher ein Atomkraftwerk geliefert, das nach iranischen Angaben mit einem Jahr Verspätung inzwischen ans Netz gegangen ist. Jetzt geht es um modernste Mittelstreckenraketen, was natürlich unverzüglich den Protest aus Washington hervorrufen muss.

Genau dies möchte die russische Regierung nach Möglichkeit vermeiden. Zwar verfolgt sie eine Politik, die die Auswirkungen der US-amerikanischen „Übermacht“ eindämmen, ja womöglich bekämpfen soll, doch ist für sie der Dialog mit Washington nach wie vor von vorrangiger Bedeutung. Im Übrigen hat Moskau gar keine andere Wahl. Die Auslandsverschuldung und die Zinszahlungen lasten schwer auf Russland und stellen außerdem eine ständige Bedrohung dar. Zwar hat der Anstieg der Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt in den vergangenen zwei Jahren zu einem ersten Wiederanstieg des Bruttoinlandsprodukts geführt, das seit dem Zerfall der UdSSR um die Hälfte gesunken war, doch zugleich kommen auf die russische Staatskasse hohe Ausgaben zu.

Das größte Problem sind die regelmäßige Auszahlung der Beamtengehälter und das völlig marode Rentensystem. Dadurch ist die russische Regierung ständig gezwungen, mit den internationalen Finanzinstitutionen zu verhandeln – in denen wiederum die US-Amerikaner das Sagen haben.

Hinzu kommt, dass die militärischen Potenziale der USA erdrückend überlegen sind. Der russische Verteidigungshaushalt entspricht nur noch einem Bruchteil, nämlich etwa einem Zehntel, des amerikanischen Budgets. Dieses Kräfteverhältnis prägt den derzeitigen Dialog zwischen Moskau und Washington, in dessen Zentrum das amerikanische Raketenabwehrsystem NMD steht. Die Installation dieses Systems würde verhindern, dass die russischen strategischen Raketen ihre Ziele auf dem amerikanischen Kontinent erreichen, während US-Flugkörper weiterhin ihre russischen Ziele treffen könnten. Moskau, dessen einziges schlagkräftiges Potenzial in den Langstreckenatomwaffen liegt, muss also auf die Pläne aus dem Weißen Haus reagieren.

Strategien gegen die US-Rüstungspläne

DIE russische Regierung hat zunächst die Start-III-Verhandlungen über die Reduzierung strategischer Nuklearwaffen wieder in den Vordergrund gerückt und vorgeschlagen, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe von gegenwärtig über 3 000 auf russischer und 3 500 auf amerikanischer Seite auf jeweils 1 500 zu reduzieren, und nicht wie ursprünglich vorgesehen auf 2 500.6 Damit stehen die USA vor einem Dilemma: Entweder willigen sie in eine weitere Abrüstung der Waffensysteme aus dem Kalten Krieg ein und erhalten sich die Möglichkeit, jeden anderen Staat der Welt anzugreifen und ihm schmerzliche Schäden zuzufügen, oder sie verfolgen weiterhin ihr NMD-Projekt. Womit sie dann freilich Gefahr laufen würden, dass Russland mehr strategische Nuklearwaffen behält oder sogar neue herstellt, um gegebenenfalls das Raketenabwehrsystem mit dem einzig verfügbaren Mittel matt zu setzen: der schieren Masse.

Gleichzeitig hat Moskau den europäischen Staaten vorgeschlagen, gemeinsam mit Russland und parallel zum US-amerikanischen System einen anderen Raketenschutzschild zu entwickeln.7 Ob derartige Schritte irgendeine Chance auf Erfolg haben oder nicht – sie zeigen jedenfalls, dass die russische Politik vom Willen der Regierung Bush überzeugt ist, das NMD-Projekt umzusetzen, sofern sich die Sache als technisch realisierbar erweist.

In Wahrheit wird über die russische Außenpolitik freilich nicht auf der internationalen Bühne, sondern im Lande selbst entschieden. Die Kräfte, die diese Politik derzeit gestalten, müssen nämlich an der Macht bleiben, also zuallererst die Macht der „Oligarchen“ brechen, die für die Rückkehr zu den alten, Jelzin’schen Zeiten stehen und um jeden Preis eine einvernehmliche Verständigung mit den USA anstreben. Außerdem braucht Russland dringend einen wirtschaftlichen Aufschwung, damit die ewige Abhängigkeit von ausländischen Krediten ein Ende hat. Und nicht zuletzt kommt es darauf an, dass die Tschetschenien-Krise nicht zu einer Lähmung und Diskreditierung der russischen Regierung führt oder gar einer Destabilisierung der Russischen Föderation Vorschub leistet.

dt. Passet/Petschner

* Journalist, Verfasser unter anderem von „De Gaulle“, Paris (Perrin) 2000.

Fußnoten: 1 Siehe „US-Militärdoktrin: Raketenschutzschild und strategische Kontrolle“, Le Monde diplomatique, September 2000. 2 AFP, 6. März 2001. 3 AFP und Le Monde, 7. und 8. März 2001. 4 Im vergangenen Jahr wurden Verträge abgeschlossen über sechs Radarflugzeuge des Typs A-50, eine mit Moskito-Raketen ausgerüstete Fregatte, 28 Trainingskampfjets vom Typ Suchoj-SU-27 UBK und 40 Suchoj-SU-30-MKK-Jagdbomber. 5 Le Monde, 10. Februar 2001. 6 AFP, 14., und Millile, 15. November 2000. 7 AFP, Reuters, 20. Februar 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von PAUL MARIE DE LA GORCE