15.06.2001

Die Ideologie der Entwicklung

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Die Ideologie der Entwicklung

SIE kommt nicht selten als Patentlösung für die Probleme des Südens daher und ist doch nichts anderes als ein Vehikel zur Verwestlichung der Welt: die Entwicklung. Ob als „dauerhaft“, „nachhaltig“ oder auch „endogen“ bezeichnet – ohne die zerstörerische Logik der kapitalistischen Akkumulation kommt die Entwicklung nicht aus. Sie führt zu Ungleichheiten, Umweltzerstörung und kultureller Verarmung. Dabei wären durchaus andere Lösungen denkbar, die die Mannigfaltigkeit der Welt stärker in Betracht ziehen und sich auf Erfahrungen stützen, die hier und da mit Formen des Wirtschaftens gemacht wurden, die den Marktgesetzen nicht unterworfen sind. Von SERGE LATOUCHE *

Vor etwas mehr als dreißig Jahren wurde eine Hoffnung geboren, die für die Völker der Dritten Welt ebenso vielversprechend war wie einst der Sozialismus für das Proletariat der westlichen Länder. Eine Hoffnung allerdings, deren Ursprünge und Grundlagen etwas verdächtig waren, weil die Weißen sie mitgebracht hatten, ehe sie sich aus den bis dahin schwer geknechteten Kolonien zurückzogen. Aber schließlich waren es die verantwortlichen Führer und Eliten der in die Unabhängigkeit entlassenen Länder selbst, die ihren Völkern die „Entwicklung“ als die Lösung ihrer Probleme präsentierten.

Die jungen Staaten haben das Abenteuer gewagt. Etwas ungeschickt vielleicht, aber sie haben es gewagt, oft mit einem verzweifelten Willen und unbändiger Energie. Das „Entwicklungsprojekt“ war sogar die einzige offizielle Legitimation der Machteliten. Es lässt sich gewiss endlos darüber streiten, ob die objektiven Bedingungen für ein Gelingen dieses modernistischen Abenteuers tatsächlich erfüllt waren oder nicht. Aber auch ohne auf diese große Frage im Einzelnen einzugehen, wird wohl jeder zugeben, dass sie weder einer programmatischen noch einer liberalen Entwicklung unbedingt förderlich waren.

Die Machthaber der neuen unabhängigen Staaten waren unauflösbaren Widersprüchen ausgesetzt. Sie konnten die angebotene Entwicklung weder zurückweisen noch bei ihrer Gestaltung mitwirken. Infolgedessen mussten sie alles, was zur Modernisierung gehört – Bildung, Gesundheitswesen, Justiz, Verwaltung, Technik –, einführen, ohne es auf ihre spezifische Situation zuschneiden zu können. Die von Wirtschaftsexperten so häufig zitierten „Bremsen“, „Hindernisse“ und „Blockierungen“ aller Art ließen den Erfolg eines Projekts, zu dem im Zeitalter der „Hyperglobalisierung“ auch die Erlangung internationaler Wettbewerbsfähigkeit gehört, von vornherein nicht sehr wahrscheinlich erscheinen. Wiewohl theoretisch immer neu reproduzierbar, ist die Entwicklung eben kein universelles Prinzip, das weltweit anwendbar wäre, schon aus ökologischen Gründen nicht: Die Endlichkeit unseres Planeten schließt eine Generalisierung der amerikanischen Lebensweise aus und macht sie zu einer explosiven Gefahr.

Dem Begriff „Entwicklung“ haftet ein Dilemma an: Entweder bezeichnet er alles und sein Gegenteil, insbesondere alle historischen Erfahrungen der Entfaltung einer kulturellen Dynamik in der Geschichte der Menschheit, vom China der Han-Dynastie bis zum Inkareich; in diesem Fall wäre er von keinerlei Nutzen mehr, um eine konkrete Politik zu begründen, und man täte gut daran, ihn einfach über Bord zu werfen. Oder er hat einen spezifischen Sinn und steht dann zwangsläufig in der Tradition der westlichen Erfahrung des „großen Spurts“, der den wirtschaftlichen Aufschwung seit der industriellen Revolution im England der Jahre 1750 bis 1800 beflügelt hat; in diesem Fall besteht sein impliziter oder expliziter Gehalt im ökonomischen Wachstum, in der Akkumulation des Kapitals mit all ihren bekannten positiven und negativen Auswirkungen.

Dieser harte Kern, den jede Entwicklung mit dem Beginn der westlichen Ökonomie gemeinsam hat, geht einher mit bestimmten „Werten“ – Fortschritt, Universalismus, Naturbeherrschung, quantifizierende Rationalität –, die in keiner Weise repräsentativ für tief greifende universelle Bestrebungen sind. Sie entspringen der Geschichte des Abendlands und stoßen in anderen Gesellschaften auf wenig Resonanz.1 Animistische Gesellschaften beispielsweise teilen den Glauben an die Naturbeherrschung nicht. Der Entwicklungsgedanke selbst hat für sie überhaupt keinen Sinn, und die mit ihm einhergehenden „Gewohnheiten“ sind schlichtweg unvorstellbar oder verboten.2 Gerade diese westlichen Werte müssen in Frage gestellt werden, um eine Lösung für die Probleme der heutigen Welt zu finden und die Katastrophen abzuwehren, in die uns die globalisierte Ökonomie zu stürzen droht.

Die Entwicklung war ein paternalistisches Unterfangen – nach dem Motto „die reichen Länder sichern den Aufschwung der zurückgebliebenen Länder“ –, das ungefähr in den Zeitraum der „trente glorieuses“ (1945–1975) fiel. Sozusagen transitiv konjugiert, ging der Begriff in die Sozialplanung der internationalen Experten ein. Es waren immer die anderen, die entwickelt werden mussten. Doch all die schönen Pläne sind gescheitert. Davon zeugt die Tatsache, dass die Hilfe, die 1960 für die erste von den Vereinten Nationen proklamierte Entwicklungsdekade auf 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der OECD-Länder festgelegt wurde und die man später – 1992 in Rio sowie 1995 in Kopenhagen – auf 0,7 Prozent heruntergeschraubt hat, im Jahr 2000 nicht einmal 0,25 Prozent erreichen konnte.3 Auch dass die meisten Entwicklungsinstitute oder auf Entwicklungspolitik spezialisierten Forschungszentren am Ende sind oder bereits dichtgemacht haben, spricht in diesem Zusammenhang Bände.

Die Krise der ökonomischen Entwicklungstheorie, die sich in den Achtzigerjahren angekündigt hat, befindet sich in ihrem Endstadium: Wir erleben einen regelrechten Ausverkauf! Bei den „seriösen“ internationalen Einrichtungen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder der Welthandelsorganisation (WTO) hat die Entwicklung als Konzept ausgedient. Auf dem letzten Gipfel in Davos war sie nicht einmal der Erwähnung wert. In der Dritten Welt machen sich nur noch einige ihrer Opfer für sie stark – und ihre barmherzigen Samariter: die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die von ihr leben. Aber selbst hier werden Abstriche gemacht. Die neue Generation der „NGOs ohne Grenzen“ konzentriert das charity business stärker auf humanitäre Aktionen und Nothilfe als auf den wirtschaftlichen Aufschwung.

Dennoch ist die Entwicklung weniger ihrem unbestreitbaren Bankrott im Süden zum Opfer gefallen als ihren jüngsten Erfolgen im Norden. Dieser konzeptionelle „Rückzug“ entspricht genau jener Verschiebung, die mit der Globalisierung einhergeht, und mit allem, was sich hinter diesem mystifizierenden Schlagwort verbirgt. Die Entwicklung der nationalen Ökonomien musste fast automatisch auf eine grenzüberschreitende Ökonomie und die Globalisierung der Märkte hinauslaufen.

In einer globalen Ökonomie aber gibt es keinen Platz für eine auf den Süden zugeschnittene Theorie. Von nun an sind einfach alle Länder der Welt „in Entwicklung“ begriffen. Zu einer einzigen Welt gehört ein einziges Denken. Durch diese Veränderung droht auch das zu verschwinden, was dem Entwicklungsmythos noch eine letzte Konsistenz verlieh: der Trickle-down-Effekt, das Phänomen des „durchsickernden“ Wachstums zu Gunsten aller.

Kolonisierte Vorstellungswelten

DIE staatlich geregelte Umverteilung des ökonomischen Wachstums (ein Kompromiss zwischen Keynesianismus und Fordismus) im Norden und sogar die Verteilung der Reste und Krümel im Süden hatten die Basis für einen gewissen nationalen Zusammenhalt geschaffen. Die neuen Maßnahmen – Deregulierung, Abbau der nationalen Kontrollen, Öffnung der Märkte und Direktinvestitionen – haben den staatlichen Rahmen der Regulierung gesprengt und das Spiel der Ungleichheiten grenzenlos werden lassen. Die regionale und personale Polarisierung des Reichtums hat inzwischen ungekannte Ausmaße erreicht. Nach dem letzten Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) hat sich der Reichtum auf unserem Planeten seit 1950 versechsfacht, während in 100 der insgesamt 174 erfassten Länder das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen drastisch zurückgegangen ist und die Lebenserwartung sinkt. Das Vermögen der drei reichsten Personen der Welt übersteigt das kumulierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der 48 ärmsten Länder! Das Eigentum der 15 wohlhabendsten Menschen übertrifft das BIP von ganz Afrika südlich der Sahara. Und das Eigenkapitel der 84 Superreichen übertrifft wertmäßig das BIP des riesigen China mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern!

Unter diesen Umständen geht es nicht mehr um Entwicklung, sondern nur noch um Strukturanpassung. Für den sozialen Bereich steht, wie Bernard Hours so schön sagt, ein „Global-Sani“ zur Verfügung, bei dem zahllose Hilferufe eingehen und dessen Hauptwerkzeug die Nothelfer der humanitären NGOs sind.4 Doch obwohl sich die „Formen“ (und nicht nur sie) beträchtlich verändert haben, bleibt im Bereich der Vorstellung alles beim Alten. So wie die Entwicklung nur eine Fortsetzung der Kolonisierung mit anderen Mitteln war, ist die Globalisierung eine Fortsetzung der Entwicklung mit anderen Mitteln. Der Staat verschwindet hinter dem Markt. Die Nationalstaaten, die den Staffelstab schon beim Übergang von der Kolonisierung zur Unabhängigkeit aus der Hand gegeben haben, ziehen sich endgültig in den Hintergrund zurück und überlassen die Bühne der Diktatur der Märkte mit ihrem Verwaltungsorgan, dem Internationalen Währungsfonds, der die Strukturanpassungsprogramme verordnet. An der Verwestlichung der Welt, an der Kolonisierung der Vorstellungswelten durch Fortschritt, Wissenschaft und Technik hat sich nichts geändert. Ökonomisierung und Technisierung werden auf die Spitze getrieben. Die radikale theoretische und philosophische Kritik, mit der sich vereinzelte Intellektuelle (vor allem Cornelius Castoriadis, Ivan Illich, François Partant und Gilbert Rist) mutig in die Debatte eingeschaltet haben, hat zu Akzentverschiebungen beigetragen, aber keine Infragestellung der Werte und Praktiken der westlichen Moderne bewirkt.

Dass die Entwicklung sich selbst überlebt hat, zeigt sich vor allem an der Kritik, die sie erfährt – und an den zahllosen Versuchen, ihre negativen Wirkungen magisch zu beschwören. Wie viele Arten von Entwicklung sind uns nicht schon begegnet: „autozentrierte“, „endogene“, „partizipative“, „kommunitäre“, „integrierte“, „authentische“, „autonom-volkstümliche“ und „ausgewogene“ Entwicklungen, ganz zu schweigen von der lokalen Entwicklung, der Mikro-, der Endo-, ja sogar der Ethnoentwicklung! So versuchen die Humanisten, die Ansprüche der Opfer zu kanalisieren. Die „nachhaltige Entwicklung“ ist das schönste Ergebnis dieser Kunst, alten Kram neu aufzupolieren. Bei all diesen Versuchen, „andere“ oder „alternative“ Entwicklungsstrategien zu definieren, geht es gleichsam um Abhilfe gegen ein „Übel“, das die Entwicklung rein zufällig befallen haben soll und eben nicht von vornherein in ihr angelegt gewesen sei.

Wer immer es wagt, den Entwicklungseifer anzugreifen, bekommt die Antwort, er habe sich in der Zielscheibe geirrt, er habe nur vereinzelte Auswüchse vor Augen, die eine oder andere „Fehlentwicklung“. Aber das ist reine Augenwischerei. Nach den Vorstellungen der Moderne kann es gar nicht sein, dass der Entwicklung, der Inkarnation des Guten, etwas Schlechtes anhaftet. Die „gute“ Entwicklung, auch wenn es sie nie und nirgendwo gegeben hat, ist eine Tautologie, weil Entwicklung per definitionem das „gute“ Wachstum bedeutet, weil Wachstum selbst etwas Gutes ist, das sich gegen jedes Übel durchsetzt.

Es liegt auf der Hand, dass nichts anderes als die „real existierende Entwicklung“, die unseren Planeten seit zwei Jahrhunderten beherrscht, die sozialen Missstände und Umweltprobleme der heutigen Zeit hervorgebracht hat: Ausgrenzung, Überbevölkerung, Armut, Verschmutzung aller Art usw. Im unangebrachten Entwicklungseifer kommt die ökonomische Logik in ihrer ganzen Schärfe zum Ausdruck. In diesem Konzept ist weder Platz für die Achtung vor der Natur, wie sie die Umweltschützer fordern, noch für die Achtung vor den Menschen, die den Humanisten so sehr am Herzen liegt.

Hier zeigt die real existierende Entwicklung ihr wahres Gesicht und lässt die „alternative“ Entwicklung als einen Mythos erscheinen. Ein aufgepfropftes Adjektiv stellt die kapitalistische Akkumulation nicht wirklich in Frage, bestenfalls zeugt es von der Absicht, dem ökonomischen Wachstum nicht mehr wie einst eine kulturelle, sondern eine soziale oder ökologische Komponente hinzuzufügen. Während die sozialen Folgen ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten – etwa die Armut, der sinkende Lebensstandard, die Grundbedürfnisse oder die angerichteten Umweltschäden –, unterbleibt jede ganzheitliche oder globale Analyse der weltweiten Dynamik einer wirtschaftlich-technischen Megamaschinerie, deren Funktionieren auf dem Prinzip der gnadenlosen und zunehmend gesichtslosen allgemeinen Konkurrenz beruht.

Müssen wir noch vierzig Jahre warten, bis wir begreifen, dass wir nicht mehr und nicht weniger als eine real existierende Entwicklung haben? Eine andere gibt es nicht. Und die real existierende Entwicklung bedeutet Wirtschaftskrieg (mit seinen wenigen Gewinnern und den zahllosen Verlierern), hemmungsloser Raubbau an der Natur, die Verwestlichung der Welt, die globale Uniformisierung und schließlich die Zerstörung der unterschiedlichen Kulturen.

Darum ist die „nachhaltige Entwicklung“, dieser Widerspruch in sich, letztlich auch eine Schreckensvision. Die nicht nachhaltige, nicht durchzuhaltende Entwicklung hat wenigstens die Hoffnung zugelassen, dass dieser todbringende Prozess ein Ende haben, dass er an seinen Widersprüchen, seinen Misserfolgen, seiner Unerträglichkeit und der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen zugrunde gehen würde. So konnte man sich über ein Danach Gedanken machen, am Konzept eines „Nach-der-Entwicklung“, einer akzeptablen Postmodernität basteln, die das Soziale und das Politische wieder in die ökonomischen Tauschverhältnisse einbeziehen, den gesellschaftlichen Umgang wieder auf das Allgemeinwohl und das gute Leben ausrichten würde. Die nachhaltige Entwicklung dagegen nimmt uns jeden Lichtblick, sie verheißt uns die Entwicklung für alle Ewigkeit!

Freilich kann die Alternative nicht in einer Rückkehr in die Vergangenheit bestehen, und es wird mehr als einen Weg geben müssen. Ein „Nach-der-Entwicklung“ ist zwangsläufig vielgestaltig und wird sich auf die Suche machen müssen nach kollektiven Entfaltungsmöglichkeiten, die andere Ziele begünstigen als den materiellen Wohlstand auf Kosten der Umwelt und der sozialen Beziehungen. Was das gute Leben ist, wird je nach Kontext sehr verschieden sein.

Mit anderen Worten, es geht darum, neue Kulturen aufzubauen. Gleich, ob dieses Ziel umran (Blüte) heißt wie bei Ibn Haldun, swadeshi-sarvodaya (Verbesserung der sozialen Bedingungen für alle) wie bei Gandhi oder bamtaare (es miteinander gut haben) wie bei den westafrikanischen Tukulör – wichtig ist, dass endlich Schluss ist mit dem Zerstörungswerk, das unter dem Namen Entwicklung oder Globalisierung immer weiter vorangetrieben wird. Für die Ausgegrenzten, für die Gestrandeten der Entwicklung kann es sich nur um eine Art Synthese zwischen verloren gegangener Tradition und unerreichbarer Modernität handeln. Solche originellen Lösungen, die in Ansätzen hier und dort zu beobachten sind, eröffnen neue Hoffnungen für eine Zeit, die auf die Entwicklung folgt.

dt. Grete Osterwald

* Professor an der Universität Paris XI, Autor von „L’autre Afrique. Entre don et marché“, Paris (Albin Michel) 1998.

Fußnoten: 1 Vgl. Jean-Marc Ela, „Les voies de l’afro-renaissance“, Manière de voir, Nr. 51, Mai/Juni 2000. 2 Zu diesem Thema siehe insbesondere Gilbert Rist, „Le développement. Histoire d’une croyance occidentale“, Paris (Presses de Sciences Po) 1996 3 Siehe dazu Jean-Pierre Cot, „Afrika im globalen Abseits“, Le Monde diplomatique, Januar 2001. 4 Vgl. Bernard Hours, „L’idéologie humanitaire ou le spectacle de l’altérité perdue“, Paris (L’Harmattan) 1998.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von Von SERGE LATOUCHE