14.09.2001

Ungleicher Tausch auf dem Markt der Kulturen

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Ungleicher Tausch auf dem Markt der Kulturen

Von ARMAND MATTELART *

„Wo endet Kultur, und wo beginnt der Kommerz? – Ich muss gestehen, in dieser Frage bin ich nicht kompetent.“ Diese Antwort des Chefunterhändlers der Freihandelszone Amerika im Vorfeld des Gipfels von Quebec (April 2001) stellt als solche schon einen Gesellschaftsentwurf dar. Überall hat die neoliberale Deregulierung der Kommunikationsnetze und -industrien die letzten Schranken der Kommerzialisierung niedergerissen. Aber dieser Zustand ist auch eine Bilanz der Geschichte des 20. Jahrhunderts, also der Spannung zwischen einer kosmopolitischen Philosophie der Kultur – fernes Erbe der Aufklärung – und den internationalen Medien- und Kommunikationskartellen, die mit ihren Technologien alles zu vereinnahmen suchen. Mit dem Übergang vom einen zum anderen haben sich die kulturellen Beziehungen in ein Werkzeug der Machtpolitik verwandelt.

Es waren Verfechter des Friedens, die den Anstoß zur Herausbildung einer modernen Problematik der Kulturbeziehungen gaben. Zwei belgische Anwälte, Paul Otlet und Henri La Fontaine, beschlossen 1910, in Brüssel den ersten Weltkongress der internationalen Vereinigungen zu organisieren. Die grenzüberschreitende Bewegung wuchs auf rund 400 Vereinigungen an, und in dieser Blütezeit wurde eine Union geschaffen, die eine eigene Zeitschrift besaß: La Vie internationale. Sie stellte den Begriff „Mondialismus“ (worldism) bereit, der in Analogie zum Reich der Zellgemeinschaften die „Interdependenz“ ins Bewusstsein heben sollte.

Dieses erste kulturelle Netzwerk wurde von dem gemeinsamen Wunsch getragen, den babylonischen Verwirrungen ein Ende zu setzen. In den USA errichtete der Philantrop und Stahlmagnat Andrew Carnegie die erste Kulturstiftung, die Carnegie Endowment for International Peace, und setzte sich für eine vereinfachte Orthographie der englischen Sprache ein. Otlet hegte den Traum, so vielen Menschen wie möglich Zugang zur Information zu verschaffen, und wollte einen enormen, durch Telefon und Telegrafenleitungen vernetzten Bibliothekenverbund kreieren.

Diese Heilsvorstellung von der Verbundenheit durch Kultur besteht auch am Ende des Ersten Weltkriegs fort. In den USA sind es ausschließlich private Träger, (Stiftungen, interuniversitäre Organisationen, der Verband der Bibliothekare usw.), die diese Aufgabe übernehmen. Um einer zentralen Verfügungsgewalt der Regierung vorzubeugen, hat der Kongress die einzige bei Kriegseintritt eingerichtete offizielle Nachrichtenverbindung mit dem Ausland wieder abgeschafft. Bei der Unterzeichnung der Friedensverträge sehen sich dann die amerikanische Presse sowie die Agenturen Associated Press (AP) und United Press International (UPI) mit dem Nachrichtenmonopol konfrontiert, das die Triade der europäischen Agenturen (Havas, Reuter und Wolff) schon seit 1870 ausübt. Vergeblich versuchen sie, die Doktrin vom freien Fluss der Gedanken und der Waren international zu rechtfertigen.

Die damals vorherrschende Vision der intellektuellen Elite, deren Sprachrohr das im Kielwasser des Völkerbunds entstandene Internationale Institut für intellektuelle Zusammenarbeit war, wird bei den Madrider Gesprächen (1933) wie folgt zusammengefasst: „Die Zukunft der Kultur verbindet sich, auch im nationalen Rahmen, aufs Engste mit der Entwicklung ihrer universellen Elemente, die ihrerseits davon abhängt, dass sich die Menschheit als moralische und juristische Einheit konstituiert (...). Die Wahrheit, die durch den Zusammenstoß der Ideen beim Austausch zwischen den zeitgenössischen Denkern entsteht, wird der Welt helfen, die geistige Krise, die sie durchlebt, zu überwinden.“1

Am Rande dieser Utopie einer Gelehrtenrepublik etabliert sich zwischen den Kriegen eine andere Vorstellung von Kultur. Der „Große Krieg“, die erste allumfassende Konfrontation, die Zivilisten und Militärs, Hinterland und Front in das Kriegsgeschehen einbezog, hat verfeinerte Strategien der Informationskontrolle hervorgebracht. Die Erfahrung der Propagandaspezialisten, gewöhnlich „Indoktrination“ genannt, bringt neue Möglichkeiten mit sich, in Friedenszeiten zu regieren. Begriffe wie „Konsensherstellung“ (manufacture of consent) oder „Steuerung der öffentlichen Meinung durch die Regierungen“ (government management of opinion) tauchen auf: Ab den Zwanzigerjahren strukturiert die neue Mechanik des consensus sowohl die ersten Abhandlungen zur Soziologie der Medien und der öffentlichen Meinung – wie die von Walter Lippman oder Harold Lasswell –, als auch die Werke von Public-Relations-Pionieren wie Edward Bernays.2

Management – dieses Wort verweist auf eine tief greifende Umwälzung, die unter der Ägide des Fordismus und des Taylorismus die ganze Geschäftswelt erfasst, von der Arbeitsorganisation bis zur Kontrolle der Konsumsphäre durch Marketing und Werbung. Bereits Ende der Zwanzigerjahre sieht der Italiener Antonio Gramsci im Fortschritt dieser Steuerungstechniken den Beginn einer globalen Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die einen Namen hat: „Amerikanisierung“. Die grausame Schilderung, die Aldous Huxley 1932 in „Schöne neue Welt“ liefert, nimmt die fordistische Zukunft vorweg.

Der Erste Weltkrieg hat Europa und insbesondere Frankreich einen Einbruch der Filmproduktion und den Verlust auswärtiger Märkte eingebracht – zu Gunsten der USA. Die Filmindustrie wird zum Sinnbild der Internationalisierung der Kultur. Aber schon in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre initiieren das Deutschland der Weimarer Republik, Großbritannien und Frankreich eine restriktive Quotenpolitik gegenüber Hollywood. „Die Amerikanisierung überschwemmt uns“, beklagt Luigi Pirandello, der 1934 den Literatur-Nobelpreis erhielt. „Ich habe den Eindruck, ein neuer Leitstern der Zivilisisation ist aufgegangen. Das Geld, das auf der Welt umgeht, ist amerikanisches Geld, und alle Welt, das Leben, die Kultur, läuft ihm hinterher.“3 Die „Massenkultur“ zersetzt die hohe Kultur. Diese Sorge findet ihren Ausdruck bei Autoren wie dem Engländer Frank Raymond Leavis, dem Spanier José Ortega y Gasset oder den Franzosen Georges Duhamel und Robert Aron, Verfasser des für sich sprechenden Pamphlets „Der amerikanische Krebs“ (1931).

Kosmische Dimension der Kultur

ABER auch wenn das konservative Denken den Gegensatz zwischen Ford und Lenin, der Fließbandzivilisation und dem bolschewistischen Materialismus für unversöhnlich hält, geben die politischen Differenzen nicht zwangsläufig Aufschluss über alle Gründe, aus denen heraus die Vermischung von Kultur und Wirtschaft abgelehnt wird. Als André Malraux 1939 in seinem Buch „Esquisse d’une psychologie du cinéma“ behauptet, „Filmemachen ist eine Kunst, aber es ist auch eine Industrie“, setzt er sich durch diese kleine Formulierung scharf von der üblichen Vorstellung ab, die der Einzigartigkeit des Schöpfers und seines künstlerischen Werks einen Ehrenplatz einräumt und sich der Verbindung von Ästhetik und industrieller Logik widersetzt.

„Wenn ihr unsere Dollars nehmt, könnt ihr auch unsere Filme nehmen.“ Bei der Umsetzung des Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich allmählich ab, welche geopolitische Stellung die „Kulturindustrie“ in Zukunft einnehmen wird – ein Begriff, der die kritische Position zahlreicher Intellektueller und Künstler widerspiegelt. Geprägt wurde er um 1944 von den in die USA emigrierten deutschen Philosophen der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, um die fortschreitende Standardisierung, die Massenproduktion und die Herabwürdigung der Kultur in ihrer existentialphilosophischen Rolle als authentische Erfahrung zu geißeln.4 Die amerikanische Regierung versucht, die protektionistischen Maßnahmen zur Förderung der nationalen Filmindustrien in Europa aufzuweichen. Im Mai 1946 unterzeichnen Léon Blum und der amerikanische Außenminister James Byrnes ein Abkommen, durch das die Quotenregelung des Herriot-Dekrets von 1928 aufgehoben wird. Das außergewöhnlich heftige Engagement der gesamten Filmbranche allerdings zwingt Paris zwei Jahre später, dieses Abkommen neu zu verhandeln.

Bei der Gründung der Unesco (UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) im November 1946 zeigt sich, wie schwierig es ist, sich über den Begriff Kultur zu einigen und eine homogene Handlungsphilosophie zu definieren. Doch scheinen alle Mitgliedsländer das Gefühl einer „kosmischen Dimension“ der Kultur zu teilen, wobei die Repräsentativität der Organisation erheblich unter der Beitrittsverweigerung der Sowjetunion leidet. Sie wird sich erst 1954, nach Stalins Tod, zur Mitgliedschaft entschließen. Das Fehlen einer der Großmächte begünstigt die liberale These vom freien Informationsfluss in ihrer amerikanischen Version – bis heute die Doktrin des free flow of information genannt –, als es um die Interpretation und Formulierung der Klausel über die Erleichterung des freien Gedankenaustauschs durch Wort und Bild geht. Die Einwände der amerikanischen Delegation und der Druck, den sie auf die Versammlung ausübt, zeugen von dem Wunsch, den Organismus für politische Zwecke zu instrumentalisieren.5 Einmal mit am Verhandlungstisch, macht es die Sowjetunion genauso.

Am Begriff „Kultur“ scheiden sich die Geister. Das Missgeschick, das Louis Aragon widerfuhr, als er zur Einweihung der Unesco einen Festvortrag halten sollte, ist bezeichnend. Er schlug den Organisatoren folgenden französischen Titel vor: „La culture et le peuple (ou les gens)“; in der englischen Version wurde daraus „Culture and the People“, und in der amerikanischen „Mass Culture“ oder „Culture of the Masses“. Der amerikanische Ausdruck kehrte auf Französisch wieder, und in der Einladung wurde der Vortrag unter dem Titel angekündigt: „Culture des masses“. Aber damit war Aragon noch nicht am Ende seiner Qualen. Als der Text seines Vortrags 1947 veröffentlicht wurde, titelte der Herausgeber der Unesco: „Les élites contre la culture“! Diese Kaskade von Missverständnissen veranlasste den Schriftsteller zu der warnenden Bemerkung: „Nichts vom Programm der Unesco ist jemals durchführbar, wenn sie nicht von Anfang an einen sehr strengen Gebrauch der Worte pflegt.“6

Mit dieser Bemerkung ist das Missverständnis bereits eingeläutet, das in Zukunft hartnäckig zwei Traditionen voneinander scheiden wird: jene Tradition, die popular culture umstandslos mit mass culture gleichsetzt, und jene andere, damals verbreitetere Tradition, für die es undenkbar ist, die beiden Ausdrücke mit einem Gleichheitszeichen zu verbinden. Dem amerikanischen Historiker Daniel J. Boorstin zufolge sind die Einwohner der USA „das erste Volk in der Geschichte, dem eine zentral organisierte und massenhaft produzierte Volkskultur zur Verfügung stand. (...) Wie sieht sie nun aus, unsere Volkskultur? Wo finden wir sie? In einem Land wie dem Unsrigen, das sich durch die Existenz von Verbrauchergemeinschaften auszeichnet und dem Bruttoinlandsprodukt und der Wachstumsrate größte Bedeutung beimisst, hat die Werbung das Herz der Volkskultur erobert, ja sie ist sogar ihr wahrer Prototyp geworden.“7

Unter solchen Vorzeichen kann auch der Begriff „Kommunikation“ nur noch die Geister scheiden. Im Lauf der Sechzigerjahre nimmt eines der richtungweisenden Unesco-Programme Gestalt an, das die humanistische Sicht des Kulturbegriffs vom Tisch fegt. In diesem Jahrzehnt, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen zur „Entwicklungsdekade“ proklamiert, weisen die Experten den Medien eine neue Rolle zu: Sie sollen Modernisierungsstrategien vermitteln. Das Bedürfnis nach Innovation, so wird postuliert, greift zwangsläufig von den hoch entwickelten auf die zurückgebliebenen Länder über. Könnte die Erfahrung des industriellen Marketings, das den amerikanischen Landwirten in der Zeit zwischen den Kriegen so gute Dienste getan hat, nicht auch in anderen Breitengraden Früchte tragen? Gemäß dieser evolutionistischen und berechnenden Konzeption der Entwicklung in „Stadien“ kann eine Nation ihren Aufstieg zur heilbringenden Kultur der Modernisierung erst beginnen, wenn sie „Mindeststandards“ beim Einsatz der Medien erfüllt: zehn Zeitungsexemplare, fünf Radiogeräte, zwei Fernseher und zwei Kinositze für je 100 Einwohner. So wird die Unesco Schauplatz eines großen Tauziehens zwischen der technokratischen Ideologie der Sozialplanung auf der einen und den Plädoyers zu Gunsten des „universell Menschlichen“ und der kulturellen Vielfalt auf der anderen Seite.

Mit dem Eintritt in die postkoloniale Ära kehrt sich das Kräfteverhältnis zwischen den Süd- und Nordländern im gesamten System der Vereinten Nationen um. Die Unesco wird zum Epizentrum aller Diskussionen über den ungleichen Informationsaustausch und den „Kulturimperialismus“. Intoleranz der USA, die an einer strikt merkantilen Sicht des free flow of information festhalten; Doppelzüngigkeit der Sowjetunion, die sich der legitimen Forderungen des Südens bedient, um die Abschottung des eigenen Binnenmarkts zu rechtfertigen; Scheinheiligkeit vieler Länder des Südens, die einen Sündenbock für die eigene Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit suchen: eine einzige Sackgasse. Sowohl die USA als auch die Briten unter Margaret Thatcher ziehen sich, die einen 1985, die anderen 1986, unter dem Vorwand einer „Politisierung“ der Debatten aus der Unesco zurück.

Die Rede von François Mitterrand auf dem Gipfel der größten Industrieländer im Juni 1982 war eine der wenigen offiziellen Stellungnahmen gegen die Ungleichheit des kulturellen Austauschs. Zwei Jahre später schafft der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan radikal neue Bedingungen im Reich der globalen Kommunikation, indem er die Systeme und Netze für den freien Wettbewerb öffnet. Damit beginnt ein Zyklus, von den Gatt-Verhandlungen 1986 bis zum MAI-Projekt des Jahres 1998, der den Liberalisierungsdruck auf den „Kulturmarkt“ ständig erhöht.

dt. Grete Osterwald

* Professor für Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Paris VIII; Autor u.a. von „Histoire de l’utopie planétaire“, Paris (La Découverte) 1999, und „Histoire de la société de l’information“, Paris (La Découverte) 2001.

Fußnoten: 1 Völkerbund, „Coopération intellectuelle: Discussion générale“,Journal officiel, Sonderbeilage, Genf 1933. 2  Siehe dazu insbesondere Walter Lippman, „Public Opinion“, London 1922; Harold Lasswell, „Propaganda Technique in the World War“, New York 1927; Edward Bernays, „Crystallizing Public Opinion“, New York 1923. 3 Luigi Pirandello, Gespräch mit C. Alvaro, L’Italia Letteraria, 14. April 1929. 4  Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, „Kulturindustrie: Aufklärung als Massenbetrug“, in: „Dialektik der Aufklärung“, Amsterdam 1947. 5  Vgl. Tristan Mattelart, „Le Cheval de Troie audiovisuel. Le rideau de fer à l’épreuve des radios et télévisions transfrontières“, Grenoble 1995. 6  Louis Aragon, „Les élites contre la culture“, in: „Les Conférences de l’Unesco“, Paris 1947. 7  Daniel J. Boorstin, „The Rhetoric of Democracy“, Advertising Age, 19. April 1976.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von ARMAND MATTELART