12.10.2001

Geld geht vor Gesetz

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Geld geht vor Gesetz

Von EMMANUEL DEFOULOY *

Seit einigen Jahren, insbesondere seitdem so renommierte Firmen wie Renault und Danone Massenentlassungen angekündigt haben, bekommt die französische Öffentlichkeit Werbeslogans vorgesetzt, die die Akzeptanz von Fabrikschließungen erhöhen sollen. Dabei gehe es eigentlich darum, ganz ohne Entlassungen auszukommen, so die Generalsekretärin der Gewerkschaft CFDT, Nicole Notat. „Die Wiedereingliederungsmaßnahmen müssen so gestaltet sein, dass 95, wenn nicht gar 100 Prozent der Arbeitnehmer wieder eine Beschäftigung finden“, erklärte der Vizepräsident des französischen Arbeitgeberverbandes Medef, Denis Kessler, als der Lebensmittelmulti Danone im April trotz hoher Gewinne Fabriken schloss und dafür von den französischen Verbrauchern mit Boykott abgestraft wurde.

Am 12. März des Jahres 1999 wurde die letzte Produktionsstätte des amerikanischen Textilgiganten Levi Strauss auf französischem Boden geschlossen. Damit verloren im nordfranzösischen La Bassée, unweit des Städtchens Lens, 542 Menschen – 86 Prozent davon Frauen – ihren Arbeitsplatz.1 Was ist aus ihnen geworden? Wie viele haben, zweieinhalb Jahre nach ihrer Entlassung, eine neue Anstellung gefunden? Mit welchem Lohn und zu welchen Bedingungen? Das weiß derzeit, so gründlich man auch nachfragt, niemand zu sagen – aber das ist schließlich auch eine Antwort.

Ob das Unternehmen selbst oder das Büro für „menschliche Ressourcen“ namens Essel, das im Auftrag von Levi’s eine „Jobbörse“ eingerichtet hatte, ob die Gebietskörperschaften, die Abgeordneten oder der Staat – kein Mensch und keine Institution ist diesen Fragen mehr nachgegangen, seit vor eineinhalb Jahren die „Beratungsstelle für berufliche Neuorientierung“ ihre Arbeit einstellte. In ihrer Abschlussbilanz vom 28. Februar 2000 gibt Essel an, dass 161 Personen entweder eine neue Stelle gefunden hatten (inklusive befristeter Arbeitsverhältnisse, Teilzeit- und Interimsbeschäftigungen) oder an einer Weiterbildungsmaßnahme teilnahmen. Lediglich 35 Personen tauchten unter der Rubrik „in unbefristetem Arbeitsverhältnis“ auf. Zudem erhielten 28 die „Beihilfe für ältere Arbeitslose“, befanden sich also in vom Arbeitsamt finanzierter Warteposition auf den Vorruhestand.

Andere Zahlen liegen auch den staatlichen Behörden nicht vor. Auf die Anfrage eines Abgeordneten hin ordnete der Präfekt der Region im August 2001 eine „Überprüfung der Unterlagen“ an. Die örtlichen Arbeitsämter sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, den Werdegang von Arbeitslosen jeweils sortiert nach dem entlassenden Unternehmen zu beobachten. Joëlle Martins, ehemalige CFDT-Gewerkschafterin bei Levi’s, wagte im Sommer 2001 eine vorsichtige Einschätzung: „200 von uns haben irgendetwas gefunden, nicht alle eine unbefristete Stelle. Aber vielleicht ist das noch zu optimistisch.“

Was die ehemaligen Näherinnen der Levi’s 501 betrifft, so haben nach pessimistischen Schätzungen 30 Prozent, nach optimistischen 60 Prozent von ihnen eine neue Arbeit gefunden – sehr viel haben die vollmundigen Parolen also nicht genützt. Die Hauptverantwortung dafür muss bei der Firmenzentrale in San Francisco gesucht werden. Paul Scheltens, Personalmanager der europäischen Levi’s-Niederlassungen, hat die Stirn, zu sagen: „Auch mir wäre sehr an einer besseren Idee zur beruflichen Zukunft der Entlassenen gelegen.“ Dabei hat sich der Konzern mithilfe verschiedener Maßnahmen möglichst rasch aus der Verantwortung gestohlen. Erstens wurden (in einer angeblich großzügigen Geste) Abfindungen gezahlt, die über dem gesetzlich vorgeschriebenen Minimum lagen, obwohl solche „Kofferpackprämien“ wenig zur Wiederbeschäftigung beitragen und inzwischen einhellig scharf kritisiert werden.

Zweitens existierte die Jobbörse nur kurze Zeit. „Zehn Monate ist für ein Unternehmen von dieser Größe mehr als unzulänglich. Im Fall von Levi’s wären eigentlich zwei Jahre nötig gewesen“, meint Claude Jacquin, Chef der Beratungsfirma Anadex. Angesichts der jüngsten Umstrukturierungen in Frankreich plädiert er dafür, die Unternehmen „auf unbegrenzte Zeit zum Nachweis von Ergebnissen zu verpflichten“.

Verräterisch ist drittens die Form der Qualifizierungsmaßnahmen: „Anders als bei Umschulungsfreistellungen“, stellt Frédéric Bruggeman von der Agentur Syndex fest, „sieht die Umschulungsvereinbarung vor, dass das Arbeitsverhältnis zu Beginn der Neuorientierungsphase aufgehoben wird, nicht nach ihrem Abschluss. Damit wird von Seiten der Unternehmen zum Ausdruck gebracht, dass sie kein Interesse am Ergebnis der Qualifizierungsmaßnahmen haben.“

Dieses Desinteresse erklärt zum Teil die quantitativ wie qualitativ schlechte Bilanz der Jobbörse. Bei einer Befragung im Mai und Juni 2000 übten rund zwanzig arbeitslose Arbeiterinnen scharfe Kritik an der Jobbörse und ihren ineffektiven Maßnahmen. Und schließlich hatte Levi’s es abgelehnt, die Fabrik für den symbolischen einen Franc an den nordfranzösischen Städteverbund um Lille abzutreten, sondern stattdessen einen privaten Käufer vorgezogen. So harrt das Areal bis heute auf seine industrielle Wiederbelebung.

Eigentlich hätte in diesem Fall ein umfangreiches Paket von Maßnahmen realisiert werden müssen. Die meisten der Frauen hatten zwischen ihrem fünfzehnten und achtzehnten Lebensjahr bei Levi’s angefangen, manche als ungelernte Arbeiterinnen, andere mit einem Berufsschulabschluss als Näherin in der Tasche. Im einstigen Kohlerevier von Lens waren im September 2000 16,5 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos, das sind 3 Prozent mehr als im Durchschnitt der Region Nord-Pas-de-Calais, wo die Arbeitslosenrate insgesamt schon um 4 Prozent über dem französischen Mittel von 9,5 Prozent liegt.

In diesem Kontext fällt es schwer, zu glauben, dass sich die Firma Levi’s an die Regelungen des Arbeitsgesetzes gehalten hat, in dem ein Sozialplan vorgesehen ist, und zwar „für Personal, dessen Entlassung sich nicht vermeiden lässt, insbesondere für ältere Beschäftigte und Arbeitnehmer, die es aufgrund ihres sozialen oder fachlichen Profils besonders schwer haben, einen neuen Arbeitsplatz zu finden“.

Aber auch die staatlichen Institutionen haben, statt auf einem Sozialplan zu bestehen, den Textilriesen Levi’s ziehen lassen und nicht mehr verlangt als Abfindungszahlungen und zehn Monate „Jobbörse“. Wie in der gegenwärtigen Gesamtsituation nicht anders zu erwarten, drängte die unternehmerische Freiheit alle anderen Gesichtspunkte in den Hintergrund, und so konnte Levi’s sich aus der Verantwortung stehlen, ohne allzu viel Kritik auf sich zu ziehen. Die Schuldzuweisungen gehen allesamt an die Arbeiterinnen. Sie gelten als verantwortlich, weil sie, so der wiederholt vorgebrachte Vorwurf, „unfähig“ oder „nicht willens“ seien, eine neue Beschäftigung zu finden.

Warum die Erfolge der so genannten beruflichen Neuorientierung so bescheiden ausgefallen sind, wissen Levi’s, Essel und die staatlichen Institutionen mit den immer gleichen Gründen zu erklären. So sagt beispielsweise ein hoher Beamter des regionalen Arbeitsamts: „Es handelt sich hier um einen klassischen Fall von Leuten, die ihr ganzes Berufsleben in ein und derselben Fabrik verbracht haben. Überwiegend sind es Frauen, die nicht sehr flexibel sind und im Branchen- und Regionalvergleich ziemlich hohe Löhne bezogen haben.“ Mit dieser vordergründigen Erklärung werden die 169 Personen in der Abschlussbilanz abgetan, „die die Unterstützung der Beratungsstelle für berufliche Neuorientierung nicht in Anspruch genommen haben“.

Essel betont „die große Angst vor Veränderung“ und spricht von „Personen, die keine Beschäftigung mehr aufnehmen wollen“, sowie von „Lohnangeboten, die unter den bisherigen Bezügen lagen“. Nur auf die Schlussfolgerung, dass man auf diese Menschen zugehen müsste, statt sie sich selbst zu überlassen, kommt anscheinend niemand. Die Arbeiterinnen von Levi Strauss hatten es drei Jahrzehnte lang mit einem beschützenden und alles regelnden Paternalismus zu tun, bis sie plötzlich keiner mehr brauchte. Von ihrer Firma bekamen sie nur noch hinhaltende Erklärungen zu hören, und die staatlichen Institutionen scherten sich nicht um sie.

„Lebenslanges Lernen“ kam an diesen Arbeitsplätzen nicht vor. „Dreißig Jahre hindurch sind wir zu Levi’s-Menschen erzogen worden. Auf die Arbeitssuche hat uns keiner vorbereitet“, sagt Joëlle Martins. „Jetzt mit dem Abstand wird mir klar, dass man die Leute unter Druck gesetzt hat, gerade als sie vollkommen niedergeschmettert waren. Man hat sie in einen neuen Job getrieben, ohne dass sie das Ende ihres bisherigen Berufslebens hätten verarbeiten können. Man hätte sie ein Vierteljahr in Ruhe lassen sollen, ihnen Zeit geben sollen, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, mit ärztlicher und psychologischer Unterstützung. Dann hätten sie wirklich etwas anfangen können mit der Beratungsstelle. Als die Leute die Jobbörse brauchten, ist sie eingestellt worden.“

Auch war die Rückkehr ins Arbeitsleben gleichbedeutend mit einem Kaufkraftverlust, und zwar von einem Tag auf den anderen. Bei Levi’s verdienten die Arbeiterinnen zwischen 5 500 und 11 000 Franc (ca. 1 600 bis 3 400 Mark). Essel erklärt dazu unmissverständlich: „Das Lohnniveau erschwerte ihre Vermittlung. Wir bieten marktübliche Stellen an. Andere können wir nicht aus dem Ärmel zaubern. Und wir können kein Unternehmen dazu bewegen, bessere Löhne zu zahlen.“ Durch die so genannten Umstrukturierungen, von denen in den letzten zwanzig Jahren ein Großteil der aktiven Bevölkerung Frankreichs betroffen war, geraten die Löhne massiv unter Druck, was sich verheerend auf die Nachfrage auswirkt.

Aus Amerika eingeflogen

LEVI’S konnte sich nicht zuletzt deshalb aus der Verantwortung stehlen, weil der Konzern seine Strategie stets verschleiert hat. Im Mai 1998 kam Firmenchef Robert D. Haas aus den USA in die französische Fabrik. Es war eine Premiere. Wenige Tage später schickte er einen Brief: „Vor allem und ganz besonders danke ich Ihnen dafür, dass Sie die hundertmillionste Jeans für mich genäht haben. Ich werde sie mit Stolz und Freude tragen, und sie wird mich an die 542 wunderbaren Menschen aus La Bassée erinnern. Mit den besten Wünschen für die Zukunft, Ihr . . .“ Vier Monate später gab das Unternehmen die Schließung der Fabrik bekannt. Vielen Arbeiterinnen fiel es schwer, diese Kröte zu schlucken – zumal Levi’s nicht zugibt, dass es sich im Grunde um die Verlagerung einer Produktionsstätte handelt.

Offiziell ist von „Überkapazitäten“ die Rede. In Wahrheit macht der Konzern eine radikale Kehrtwende und gleicht seine Unternehmensstrategie seinen Hauptkonkurrenten an. Das heißt: Konzentration aufs Marketing und Aufgabe der betriebseigenen Produktionsstätten; die Produktion wird in Billiglohnländer verlagert und von lokalen Subunternehmern abgewickelt. Aber Levi’s hat einen Ruf zu verlieren: Schließlich ist Unternehmenschef Robert D. Haas im November 1997 von den Vereinten Nationen für die verbesserten Arbeitsbedingungen seiner Beschäftigten mit einer Auszeichnung bedacht worden.2

Das Unternehmen dementiert also. „Wir haben beschlossen, eine Niederlassung zu schließen, nicht die Produktion zu verlagern. Wir haben eine einzige Produktionsstätte in der Türkei, die ist 1988 errichtet worden, seither haben wir kein neues Werk aufgemacht“, erklärt Carl von Buskirk, der Direktor von Levi’s Europa, Naher Osten und Afrika.3 Acht Monate später, am 3. Juni 1999, widerspricht sich das Unternehmen selbst in einem Kommuniqué, das von der türkischen Presse veröffentlicht wird: „Die Umstrukturierungen von Levi Strauss USA haben sich positiv für die Türkei ausgewirkt. Ein großer Teil der Auslandsinvestitionen von Levi’s floss in das Land am Bosporus. Im April 1997 wurde das Firmenprojekt von Denimko realisiert. Für das Jahr 2000 ist die Produktion von 3,7 Millionen Hosen geplant. Die Jugend Europas schätzt die türkische 501. Die hier hergestellten Jeans werden nach Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Belgien, Holland und Luxemburg exportiert.“4

Das Los der französischen Arbeiterinnen ist also alles andere als zufällig. Sie gehören zu den Bauernopfern der weltweiten Neuorganisation der Arbeit. Levi’s konnte auch deshalb so agieren, weil das Unternehmen auf keinen großen Widerstand stieß. Immer wieder führen die Medien das Beispiel von Renault-Vilvorde an, um die angeblich segensreichen Wirkungen von Sozialplänen herauszustellen. Renault-Vilvorde aber war ein untypischer Fall: Hier entstand durch gewerkschaftliche Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinweg, durch den Protest von Politikern und das starke Interesse der Medien ein Kräfteverhältnis, das sich nicht auf andere Situationen übertragen lässt.5

So geriet der französische Automobilhersteller ernsthaft unter Druck. Das Ergebnis waren die zweijährige Einbindung des Unternehmens in die Vermittlung entlassener Arbeitnehmer sowie der Erhalt von 400 Arbeitsplätzen in der belgischen Fabrik für die Beschäftigten, die am stärksten von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht gewesen wären.

Im Konflikt mit Levi’s dagegen haben die französischen und belgischen Gewerkschaften zu keinem Zeitpunkt gemeinsam gehandelt.6 Und obwohl die regionalen Medien den Fall aufmerksam verfolgten, war in den überregionalen Zeitungen kaum die Rede davon. Von staatlicher Seite schließlich kamen überhaupt keine Einwände gegen die Schließung des Werks. Ohne die entschlossene Einmischung von Politik und Medien jedoch sind die Bemühungen um Sozialpläne zum Scheitern verurteilt. Und von Seiten der Lokalpolitiker, der Gewerkschafter und des Unternehmens besteht natürlich wenig Veranlassung, dieses Scheitern an die große Glocke zu hängen. Hier wird einer der Hauptschwachpunkte des derzeit diskutierten Gesetzentwurfs zur sozialen Modernisierung deutlich: die fehlende Ergebniskontrolle der Sozialpläne.

Viele Levi’s-Arbeiterinnen machten im Frühjahr 2000 keinen Hehl daraus, dass in ihren Augen die Politik sich einfach herausgehalten hat. Namentlich wurde die damalige Arbeits- und Solidaritätsministerin und stellvertretende Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry, mehrfach genannt. Sie glänzte in der schwierigen Phase durch Abwesenheit. Ende Oktober 1999 hatte sie im Parlament die Frage gestellt, wie man denn eine Fabrik schließen könne, in der Arbeiterinnen „die berühmten Jeans zu einem Viertel des Preises produzieren, den sie dann im Laden kosten“. Womit sie das Problem zwar angesprochen hatte, ohne ihm aber jemals weiter nachzugehen.

Mehr als eine notdürftige Flickschusterei haben die staatlichen Institution also nicht geleistet. Am Tag der Schließung zerrissen einige Levi’s-Arbeiterinnen ihre Wählerkarte7 und schickten sie dann an Martine Aubry. Bei den Kommunalwahlen im März 2001 konnte die Linke ihre Positionen im Allgemeinen halten, nur im Wahlkreis La Bassée gaben über 58 Prozent der Wähler ihre Stimme den Rechtsparteien.

dt. Passet/Petschner

* Journalist bei Agence France-Presse.

Fußnoten: 1 Gleichzeitig hat Levi’s drei belgische Fabriken, in denen 931 Menschen beschäftigt waren, geschlossen, eine davon in Deurne in der Nähe von Antwerpen. Die Fabrik in La Bassée hatte eng mit Deurne zusammengearbeitet. Nach Angaben aus Belgien war bis September 2000 noch etwa ein Drittel der Freigesetzten ohne Arbeit. 2 Naomi Klein, „No Logo“, München 2000. 3 Le Soir, Brüssel, 30. September 1998. 4 Zitiert nach dem Dokumentarfilm „Ouvrières du monde“ von Marie-France Collard. 5 Eric Lagneau, Pierre Lefébure, „La Spirale de Vilvorde. Médiatisation et politisation de la contestation. Un exemple d’européanisation des mouvements sociaux“, Cahiers du Cevipof, Paris, Nr. 22, 1999. 6 Laurence Vanommeslaghe, „Deux formes nationales d’opposition ouvrière à la délocalisation de Levi Strauss“, Revue française de science politique, Nr. 3, Paris, Oktober/November 2001. 7 Französische Wähler bekommen mit 18 eine Wahlkarte, die sie bei jeder Wahl vorlegen müssen.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von EMMANUEL DEFOULOY