12.10.2001

Die Demokratie ist eine Baustelle

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Die Demokratie ist eine Baustelle

Von COMI M. TOULABOR *

In Afrika vollzieht sich der politische Machtwechsel auf ganz unterschiedliche Weise: spektakulär in Senegal (März 2000), stürmisch in der Elfenbeinküste (Winter 2000/2001), unaufgeregt in Ghana und Benin (2001), überhaupt nicht in Uganda (Juli 2001). Zugleich gibt es „Dinosaurier“-Diktatoren wie Paul Biya und Gnassingbé Eyadéma in Kamerun und Togo, die sich ihrer Ablösung immer wieder erfolgreich widersetzen. Der Fortschritt der Demokratie in Afrika tut sich schwer. Doch obwohl sich konkrete Ergebnisse nur langsam einstellen, ist auf dem gesamten Kontinent eine neue politische Kultur im Entstehen, die das Profil des afrikanischen Demokraten vorzeichnet. Die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten, die Repräsentation staatlicher Autorität, das Verhältnis zwischen dem Recht und den Institutionen, zwischen der Macht und der Art ihrer Ausübung lassen eine langsame, aber unaufhaltsame Veränderung in den Köpfen der Menschen erkennen.1

Die afrikanischen Länder haben einen weiten Weg hinter sich. Und die neue politische Kultur ersteht aus den noch rauchenden Ruinen von Diktaturen, deren Merkmal die autokratischen – häufig ebenso jämmerlichen wie korrumpierten – Figuren an der Spitze sind, die sich aufführen wie das dominierende Männchen an der Spitze einer Gnuherde. Einer Herde, zu der die Bevölkerung mittels eines politischen (sprich: Herausbildung der Staatsnation) und eines ökonomischen „Gosplan“ (sprich: Entwicklung) umgeformt wurde. In den meisten Ländern waren die einheimischen Kulturen zu unerschöpflichen Quellen der Legitimation für unsinnige und widersprüchliche Aktionen der Machthaber verkommen.2 In karikaturhafter Zuspitzung gilt dies für Togo unter Gnassingbé Eyadéma und für Zaire unter Marshall Mobuto. In den Achtzigerjahren begannen die autoritären Fassaden aufgrund interner Konflikte und klandestiner Widerstandsaktionen zu bröckeln. Durch die Strukturanpassungspläne bereits erschüttert, war der ganze Bau dann zehn Jahre später, als die Sturzfluten der Demokratie losbrachen, tatsächlich vom Einsturz bedroht. Der Wunsch nach Meinungsfreiheit und wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand äußerte sich in einer Fülle neu gegründeter Vereine, Gewerkschaften und Parteien. Er artikulierte sich aber auch in der Entwicklung der lokalen Presse und der Mobilisierung der Studenten, der Jugend, der Frauen, der von der Macht ausgeschlossenen Eliten, einer Vielzahl von NGOs und religiösen Bewegungen.3 Das findet seinen Ausdruck in einer wachsenden Untergrundliteratur, in Flugblättern, Graffiti und den privaten politischen Diskussionszirkeln, die unter Afrikanern äußerst beliebt sind.

Eine entscheidende Rolle spielten diese Bewegungen beim politischen Machtwechsel in Senegal im Frühjahr 2000 und in der Elfenbeinküste im Winter 2000/2001.4 Das Auftreten dieser Phänomene, die noch vor zehn Jahren praktisch unbekannt waren – oder wie etwa in Senegal zu Zeiten Leopold Senghors einer strikten Kontrolle unterlagen –, markiert an sich schon einen bemerkenswerten sozialen und politischen Wandel.

Die entscheidende Veränderung zeigt sich jedoch in der Vorstellung, die Afrikaner von einem guten Politiker haben. Nach dem gängigen Bild muss ein Politiker sich vor allem „mit Papier auskennen“, also ein „Gebildeter“ sein, der sein Wissen aus der Schule des Kolonialismus bezieht.5 Dies war regelmäßig eines der Qualifikationsmerkmale in den „Kriterienkatalogen“, die während des demokratischen Aufbruchs von 1990 zirkulierten. Es ist kein Zufall, dass an der Spitze mancher Übergangsregierungen einige dieser „Technokraten“ standen. Sie kamen zumeist aus großen internationalen Organisationen, so zum Beispiel Nicéphore Soglo in Benin, André Milongo in Kongo-Brazzaville oder Alassane Ouattara in der Elfenbeinküste. Doch die Öffentlichkeit hat der traditionellen Einheit von Wissen und Macht eine neue Dimension hinzugefügt: Sie verlangt heute zusätzlich eine strenge moralisch-ethische Verantwortlichkeit, eine beispielhafte Integrität der Herrschenden, was eine Moralisierung des politischen Lebens bedeutet. Entsprechend entstehen heute allenthalben staatliche Ämter zur Korruptionskontrolle, wie vor allem in Benin, Kamerun und Ghana. Sie sind zwar zumeist komplizierte Konstrukte, die den früheren potemkinschen Dörfern gleichen und auch häufig kurz nach der Gründung wieder eingehen. Dennoch zeigt sich darin, dass die Öffentlichkeit den Luxussport Korruption nicht mehr durchgehen lassen will.

Der demokratische Kriterienkatalog sieht zwingend vor, das Oberhaupt durch transparente, korrekte Wahlen zu bestimmen. Damit wird es auf seinen Status als Mensch reduziert und verliert den Status als „Ältester“ und alles ordnende Hand, aber auch als Produzent theologischer Wahrheiten, der seinen Bannfluch gegen die Opposition schleudern kann. Das gewählte Oberhaupt ist von lokalen Assoziationen umgeben, die Alarm schlagen, sobald Menschenrechtsverletzungen vorkommen, wie in Burkina Faso bei der Ermordung des Journalisten Norbert Zongo. Auch zögern die Afrikaner nicht mehr, auf die Straße zu gehen und öffentlich gegen einen gewählten Führer zu protestieren, der sich in ihren Augen etwas zu Schulden kommen lässt. Solche Proteste sind zwar nichts Neues, doch nach Umfang und Art haben sie sich deutlich verändert. Im Vergleich mit den symbolischen Protestformen der Vergangenheit – Gewerkschaftsbewegungen, Hungerstreiks, Aktion „Geisterstadt“, Mobilisierung der Straße usw. – sind sie sehr viel manifester geworden. So rief die kongolesische Opposition im Frühjahr 2000 mehrfach zu einer Aktion „Geisterstadt“ auf, um die Anwendung der Friedensverträge von Lusaka einzufordern.6

Solche Momente der Krise und der Wahrheit schlagen häufig um in gewalttätige Szenen mit bisweilen tödlichen Folgen. Die Protestkultur hat also eine ungeheure Entwicklung genommen und verleiht den jungen Afrikanern politische Ausdrucksmöglichkeiten, die sie inzwischen für völlig normal halten. So bauten etwa im Juni 2001 junge Arbeitslose in Port Gentil (Gabun) aus Protest gegen ihre Marginalisierung Barrikaden und plünderten Läden.

Gleichzeitig können sich aber durchaus traditionelle Visionen und okkultistische Praktiken behaupten. Im neuen Umfeld politischer Konkurrenz, in dem Macht nur noch auf Widerruf zugeteilt wird, suchen die Konkurrenten in der verstärkten Rückkehr zu solchen Praktiken nach Bestätigung und Sicherheit.7

Mit List und Tücke und Repression

WO man keine Wahlfälschungen organisiert, um eine Niederlage abzuwenden, bedient man sich gelegentlich auch der Ordnungs- und Sicherheitskräfte, um sich über die demokratischen Institutionen hinwegzusetzen und an der Macht festzuhalten. Der ehemalige senegalesische Präsident Abdou Diouf verstand es lange Zeit, zwischen beiden Seiten zu lavieren, bis er im März 2000 seinem alten Rivalen Abdoulaye Wade weichen musste. Wenn die Konkurrenten um jeden Preis gewinnen wollen, haben sie keinerlei Skrupel mehr, zur Mobilisierung ihrer Anhänger an die ursprünglichen Identitäten zu appellieren. Das führt bisweilen auf abenteuerliche politische Irrwege, wie die Ideologie der „Ivoirité“ in der Elfenbeinküste, oder sogar zu Bürgerkriegen, wie in den beiden kongolesischen Staaten.

Zwar haben Willkür und Repression abgenommen, doch müssen Journalisten, sofern sie nicht einfach ermordet werden, weiterhin mit strengen Sanktionen rechnen. Manchmal werden sie für kleinste Versehen belangt und von einer stets willfährigen Justiz verfolgt, die über die notorische Korruption der Herrschenden nur allzu bereitwillig hinwegsieht. So wurde Puis Njawe, Journalist in Kamerun, im Januar 1998 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er eine Andeutung über eine Krankheit von Präsident Paul Biya gemacht hatte.

Dennoch wird in Afrika die Forderung nach einer Legitimierung der Macht immer lauter, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen habe sich Macht von unten, also durch Wahlen, zu legitimieren, zum anderen müssten die Machthaber kontrolliert und zur Rechenschaft gezogen werden können. Solche Forderungen gehen allerdings mit Visionen einher, die noch von recht monarchischen Vorstellungen geprägt sind. Die politischen Eliten Afrikas erneuern sich eben nur sehr, sehr langsam.

Ein Wandlungsprozess ist also durchaus im Gang, aber der muss in Zukunft sowohl in die Tiefe als auch in die Breite gehen: Er muss die individuellen und kollektiven Verhaltensweisen durchdringen, und er muss breitere Schichten der Bevölkerung erfassen. Das Auffällige an den demokratischen Prozessen in Afrika ist, dass es keine eindeutigen gesellschaftlichen Träger gibt, die sich die demokratischen Ideale und Werte wirklich zu Eigen machen würden. Von Ausnahmen abgesehen kämpfen die gebildeten Eliten nicht unbedingt für demokratische Prinzipien, sondern sehr viel eher für die Eroberung der Macht, weshalb man sie mit guten Gründen als „Konventionsdemokraten“ bezeichnen könnte. Ein Fortschritt wäre es, wenn sich neben den Menschenrechtsorganisationen noch weitere Vereinigungen formieren würden wie zum Beispiel Verbände, in denen sich die Nutzer der miserablen öffentlichen Dienstleistungen organisieren. Denn die Ungerechtigkeiten des täglichen Lebens, die Willkür und die Brutalität beginnen häufig an den Schaltern der staatlichen Behörden.

Die städtischen Mittelschichten, die die Rolle eines demokratischen Vektors spielen könnten, wurden seit den Achtzigerjahren durch die von außen diktierten Strukturanpassungspläne niedergemacht und sind heute in den meisten afrikanischen Ländern praktisch nicht mehr existent. Die ländliche Bevölkerung bleibt stumm oder lässt sich zumindest nicht vernehmen. Die ungewisse Ernährungslage, die gravierenden Mängel in der medizinischen Versorgung und im Schulwesen, die flächendeckende Ausbreitung von Aids, der Analphabetismus und die Arbeitslosigkeit – all dies summiert sich zu einer regelrechten Gefährdung der Existenzgrundlage. Diese existenzielle Gefährdung hat – zusammen mit den Schändlichkeiten der Machthaber und der Schwäche der Oppositionsparteien – dazu geführt, dass die Demokratie auf der Prioritätenliste zurückgefallen ist.

Dennoch ist offenkundig, dass die afrikanischen Politiker, ob sie durch demokratische Verfahren bestellt wurden oder eben nicht, ihre Macht nicht mehr so ausüben können wie früher. Sie kommen nicht mehr ohne Verfassungen und Wahlen aus, und sie wissen, dass sie nicht mehr – unter Berufung auf den Gosplan und den Kalten Krieg – massive Menschenrechtsverletzungen begehen können, ohne dass sie riskieren, in Schwierigkeiten zu geraten. Das gilt zum Beispiel für Hissène Habré, den früheren Diktator des Tschad, der vor der Justiz seines eigenen Landes nach Senegal geflüchtet ist.

Seit über zehn Jahren spielen sich in den afrikanischen Ländern viele Veränderungen ab, doch kommen sie nur langsam voran, und die Demokratie ist eine Baustelle, auf der viele herumwerkeln, ohne jemals fertig zu werden. Die Festigung demokratischer Strukturen in Afrika hängt zum einen vom Kräfteverhältnis zwischen der Gesellschaft, den Individuen und den Institutionen ab, zum anderen davon, ob diese noch fragilen Strukturen sich in allen Schichten der Gesellschaft durchsetzen.

dt. Matthias Wolf

* Wissenschaftler am Centre d’étude d’Afrique noire der Universität Bordeaux-IV.

Fußnoten: 1 Siehe Richard Banégas, „La démocratie est-elle un produit d’importation en Afrique: l’exemple du Bénin“, in „Démocraties d’ailleurs: démocraties et démocratisations hors d’Occident“, Paris (Karthala) 2000. 2 Siehe Achille Mbembe, „De la postcolonie: essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine“, Paris (Karthala) 2000. 3 Siehe Florence Santos da Silva, „Frauen in Togo: Palaver für die Gleichberechtigung“, Le Monde diplomatique, Februar 2001. 4 Siehe Philippe Leymarie, „Düstere Aussichten für die Demokratie in Westafrika“, Le Monde diplomatique, März 2001. 5 Aminata Diaw, „La démocratie des lettrés“, in: „Sénégal. Trajectoires d’un Etat“, Codesria/Karthala, Dakar/Paris (Karthala) 1992. 6 Siehe Colette Braeckman, „Die Demokratische Republik Kongo und Afrikas ,Erster Weltkrieg‘“, Le Monde diplomatique, April 2001. 7 Michel Dobry, „Sociologie des crises politiques: la dynamique des mobilisations sectorielles“, Paris (Presses de la Fondation nationale des sciences politiques) 1992.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von COMI M. TOULABOR