12.10.2001

Das Dilemma der pakistanischen Generäle

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Das Dilemma der pakistanischen Generäle

Von SELIG S. HARRISON *

Als die pakistanische Armee im Oktober 1999 den gewählten Ministerpräsidenten Nawaz Scharif absetzte und selbst die Macht übernahm, änderte sich das politische Kräftegleichgewicht in Pakistan schlagartig. Damals erlangten erstmals militante islamistische Gruppen, die enge Verbindungen zu Ussama Bin Laden in Afghanistan unterhalten, ein Vetorecht über die pakistanische Außen- und Verteidigungspolitik. Zwar stellte das Militärregime in Islamabad eine gemäßigte, proamerikanischen Galionsfigur an seine Spitze, doch dieser General Pervez Musharraf war von Anfang an in eine Clique entschlossen nationalistischer Generäle eingebunden. Diese Gruppe hatte über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren gezielt ein eng geknüpftes Netzwerk von Zellen militanter Islamisten aufgebaut, die als Speerspitze ihrer Strategie im Kaschmir-Konflikt fungieren, also zur Destabilisierung Indiens beitragen sollten.

Der wahre Machthaber in Islamabad ist jedoch Generalleutnant Mohammed Aziz, der beim Militärputsch von 1999 als stellvertretender Generalstabschef der Armee (unter Musharraf) eine Schlüsselrolle gespielt hatte und inzwischen zum Kommandeur des in Lahore stationierten Armeekorps befördert wurde.

Präsident Musharraf stammt aus einer Flüchtlingsfamilie, die nach dem Unabhängigkeitskrieg aus Indien umsiedelte, hat also in Pakistan keine endogene ethnische Basis. Seine Muttersprache ist Urdu, die von General Aziz dagegen Pandschabi, also die Sprache der wichtigsten pakistanischen Provinz Pandschab. Aziz ist zugleich eine Führungsfigur des Sudhan-Clans, einer eng vernetzten Bruderschaft mit etwa 75 000 Mitgliedern und stark militärisch und religiös geprägten Traditionen, die mit der Provinz Poonch etwa die Hälfte des pakistanischen Teils von Kaschmir kontrolliert.1

Die Anfang 1999 erfolgte Konfrontationsstrategie gegenüber Indien hat Aziz selbst ausgeheckt, der einen Großteil seines Militärdienstes in Kaschmir verbracht hatte. Diese Konfrontation begann mit der pakistanischen Invasion in der Kargil-Region, die auf indischer Seite an die Waffenstillstandslinie in Kaschmir grenzt. Während des Afghanistankrieges hatte Aziz die Aktivitäten des pakistanischen Geheimdienstes in Afghanistan geleitet und dabei Ausbildungslager für zwei islamistische Gruppen gegründet, die eine Schlüsselrolle innerhalb des Netzes militanter islamistischer Organisationen spielen, die beiderseits der pakistanisch-afghanischen Grenze operieren. Die wichtigste dieser Gruppen ist die Lashkar-e-Taiba, deren Mitglieder vornehmlich aus Pakistan stammen, der aber auch viele Afghanen angehören, die tatsächlich für die Geheimpolizei der Taliban arbeiten und die Opposition gegen die Taliban ausschalten sollen. Die zweite wichtige Gruppe ist die Harekat-al-Ansar, die im Januar 2000 ein indisches Verkehrsflugzeug entführte. Die USA hatten diese Gruppe bereits 1997 als „terroristische Organisation“ klassifiziert und ihre Lager 1998 – nach den Angriffen auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania – im Zuge der Luftangriffe gegen die Infrastruktur der Ussama-Bin-Laden-Gruppe mit Marschflugkörpern attackiert.

Die Hardliner-Mentalität, die heute innerhalb der pakistanischen Streitkräfte tonangebend ist, geht ursprünlich auf den Unabhängigkeitskampf von Bangladesch zurück, in dem die Bangladescher von Indien militärisch unterstützt wurden. Die demütigende Niederlage von 1971 im damaligen Ostpakistan markiert in der Geschichte der pakistanischen Armee einen entscheidenden Wendepunkt. Seit dieser Zeit ist eine komplette neue Offiziersgeneration herangewachsen, die verbittert darauf sinnt, es den Indern endlich heimzuzahlen. Dieser Generationswechsel geht einher mit der Ablösung der britisch ausgebildeten „Sandhurst“-Generation, also von kosmopolitischen, aus der gesellschaftlichen Elite rekrutierten Offizieren – deren klassischer Repräsentant der spätere Präsident Ayab Khan war –, durch eine neue Generation von nationalistisch borniert denkenden Offizieren aus der bäuerlichen Bevölkerung und der Mittelklasse. Viele Offiziere dieser neuen Generation sind für die religiösen Aufrufe islamischer Gruppen empfänglich, die im Lauf des Afghanistankrieges Zulauf bekommen hatten, und zwar dank der offiziellen Förderung durch das damalige Zia-ul-Haq-Regime.

Zia baute gezielt eine mächtige Gruppe gleich gesinnter Offiziere auf, die ihr Machtzentrum in den Nachrichtendiensten hatte und die ideologisch durch eine Mischung aus antiindischem Nationalismus und messianischem Islam gekennzeichnet war. Zia erklärte am 29. Juni 1988, sechs Wochen vor seinem Tod, in einem Gespräch, dass er ein „neues strategisches Bündnissystem“ in Südasien anstrebe. Pakistan brauche einen Satellitenstaat in Kabul, um seine Westfront abzusichern und sich auf die Front mit Indien konzentrieren zu können, ohne ein proindisches Afghanistan fürchten zu müssen. Zudem glaubte Zia an die Bestimmung Pakistans als führende Kraft einer panislamischen Konföderation: „Ihr Amerikaner habt uns als Frontstaat gewollt. Indem wir euch geholfen haben, haben wir das Recht erworben, in Afghanistan ein Regime nach unseren Vorstellungen einzurichten. Als Frontstaat haben wir Risiken übernommen, und jetzt werden wir nicht zulassen, dass in dieser Region wieder der indische und der sowjetische Einfluss dominieren und wir uns territorialer Ansprüche erwehren müssen. Dies wird ein wahrhaft islamischer Staat werden, eine islamische Konföderation als Teil eines wiedererweckten Panislamismus, der eines Tages, Sie werden es sehen, auch die Muslime der Sowjetunion für sich gewinnen wird. An der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan wird man keine Pässe brauchen. Und womöglich werden sich auch Tadschikistan und Usbekistan anschließen, und irgendwann vielleicht sogar der Iran und die Türkei.“

Auf dass die Russen es schwer haben

DER aktuelle Aufstieg des militanten Islamismus in Südasien verdankt sich der unkritischen Unterstützung durch die USA, die Zia und seinem Geheimdienst ISI (Interservices Intelligence Directorate) während des Krieges in Afghanistan gewährt wurde. Nachdem die Russen den Fehler gemacht hatten, sich in Afghanistan zu verstricken, verfolgte die Reagan-Regierung kurzsichtigerweise nur noch ein einziges Ziel: den Russen das Leben schwer zu machen und sie in Afghanistan festzunageln, um so den sowjetischen Druck an anderen Fronten zu mildern. Damit machten die USA den historischen Fehler, Pakistan darüber entscheiden zu lassen, an welche afghanischen Widerstandsgruppen die drei Milliarden Dollar, die die USA und ihre Freunde ausschütteten, verteilt werden sollten. Der Großteil dieser drei Milliarden Dollar ging an die Gruppen militanter Islamisten, die nur eine Minderheit der Bevölkerung repräsentierten, aber die Gunst des pakistanischen ISI genossen.

Doch der amerikanische Geheimdienst machte einen weiteren Fehler. Sie ermunterte islamische Kämpfer aus aller Welt, nach Afghanistan zu gehen und sich dem Dschihad anzuschließen. So wurde Afghanistan im weiteren Verlauf des Krieges während der 1980er-Jahre zur geografischen Basis für Bin Laden und alle möglichen verwandten Gruppen. Nachdem die Russen aus Afghanistan abgezogen waren, wurde dieser Zustrom von „Dschihadis“ (Gotteskriegern) aus anderen Teilen der islamischen Welt noch stärker, und zwar unter aktiver Förderung durch ISI und CIA. Auf die Warnung, dass die Vereinigten Staaten im Begriff seien, ein Monster zu erzeugen, antworteten damals die amerikanischen Verantwortlichen: Je militanter die „Dschihadis“ sind, desto fanatischer werden sie gegen die Russen kämpfen. Viele der früheren ISI-Generäle, die in Pakistan heute Schlüsselpositionen in dem erneut an die Macht gelangten Militärregime einnehmen, waren damals für den Import dieser ausländischen „Gotteskrieger“ verantwortlich.

Das ISI schanzte den militanten Gruppen die Hilfsgelder zu, obwohl diese in der afghanischen Bevölkerung weit schwächer verankert waren als die gemäßigten Elemente, die sich auf die paschtunischen Stämme stützten. Die Pakistanis befürchteten nämlich, die Paschtunen – die zahlenmäßig stärkste Ethnie Afghanistans – könnten nach dem Krieg ihren alten Anspruch auf die nordwestliche Provinz Pakistans erneuern.2 Diese von Paschtunen bewohnte Provinz an der Grenze zu Afghanistan war noch von der britischen Kolonialmacht erobert und 1947 dem neu begründeten Staat Pakistan zugeschlagen worden.

Ziel des ISI war es, afghanische Kollaborateure zu finden, die imstande wäre, nach dem Krieg ein auf Pakistan gestütztes Klientenregime zu gründen und zu behaupten. Als die Russen abgezogen waren, setzte das ISI zunächst auf Gulbuddin Hekmatjar. Doch Pakistans „Mann in Kabul“ genoss nur geringen Rückhalt in der Bevölkerung und wurde fallen gelassen, als eine geeignetere Gruppierung auftauchte. Die Taliban waren eine authentisch afghanische Reaktion auf die Korruption, die in den vom ISI aufgebauten Widerstandsgruppen herrschte.

Im Gegensatz zu Hekmatjar hatten die Mullahs, die hinter der neuen Bewegung standen, erheblichen Rückhalt in der eigenen Gesellschaft. Aber um effektiv zu operieren, brauchten sie Waffen und Geld, und beides erlangten sie nur mit saudischer und pakistanischer Hilfe. Die militärischen Erfolge der Taliban wurden nicht von den Studenten aus den Koranschulen (Madrassen) errungen. Entscheidend war vielmehr der Beitrag der pakistanischen Armee und des ISI, die sie mit Waffen, logistischer Unterstützung und auch mit militärischem Personal versorgten. Zu diesem Personal gehörten nicht nur pakistanische Soldaten, sondern auch ausgebildete afghanische Offiziere und Soldaten der früheren kommunistischen Armee, die heute beim ISI im Sold stehen. Mit dem Geld und der militärischen Ausrüstung aus den USA schuf sich das ISI eine unerschütterliche Machtbasis innerhalb der militärischen und staatlichen Strukturen Pakistans.

Das ISI behauptete seine unbeschränkte Macht auch unter den Nachfolgeregimes von Zia ul-Haq, also unter den zivil geführten Regierungen von Benazir Bhutto und Nawaz Sharif wie unter dem heute herrschenden Militärregime. Als Nawaz Sharif eine Friedensoffensive gegenüber Indien einleitete, die im Februar 1999 in ein Gipfeltreffen mit dem indischen Premierminister Atul Behari Vajpayee mündete, war das ISI ebenso entsetzt wie seine Verbündeten in der Militärführung um den Vizegeneralstabschef der Armee, General Mohammed Aziz. Die Offensive in Kargil im Mai desselben Jahres, bei der pakistanische Truppen die Waffenstillstandslinie in Kaschmir überschritten, war eine gezielte Aktion, um diese Friedensoffensive zu torpedieren.

Der Ministerpräsident erfuhr von diesem Unternehmen erst, als es nicht mehr zu stoppen war. Am Ende setzte er sich dennoch durch, als er im August 1999 gegen den erbitterten Protest der Armee und des Geheimdienstes den Rückzug aus Kargil anordnete. Doch damit hatte der Regierungschef die Streitkräfte derart herausgefordert, dass sie Sharif am 12. Oktober 1999 mit ihrem Militärputsch aus dem Amt jagten.

Zwar hat General Musharraf für das kommende Jahr Wahlen angekündigt, doch seine Übernahme des Präsidentenamtes deutet eher darauf hin, dass er sich in der Rolle als Galionsfigur des Regimes eingerichtet hat. Das würde bedeuten, dass die Hardliner in den Streitkräften – mit ihren militanten islamistischen Verbündeten – auf unabsehbare Zeit die wahren Machthaber in Pakistan bleiben werden.

Der amerikanische Druck für eine militärische und geheimdienstliche Kooperation gegen Ussama Bin Laden hat die starken Spannungen innerhalb der Militärregierung weiter geschürt. Wenn General Musharraf den amerikanischen Forderungen zu sehr entgegenkommt, könnte er von seinen Kollegen gestürzt werden. Wahrscheinlicher jedoch ist ein Szenario, bei dem er den amerikanischen Wünschen minimal nachkommt, um maximale Zugeständnisse herauszuholen (die Sanktionen, die Islamabad in der Vergangenheit hart zugesetzt haben, wurden bereits aufgehoben). Dabei wird ihm daran gelegen sein, eine Konfrontation mit den Hardlinern zu vermeiden und die heimliche Unterstützung des ISI für die Taliban nicht öffentlich zu kritisieren. Islamabad kann das Ziel, Afghanistan als Satellitenstaat zu erhalten, nicht kampflos aufgeben.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Mitglied der Century Foundation in Washington, Autor unter anderem von „India & Pakistan“, Cambridge University Press 1999.

Fußnoten: 1 Siehe den Artikel von Tariq Ali zu Kaschmir, in London Review of Books, 08/2001, und den Artikel von Ignacio Ramonet, „Bedrohung Pakistan“, Le Monde diplomatique, November 1999. 2 Bis ins 19. Jahrhundert gehörten zu dem afghanischen Staat, der 1747 von den Paschtunen unter der Führung von Ahmad Schah Durrani gegründet worden war, auch die Paschtunengebiete im heutigen Nordwesten Pakistans. Im Zuge des grand game annektierten die Briten für ihr Indian Empire den Teil des afghanischen Territoriums, der zwischen dem Fluss Undus und dem Khyberpass gelegen ist. So wurde die Hälfte der Paschtunen der Kontrolle Kabuls entzogen. 1893 formalisierten die Briten diese territoriale Expansion durch die Durand-Linie. Sie präjudizierte auch, dass das Gebiet 1947 dem neu gegründeten Staat Pakistan zugesprochen wurde. Mit der Teilung der Paschtunengebiete hinterließen die Briten einen Herd irredentistischer Bestrebungen. Da seitdem fast alle Regierungen in Kabul von Paschtunen dominiert waren, hat dieses Problem die Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan permanent belastet.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von SELIG S. HARRISON