12.10.2001

Zurück in die Zukunft

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Zurück in die Zukunft

Von VALERIO EVANGELISTI *

Wer noch immer Zweifel am Realitätsgehalt der utopischen Literatur hegt, der werfe einen Blick nach Italien. Dort sind unlängst zwei so genannte Science-Fiction-Romane erschienen: „Fantafascismo“ von Gianfranco De Turris und „Occidente“ von Mario Farneti. Von vereinzelten ironischen Passagen abgesehen, bleibt „Fantafascismo“ seinem Titel treu. Der Autor gehört übrigens zu den Wortführern der nach einem antisemitischen Philosophen benannten Fondazione Julius Evola. Sein Verleger Settimo Sigillo hat sich auf rechtsextremistische Publikationen spezialisiert. Der zweite Roman, „Occidente“, will zeigen, wie groß und stark Italien gewesen wäre, wenn Mussolini nicht ein früher Tod ereilt hätte.

Kurz nach dem Erscheinen dieser Bücher haben es die Italiener mit einer albtraumartigen Regierung und mit einem stellvertretenden Ministerpräsidenten Gianfranco Fini zu tun, der zusammen mit dem „Minister für föderale Angelegenheiten“, Umberto Bossi, vorschlägt, illegale Einwanderung künftig als Straftat anzusehen. Große Zeitungen begrüßen das unmenschliche Vorhaben, rufen nach einem ethnisch reinen Italien, befürworten Kolonialismus und Rassentrennung und rechtfertigen die Anwendung von Prügelstrafen auf den Polizeirevieren und von Folterungen in den Kasernen.

Die Alleanza Nazionale hat sich dafür ausgesprochen, dass homosexuelle Lehrer nicht mehr unterrichten dürfen. Das ist noch vergleichsweise harmlos gegen die Aktionen und das Gedankengut von Bossis Lega Nord, die jüngst nicht einmal davor zurückschreckte, Schweine an für den Bau von Moscheen vorgesehene Stellen zu führen, damit sie dort hinpinkeln; die farbige Prostituierte mit Desinfektionsmitteln besprüht und Grenzübergänge mit eigenen Trupps besetzt, um illegale Einwanderer zu stellen. Die Lega-Nord-Bürgermeister lassen Bänke aus öffentlichen Parks entfernen, damit sich kein Einwanderer mehr hinsetzen kann. Und einer der Parteiführer hat allen Ernstes vorgeschlagen, die Fußabdrücke der nach Italien eingereisten Afrikaner abzunehmen und zu registrieren – so Mario Borghezio, ehemaliger Wortführer des faschistischen Ordine Nuovo, der inzwischen einen katholischen Integralismus verficht.

Justizminister Roberto Castelli, der für den Rechtsruck der Lega Nord steht, hat noch bei jedem seiner Auftritte Bestürzung ausgelöst. So hat er beispielsweise öffentlich die zuständigen Richter aufgefordert, mit dem Karabiniere, der in Genua Carlo Giuliani getötet hat, Nachsicht walten zu lassen. Ferner hat er nach den Demonstrationen gegen den G 8-Gipfel höchstpersönlich „bezeugt“, dass es keine Gewaltakte durch die Polizei gegeben habe – er jedenfalls habe keine gesehen. Und was soll man zu Innenminister Scajola sagen, der die Zusammenstöße von Genua leichtfertig mit der Schlacht von Algier verglich, ganz als wolle er den Rückgriff auf die repressiven Methoden eines Generals Massu rechtfertigen?

All das sind Nachwirkungen einer totgeglaubten Gewaltideologie namens Faschismus. Einer Ideologie, von der sich die aus dem alten Movimento Sociale Italiano (MSI) hervorgegangene Alleanza Nazionale offiziell verabschiedet hat, die sich jedoch in ihren Reihen auf Schritt und Tritt bemerkbar macht: in den keltischen Kreuzen ihrer Jugendgruppen, in der aggressiven Häme gegen Homosexuelle, in der Dämonisierung der Einwanderer, in der Kampagne für die Abschaffung von zu Resistenza-freundlichen Schulbüchern und ganz unmittelbar in der Namensgebung vieler ihrer Parteisitze.

Unter einer solchen Regierung, die den Ultraliberalismus eines Silvio Berlusconi mit dem autoritären Fanatismus seiner Verbündeten Fini und Bossi zusammenzwingt, sind Zusammenstöße wie die von Genua vorprogrammiert. Wir alle kennen die brutalen Bilder, die um die Welt gegangen sind. Ministerpräsident Fini führte die Ereignisse schlicht und einfach auf eine Abneigung gegen Italien zurück. Darüber hinaus bekam die Öffentlichkeit von der italienischen Regierungspresse fantastische Enthüllungen geboten: Die Blutflecken, die im Fernsehen zu sehen waren, seien absichtlich vergossener Tomatensaft oder gar rote Farbe gewesen; Tonbandaufnahmen aus den Zellen der inhaftierten Jugendlichen hätten ergeben, dass die sexuellen Belästigungen reine Hirngespinste gewesen seien; und dass man den Häftlingen Piercing-Schmuckstücke aus dem Körper gerissen habe, sei eine ganz „normale“, vom Gesetz vorgesehene – möglicherweise etwas übereifrig ausgeführte – Verfahrensweise.

Einer selten verschlafenen Opposition macht die Regierung das großzügige Angebot, gemeinsam gegen den Terrorismus vorzugehen – unter der Bedingung allerdings, dass zukünftig keine Demonstrationen mehr gegen in Italien stattfindende internationale Gipfeltreffen zugelassen würden. Umberto Bossi und der Präsident der Region Latium, Francesco Storace, werden noch deutlicher: Wir sind an der Macht, und wir regieren allein.

In dieser Situation zeigen die anfangs zitierten Romantitel – die Aufzählung ließe sich problemlos fortführen, erwähnt seien nur: „Il volo dell’aquila“ (Der Flug des Adlers), „Il ritorno del re“ (Die Rückkehr des Königs), „Le maschere del potere“ (Die Masken der Macht) –, sie alle zeigen, dass die Science-Fiction-Literatur weit davon entfernt ist, entlegene und fantastische Zukunftswelten zu beschreiben, sondern ausgesprochen enge Bezüge zur Wirklichkeit knüpft. Nur haben wir es im Falle Italiens nicht mit einer kritischen Metapher der Gegenwart zu tun, sondern mit einer schamlosen Apologie, mit einer Subkultur, die ans Licht tritt, um den Triumphzug einer Ideologie zu eskortieren.

In den Jahren, als die Rechtsextremisten aus der italienischen Hochkultur verbannt waren, benutzten sie die damals weithin vernachlässigte Gattung der utopischen Literatur gezielt für ihre Zwecke und knüpften beispielsweise enge Verbindungen zwischen der Società Tolkeniana Italiana und der Fondazione Julius Evola. Italien ist vielleicht das einzige Land auf der Welt, in dem der Name Tolkien von der extremistischen Rechten vereinnahmt wurde – die Ausbildungslager für junge Faschisten in den Siebzigerjahren hießen folgerichtig Campi Hobbit.

Es ist auch kein Zufall, dass lange Zeit die zweijährlich stattfindenden Treffen der Science-Fiction-Fans vom „Cerchio di Rimini“ unterstützt wurden, einer Organisation, die katholischen Fundamentalismus mit traditionellem Faschismus verbindet und von einem Vertreter der Fondazione Evola, nämlich von Alfredo Morganti, geleitet wird. Ebenso wenig handelt es sich um einen Zufall, wenn das Haus der bekanntesten Mailänder Science-Fiction-Buchhandlung auch die Edizioni Barbarossa beherbergt, die mit ihrer Monatsschrift Orion den „antiglobalistischen“ (d. h. antisemitischen) Kampf und den Revisionismus von Leuten wie Faurisson, Thion, Irving und Rassinier propagieren.

Eine Randerscheinung, könnte man vermuten – und hat schon deshalb Recht, weil die utopische Literatur alles andere als weit verbreitet ist. Dennoch sollte ihr Einfluss auf Jugendliche nicht unterschätzt werden (die Banner der rechten Hooliganszene sind voll von Barbaren mit geflügelten Helmen, Runen und Doppeläxten). Und die mächtige katholisch-integralistische Bewegung „Comunione e Liberazione“ hat Alfredo Morganti, zusammen mit dem Verfasser ultraklerikaler Pamphlete, Rino Cammilleri, die Vorbereitung einer Ausstellung gegen das italienische Risorgimento1 anvertraut.

Ein Thema, das dem konservativen Kardinal von Bologna, Giacomo Biffi, sehr am Herzen liegt. Er ist ein vehementer Kritiker der päpstlichen „Reue“ in Sachen Inquisition und ein erklärter Feind von Mischehen zwischen Katholiken und Muslimen und setzt sich gegen den Bau von Moscheen ein. Tatsächlich erscheinen die wütenden Moralpredigten des Kardinals oft in Cattolica, der Zeitschrift der rechtskatholischen Alleanza Cattolica.

Ferner verlegt „Il Cerchio“ neben Texten der französischen Kollaborateure Bardèche und Brasillach, des Revisionisten Arthur Butz und Anthologien des rumänischen Faschistenführers Corneliu Codreanu auch eine Reihe von Lehrbüchern: Hier gibt es Abhandlungen über den Ursprung des Lebens (gegen die Evolutionstheorie), Pamphlete zur amerikanischen Revolution und über das Schreckgespenst der Französischen Revolution, aber auch kritische Bücher über das italienische Risorgimento. Und so mancher anerkannte Wissenschaftler arbeitet daran mit.

Zur Verteidigung der Inquisition

DA wäre zum Beispiel Franco Cardini: ein hervorragender katholischer Mediävist, einflussreicher Universitätsprofessor und vormals, unter der ersten Regierung Berlusconi, Mitglied des Leitungsgremiums der staatlichen Fernsehgesellschaft RAI, dem Letizia Moratti vorstand. Sie ist heute Bildungsministerin und hat sich in einer Aufsehen erregenden Stellungnahme während des Meetings 2001 von „Comunione e Liberazione“ für die nahezu vollständige Privatisierung der Schulen ausgesprochen. Cardini scheint sich nicht daran zu stören, dass er für das lobende Vorwort zu einem Buch von Rino Cammilleri zeichnet, in dem zur Verteidigung der Inquisition mit missbräuchlichen Maimonides-Zitaten sogar das alte Märchen von den „Ritualmorden“ der Juden wieder aufgewärmt wird.

Allmählich nähern wir uns – paradoxerweise von der Science-Fiction-Literatur her – der ideologischen Gemengelage in der Berlusconi-Regierung: Fremdenfeindlichkeit, religiöser Fanatismus, autoritäre Impulse, Nationalismus, Machismo, engstirniger und vulgärer Obskurantismus. Ein weiteres wichtiges Element fehlte noch, damit dieses Gemisch wirklich zur Geltung kommen konnte: der Geschichtsrevisionismus. Es nützt nichts, die Schuld in diesem Punkt bei der Rechten zu suchen, sie liegt nämlich zuallererst bei den Linken. Der ehemalige Richter Luciano Violante, Präsident der Abgeordnetenkammer in der Mitte-links-Regierung und Spitzenmann der DS (Democratici di Sinistra) war es, der 1996 in menschlicher wie moralischer Hinsicht die Widerstandskämpfer gegen die Faschisten mit Mussolinis Freiwilligen der Italienischen Sozialen Republik gleichsetzte – als hätten die Deportationen der Juden nach 1943 irgendetwas mit jugendlichem Überschwang zu tun. So geht die Saat, die der Historiker Renzo De Felice seit 1965 mit seiner monumentalen Mussolini-Biografie gesät hatte, viele Jahre später auf. Er ist das Paradebeispiel eines Wissenschaftlers, der von Buch zu Buch seinem Forschungsgegenstand immer mehr erliegt.

Ein anderer Vertreter der Linken, der Philosoph Massimo Cacciari, hatte sich bereits für die kulturelle Auseinandersetzung mit Ernst Jünger, Julius Evola, Carl Schmitt und anderen bei den Rechtsextremisten hoch geschätzten Denkern eingesetzt. Damit war der MSI rehabilitiert und nach seiner Umwandlung in die Alleanza Nazionale – eine kluge Operation von Gianfranco Fini, dem es gelang, Exfaschisten, extremistische Katholiken und allgemein konservative Elemente zu vereinigen – auch ideologisch legitimiert. Sodass der einstige Ministerpräsident Massimo D’Alema (DS) und der damalige Präsident und Expartisan Carlo Azeglio Ciampi angesichts der Vorwürfe eines belgischen sozialistischen Ministers, die italienische Regierung sei faschistenfreundlich eingestellt, der internationalen Öffentlichkeit versicherten, dass im italienischen Parlament keine oder höchstens völlig gezähmte Faschisten säßen.

Nachdem dem Geschichtsrevisionismus erst einmal Tür und Tor geöffnet waren, gab es kein Halten mehr. Der Exbotschafter und politische Kommentator Sergio Romano singt ein Loblied auf Franco, dessen Kampf gegen den Kommunismus und dessen Beitrag zur Verteidigung des Westens. Der ehemals „linke“ Intellektuelle Ernesto Galli Della Loggia schreibt Vorworte zu apologetischen Texten über Evola und wettert in seinen Leitartikeln gegen die Ideen, die ihm einst lieb und teuer waren. Der Exsozialist und ehemalige Chefredakteur von La Stampa, Paolo Mieli, verfasst Zeitungsartikel und ganze Bücher, in denen er mit allen Phasen in der Geschichte ins Gericht geht, die sich Angriffe auf Vaterland, Familie und Religion haben zuschulden kommen lassen.

Dies ist nicht der Ort für eine detailliertere Untersuchung. Nur so viel sei gesagt: Im heutigen Italien hat der „Geschichtsrevisionismus“ an den Universitäten inzwischen deutlich Fuß gefasst – und dort sogar schon gelegentlichen schwachen Widerstand hervorgerufen. Als Thema in den Medien ist er so etabliert, dass von kritischem Widerstand keine Rede mehr sein kann. Denn natürlich ist die Öffentlichkeit keineswegs gegen Manipulationen gefeit, die womöglich an die Stelle der einen Wahrheit eine andere setzen und auf diese Weise die Definition von Wahrheit selbst verwischen. So tut sich eine Gedächtnislücke auf, in die sich angesichts fehlender Gegenrede alles Mögliche einsetzen lässt. Die akademische Welt füllt diese Lücke durch eine vorsichtige Rehabilitierung des Unsagbaren, während für die breite Masse ein Schwindel erregender Niedergang der moralischen Sensibilität zu befürchten ist.

Das Resultat ist bitter: Im heutigen Italien erregen rassistische Propaganda, die Apologie des Faschismus, die Missachtung von Minderheiten, die Verherrlichung der kolonialen Vergangenheit, die Würdigung autoritärer Vorbilder, die Rückkehr zu reaktionären und intoleranten Auffassungen und der Kult der Stärke keinen Anstoß mehr. Sie sind im Gegenteil gängige Münze geworden. Kein Wunder also, dass in diesem Klima Teile der Ordnungskräfte, die in Genua im Einsatz waren, sich dementsprechend verhalten haben.

Wie sieht die Zukunft aus, die man in den ultrakonservativen Regierungskreisen für die Italiener vor Augen hat? Von welcher Weltanschauung lassen sie sich leiten? Darüber gibt der Roman „Le maschere del potere“ von Enrico Passaro Auskunft. Der Autor ist Flugoffizier und Journalist bei Il Secolo d’Italia, dem Parteiblatt der Alleanza Nazionale. Das Buch erzählt von einer fernen Zukunft, in der das stabile Kräftegleichgewicht zwischen den drei großen Reichen und Mächten – Armee, Kirche und „Handwerk“ – ein Jahrtausend des Friedens garantierte. Ein verhängnisvoller Versuch, dieses Gleichgewicht zu erschüttern, führt an den Rand der Katastrophe. Die Helden der Geschichte haben den Auftrag, das Unglück abzuwenden und die drei Mächte wieder ans Ruder zu bringen. Science-Fiction? Von wegen. Die Knüppel schwingenden „Helden“ von Genua hatten denselben Plan im Kopf. Bleibt die Frage, ob es ihnen gelingen wird, ihn in die Tat umzusetzen.

aus dem Ital. von Karin Krieger

* Preisgekrönter italienischer Fantasy- und Science-Fiction-Autor. Seine Romane erscheinen auf Deutsch als Taschenbücher bei Goldmann und Heyne (beide München).

Fußnote: 1 Italienische Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von VALERIO EVANGELISTI