14.12.2001

Eine Allianz auf unilateraler Basis

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Eine Allianz auf unilateraler Basis

WER glaubt, dass der Aufbau einer Antiterrorkoalition durch die USA eine multilaterale Öffnung der Politik Washingtons anzeigt, dürfte sich gewaltig irren. Die Regierung Bush besteht auf einer unilateralen Außenpolitik und konzentriert sich ganz auf ihre militärischen und politischen „Missionen“, ohne die Bündnispartner um Rat zu fragen oder an den Entscheidungen zu beteiligen. Der eingefleischte Unilateralismus erschwert auch den Balanceakt mit Moskau und Peking. Die bieten sich einerseits im Rahmen der Antiterrorkoalition als verlässliche Partner an, sind aber zugleich bei jedem außenpolitischen Schritt auf die Wahrung ihrer Interessen bedacht.

Von GILBERT ACHCAR *

Selten ist die internationale Tragweite eines Ereignisses so falsch interpretiert worden wie die der Attentate von New York und Washington. Immer wieder musste der Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 als Vergleich herhalten. Für Kriegstreiber haben solche Analogien den evidenten Vorteil, die neue Version des Washingtoner Interventionismus zu rechtfertigen: Während die Clinton-Administration den „humanitären Krieg“ erfand, zeigt sich die Regierung Bush entschlossen, unter dem Banner des „Kriegs gegen den Terrorismus“ die Gleichschaltung der übrigen Welt voranzutreiben.

Zugleich sucht das US-Außenministerium – umfassend unterstützt von den amerikanischen Medien – die Botschaft zu vermitteln, die Vereinigten Staaten hätten sich nun doch zu jenem „Multilateralismus“ durchgerungen, den die neue Mannschaft um George W. Bush zunächst so sehr vermissen ließ.1 Ein Vergleich mit den Ereignissen während des Golfkriegs ist in dieser Hinsicht höchst lehrreich. Um sein Land und die öffentliche Meinung auf den Krieg einzustimmen, war Bush sen. seinerzeit sehr darauf bedacht, eine breite internationale Koalition zu schmieden,2 die US-Politik durch UN-Resolutionen abzusichern und die aktive oder passive Mitwirkung Moskaus und Pekings anzustreben. All dies war von entscheidender Bedeutung, als der Kongress – mit knapper Mehrheit nur – im Januar 1991 für den Einsatz der US-Streitkräfte grünes Licht gab.

Zehn Jahre später ist George Bush jun. weit davon entfernt, an diese Art von „Multilateralismus“ anzuknüpfen. Vielmehr treibt er den „Unilateralismus“ unter dem Deckmantel der „Koalitionsbildung“ noch ein Stück weiter. Der französische Außenminister Hubert Védrine hat daher Recht, wenn er sagt, die „Vereinigten Staaten bleiben auch bei ihrem erneuten Engagement unilateralistisch“3 . Ganz deutlich wird dies wiederum im Vergleich mit dem Golfkrieg. 1991 handelten die USA auf der Grundlage eines Mandats des UN-Sicherheitsrats. Der Golfkrieg wurde zwar nicht unmittelbar von den Vereinten Nationen geführt, aber in ihrem Namen – wie der damalige UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar dankenswerterweise differenzierte. Dass die US-Streitkräfte nicht auf Bagdad marschierten und das Regime von Saddam Hussein nicht stürzten, rechtfertigte die Bush-Regierung mit dem begrenzten UN-Mandat und den Wünschen ihrer Partner in der Region. Heute hingegen, so US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, „bestimmt die Mission die Koalition, und wir werden es nicht zulassen, dass Koalitionen die Mission bestimmen“.4 Und das Ziel der Mission wird ganz offensichtlich in Washington definiert.

Konsequenterweise lehnten die USA das Angebot des Sicherheitsrats ab. Dieser hatte sich in seiner Resolution 1 368 vom 12. September bereit erklärt, im Rahmen der UN-Charta alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um auf die Attentate vom Vortag zu reagieren. Und als ihre engsten Verbündeten sich beeilten, den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags festzustellen, hat die US-Regierung vermieden, dieses Angebot in Anspruch zu nehmen. Stattdessen zogen die Amerikaner mit ihrem Getreuen Anthony Blair – den böse Zungen schon mal als US-Vizepräsidenten bezeichnen – allein in den Krieg, nicht ohne sich das Privileg auszubedingen, im Bedarfsfall auf militärische Beiträge der Verbündeten zurückzugreifen – zu ihren eigenen Bedingungen und unter ihrem exklusiven Kommando.

„Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen“, erklärte Bush in seiner Rede vor dem Kongress am 20. September 2001. Und als er am 6. November seinen französischen Amtskollegen Jacques Chirac empfing, belehrte er die „Verbündeten“ mit warnendem Unterton: „Ein Bündnispartner hat mehr zu tun, als nur seine Sympathie zum Ausdruck zu bringen; ein Bündnispartner hat seine Pflicht zu erfüllen. [. . .] Ich denke dabei im Moment nicht an eine bestimmte Nation. Jeder hat Anspruch auf eine Unschuldsvermutung. Langfristig sollten sich die Nationen jedoch im Klaren sein, dass sie für ihre Untätigkeit zur Rechenschaft gezogen werden.“

Die Botschaft war offenbar für die muslimischen Länder bestimmt, die sich im Vergleich zu 1991 weniger zahlreich und weniger engagiert um die Vereinigten Staaten scharten, aber sie wurde eben auch in Präsenz eines westlichen Verbündeten Washingtons ausgesprochen. Obwohl nach den Anschlägen vom 11. September auch Frankreich in den Solidaritätschor einstimmte und Soldaten nach Afghanistan schickte, ließ es sich Paris abermals nicht nehmen, der US-Führung unaufgefordert Ratschläge zu erteilen: Washington, so hieß es, möge besonnen handeln und den Weg über die UNO wählen. In diesem Punkt wurde Frankreich zunächst auch von seinen europäischen Partnern unterstützt.

Doch die weiteren Ereignisse brachten eine Enttäuschung für alle, die sich auf politisch-militärischer Ebene eine gemeinsame und selbstständige Haltung Europas gegenüber Amerika erhofft hatten. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte Awacs-Flugzeuge zur Überwachung des amerikanischen Luftraums ab und ging auf die Forderung Washingtons ein, eine Sondertruppe der Bundeswehr für einen Afghanistan-Einsatz bereitzuhalten – selbst auf die Gefahr hin, eine größere Koalitionskrise auszulösen. Da wollte auch Silvio Berlusconis Italien nicht zurückstehen und diente eifrig Hilfe an. Dass diese und andere EU-Länder jeweils einzeln auf die Hilfsgesuche der USA eingingen, zeigt einmal mehr, wo die „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ ihre Grenze hat.

Wenn dennoch von einem Wendepunkt in den internationalen Beziehungen gesprochen werden kann, so gilt dies nicht für das Verhältnis Washingtons zu seinen traditionellen Verbündeten, sondern zu China und Russland. Die beiden Länder verstärken seit einigen Jahren ihre politische und militärische Zusammenarbeit, um sich der „unipolaren Hegemonie“ der Vereinigten Staaten entgegenzustemmen. Gleichwohl lässt sich die derzeitige Bombardierung Afghanistans in dieser Hinsicht nicht mit dem Nato-Krieg gegen Serbien vergleichen. Während Moskau und Peking mit Serbien verbündet waren, gilt ihnen der „islamische Terrorismus“ nicht weniger als Feind wie den Vereinigten Staaten. So schlossen sie sich bereits 1996 mit den drei moskaufreundlichen zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zur Shanghai-Gruppe zusammen, um gemeinsam gegen die islamischen Gruppierungen vorzugehen. Im Juni dieses Jahres gab sich die Gruppe den Namen „Shanghaier Organisation für Kooperation“ (SCO) und nahm Usbekistan als sechstes Mitglied auf. Vorderhand waren Russland und China also durchaus geneigt, den internationalen Kampf gegen den radikalen Islamismus zu unterstützen.

Dennoch äußerte China nach dem 11. September bei allem prinzipiellen Einverständnis mit der Terrorismusbekämpfung ähnliche Vorbehalte wie während des Golfkriegs, als sich das Land im Sicherheitsrat der Stimme enthielt. Zwar war Peking sorgsam darauf bedacht, Washington nicht zu verärgern, bevor der in Doha am 10. November dieses Jahres akzeptierte Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation unter Dach und Fach war, doch schwächte es seine Zustimmung in doppelter Hinsicht ab: Erstens wünschte die chinesische Führung, den Gegenschlag im Rahmen der UNO zu führen; und zweitens forderte sie im Gegenzug Unterstützung für ihren Kampf gegen den „islamischen Terrorismus“ der uigurisch-muslimischen Minderheit in Xinjiang und den „Separatismus“ Taiwans.

Im Übrigen hat Peking angesichts der gegenwärtigen Ereignisse allen Grund, beunruhigt zu sein: Erstens könnte es an der chinesischen Westgrenze zu einer dauerhaften Stationierung von US-Truppen kommen. Zweitens schrumpft durch das engere Verhältnis zwischen Washington und Pakistan wie auch zwischen Washington und Indien der Handlungsspielraum Pekings, das Pakistan bislang unterstützt hat, um Indien zu neutralisieren. Drittens hat Japan einen weiteren Schritt zur Rückerlangung seiner politischen Fähigkeit zu militärischen Auslandseinsätzen vollzogen. Viertens drängen die Vereinigten Staaten die Chinesen immer stärker, ihre Rüstungslieferungen an Staaten einzustellen, die „den Terrorismus“ unterstützen, während Washington selbst sich weigert, seine Waffenlieferungen an Taiwan zu reduzieren. Und schließlich befürchtet China, die Annäherung zwischen Washington und Moskau könnte in eine russische Zustimmung zum Raketenabwehrprojekt der USA münden.

Die Beziehungen zwischen Peking und Washington haben sich nach dem 11. September nicht etwa entspannt, sondern eher verschlechtert. Schuld daran ist die Weigerung der USA, die in diesem Jahr gegen China verhängten Sanktionen aufzuheben. Der Grund: Peking habe Islamabad mit raketentauglichem Material beliefert – was die chinesische Führung bestreitet. Die Begründung musste in Peking umso irritierender wirken, als die Sanktionen, die Washington im Kampf gegen die Verbreitung von Atomwaffen gegen Pakistan und Indien verhängt hatte, nach dem 11. September aufgehoben wurden.

Getrübte Stimmung beim Shanghai-Gipfel

DIE Belastung der Beziehungen war auch auf dem Shanghai-Gipfel des Asien-Pazifik-Forums für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Oktober dieses Jahres zu spüren. Eigentlich wollten die Teilnehmerländer die Gelegenheit nutzen, um ihre Solidarität mit den Vereinigten Staaten zu bekunden. Offiziell lief auch alles zur vollsten Zufriedenheit, unterm Strich aber war das Resultat für Washington eher enttäuschend. Die Schlusserklärung enthielt keine direkte Unterstützung der US-Offensive und unterstrich vielmehr die Notwendigkeit, den Terrorismus im Rahmen der UNO und des Völkerrechts zu bekämpfen.

Im Übrigen vollführten auf diesem Shanghai-Gipfel Wladimir Putin, Jiang Zemin und George W. Bush ein höchst bemerkenswertes Dreiecksspiel. Am 19. Oktober traf der US-Präsident mit seinem chinesischen Amtskollegen zusammen, um ihm die Gründe für das US-Raketenabwehrsystem nahe zu bringen – ohne Erfolg. Tags darauf endete eine Unterredung zwischen Putin und Jiang mit einer gemeinsamen Erklärung, in der die beiden Staatschefs die sofortige Einstellung der Bombardierung Afghanistans forderten und die im ABM-Vertrag festgeschriebene Begrenzung von Raketenabwehrsystemen bekräftigten – was Bush für überholt hält. Das dritte Treffen zwischen dem russischen und dem US-Präsidenten endete mit einem Kommuniqué, das für Bush eher ermutigend ausfiel: Putin gab bekannt, er sei überzeugt, dass die beiden Länder in der Frage des Raketenabwehrschilds zu einer Verständigung gelangen werden, während Bush abermals appellierte, man müsse den Kalten Krieg „wirklich“ überwinden.

Dieses Dreiecksspiel, das Putin sichtlich genießt, hat nicht erst nach den jüngsten Ereignissen begonnen. Seit seiner Regierungsübernahme orientiert der russische Staatspräsident sein Handeln auf der internationalen Bühne vornehmlich an den Interessen der zwei wichtigsten Exportzweige seines Landes, der Öl- und der Rüstungsindustrie. So knüpfte er zum großen Missfallen Washingtons engere Beziehungen zu den Abnehmern russischer Waffen, allen voran China, Indien und Iran5 . Er umwarb China und Deutschland, zwei potenzielle Hauptabnehmer des russischen Erdöls: China wird ab 2005 über eine 2 400 Kilometer lange Pipeline mit sibirischem Erdöl versorgt, während Deutschland schon heute große Mengen von Erdgas und Erdöl aus Russland bezieht und überdies die Liste der internationalen Gläubiger Russlands anführt. Darüber hinaus intensivierte Putin die Kontakte zum irakischen Regime, das der russischen Erdölindustrie nach Beendigung des derzeitigen Embargos vielversprechende Verträge in Aussicht gestellt hat.

Derselbe Wladimir Putin, der im Juli 2001 in Moskau einen implizit gegen die USA gerichteten zwanzigjährigen Kooperations- und Beistandspakt mit China unterzeichnete, hat den US-Präsidenten seit dessen Amtsantritt bereits viermal getroffen, und jedes Mal demonstrierten die beiden Staatschefs Freundschaft und gegenseitiges Einvernehmen. Der Grund ist unschwer zu erkennen. Enttäuscht über den kühlen Empfang, den ihm Europa zu Beginn seiner Amtszeit bereitet hatte, kam der US-Präsident zu dem Schluss, dass er Russland für sich gewinnen müsse, um den Raketenabwehrschild – eines seiner Hauptanliegen – bei den westlichen Verbündeten und in seinem eigenen Land durchzusetzen. Putin wiederum hat begriffen, dass Bushs Abwehrschild die russische Nuklearabschreckung zumindest auf absehbare Zeit nicht neutralisieren würde, vielmehr sich in den Verhandlungen mit den USA als wertvolles Tauschobjekt erweisen könnte.

Washington will den ABM-Vertrag grundlegend überarbeiten oder ganz aufheben, um unbeschränkt Raketenabwehrraketen testen zu können. Die Liste der Wünsche, die Moskau als Gegenleistung erfüllt wissen möchte, wurde in den letzten Monaten immer länger. Zum einen fordert Moskau eine vertragliche Regelung über einen weiteren gleichgewichtigen Abbau der strategischen Waffensysteme beider Länder, um die Unterhaltkosten seines überdimensionierten Atomwaffenarsenals zu reduzieren und die frei werdenden Mittel in konventionelle Waffensysteme zu investieren. Zweitens erwartet Moskau von den Mitgliedstaaten des „Clubs von Paris“ einen teilweisen Verzicht auf ihre Schuldenforderungen. Und drittens soll Washington den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation bis spätestens 2004 unterstützen und alle inneramerikanischen Beitrittshindernisse, wie das Jackson-Vanik-Amendment6 , aus dem Weg räumen.

Putin nutzte die Anschläge vom 11. September als billige Gelegenheit, um seine Verhandlungsposition gegenüber den USA zu stärken und bei Deutschland und den Europäern zu punkten.7 Da der Westen den Krieg Russlands gegen Tschetschenien neuerdings mit wachsendem Verständnis sieht, schwindet der parlamentarische Widerstand gegen die von Moskau gewünschten Konzessionen, wie nicht zuletzt der herzliche Empfang zeigte, den der deutsche Bundestag dem russischen Staatspräsidenten bereitete.

Putin lehnt sich bequem zurück

DIE plötzliche Verbesserung der Beziehungen zur Nato stieg Putin derart zu Kopf, dass er von einer Beteiligung Russlands an Nato-Entscheidungen oder von der Umwidmung der Allianz in eine politische Organisation zu träumen begann.8 Im Übrigen wurde sein Wohlverhalten durch ein gigantisches Investitionsprojekt auf dem Bohrfeld „Sachalin 1“ im äußersten Osten des Landes belohnt, wo der US-Ölkonzern Exxon künftig 4 Milliarden Dollar investieren will. Während Michail Gorbatschow mit Irak 1990 einen wichtigen Klienten Moskaus zugunsten guter Beziehungen mit dem Westen opferte, kostet Putin die derzeitige Haltung Moskaus fast gar nichts, zumindest in der näheren Zukunft. Das Taliban-Regime ist Russland nicht erst seit gestern ein Dorn im Auge. Weil Kabul die islamistische Fraktion der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung unterstützte, drohte Moskau wiederholt, das Land zu bombardieren. Und seit Washington mit seinen ehemaligen Taliban-Freunden gebrochen hat, arbeiten Russen und Amerikaner gegen Kabul zusammen. Im Juni 2000 riefen Clinton und Putin eine gemeinsame Afghanistan-Arbeitsgruppe ins Leben, die seither in regelmäßigen Abständen tagt.

Abgesehen von der Lieferung geheimdienstlicher Informationen über den Erzfeind beider Länder, das Al-Qaida-Netz, hat sich Moskau recht wenig engagiert und einen direkten militärischen Beitrag von vornherein abgelehnt. Die Überflugerlaubnis für die US-Luftwaffe gilt angeblich nur für humanitäre Hilfslieferungen. Darüber hinaus wollte sich Russland an der Rettung amerikanischer Piloten beteiligen, wohl wissend, dass die Taliban kaum eine Chance haben würden, US-Flugzeuge abzuschießen. Moskau hat seine Militärhilfe an die Nordallianz aufgestockt und wünscht, dass das seit langem unterstützte Militärbündnis in Kabul die Macht übernimmt – was der regionale Hauptverbündete der USA, Pakistan, weniger gern sähe. Als zusätzliches Zeichen ihres guten Willens beschloss die russische Regierung ohne großes Bedauern, zwei elektronische Abhörstationen9 in Vietnam und Kuba abzubauen (Letztere deckte das Gebiet der Vereinigten Staaten ab).

Für großes Aufsehen sorgte, dass Putin für die Stationierung von US-Streitkräften in den an Afghanistan angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken grünes Licht gab. Doch selbst diese Konzession ist nicht so weltbewegend, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Vereinigten Staaten arbeiten nicht erst seit dem 11. September mit dem autoritären Regime des usbekischen Staatspräsidenten Islam Karimow zusammen. Genau genommen besteht die militärische Kooperation bereits seit über fünf Jahren.10 Schon deshalb hätte Putin den Amerikanern niemals den Zugang zu Usbekistan verwehren können, wo amerikanische Militärs schon vor dem Anschlag arbeiteten. Nicht ganz eindeutig erscheint die Haltung Moskaus im Fall Tadschikistan, das nach wie vor stark unter russischem Einfluss steht. Bei seinem jüngsten Besuch in Duschanbe erhielt US-Verteidigungsminister Rumsfeld keine verbindliche Zusage über die Nutzung tadschikischer Flughäfen.

Alles in allem erweisen sich die Zugeständnisse Russlands mithin als weniger erheblich, als es den Anschein hat. Putins größtes Risiko besteht darin, dass die Vereinigten Staaten in Afghanistan und Zentralasien eine dauerhafte Militärpräsenz aufbauen und ihre Position im Great Game um die zentralasiatischen Ölressourcen beträchtlich verstärken können11 – eine Perspektive, die in Putins Umgebung und beim russischen Militär auf größte Vorbehalte und scharfe Kritik stieß. Andererseits ist Afghanistan nach Überzeugung russischer Generäle ein solches Wespennest, dass es den Vereinigten Staaten nie gelingen wird, das Land unter Kontrolle zu bringen. Einige hochrangige Militärs reiben sich schon die Hände in der Erwartung, dass die USA und ihre Verbündeten in dieselbe tödliche Falle tappen könnten, die einst der Sowjetunion zum Verhängnis wurde. Doch um die Gemüter zu beruhigen, verkündete Putin vor seiner Abreise nach Washington vorsichtshalber eine weitere Erhöhung des Verteidigungshaushalts und der Militärbesoldung.

Auf US-amerikanischer Seite macht man sich indes nichts vor, worüber auch die gespielte Naivität Bushs im Umgang mit seinem russischen Amtskollegen nicht hinwegtäuschen kann. Auf dem Gipfeltreffen Mitte Oktober hat der US-Präsident in keinem wesentlichen Punkt nachgegeben: Er verkündete zwar, das amerikanische Atomwaffenarsenal werde einseitig auf ein in den Augen des Pentagons ausreichendes Niveau reduziert, lehnte es aber ab, sich durch ein neues Start-Abkommen – wie es Clinton und Jelzin ins Auge gefasst hatten und Putin nun einfordert – die Hände binden zu lassen. Vielmehr bekräftigte Bush seine Absicht, den ABM-Vertrag nötigenfalls einseitig außer Kraft zu setzen, um bei der Raketenabwehr voranzukommen.

Wie üblich waren es die beiden rivalisierenden Gurus der US-amerikanischen Realpolitik, Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger, die den Grundgedanken der außenpolitischen Konzeption Washingtons herausarbeiteten: die Entschlossenheit zu unilateralem Handeln – mit dem nächsten Ziel Irak.12 So zeigten die wenigen Wochen seit dem 11. September vor allem eines: dass die Vereinigten Staaten auch in Zukunft den hegemonial-unilateralen Kurs verfolgen wollen, den sie nach dem Ende des Kalten Kriegs eingeschlagen haben.

dt. Bodo Schulze

* Dozent an der Universität Paris-VIII (Saint-Denis), Autor von „La Nouvelle Guerre froide“, Paris (PUF) 1999.

Fußnoten: 1 Ein trotz seines diplomatischen Charakters erhellendes Beispiel für diese Art von „Multilateralismus“ findet sich in einem Papier von Richard Hass, Leiter des politischen Planungsbüros im US-Außenministerium: „After September 11: American Foreign Policy and the Multilateral Agenda“, Office of International Information Programs, US Department of State, Washington, 14. November 2001. 2 Dieser Vorläufer wird von vielen Beobachtern vergessen. Als Beispiel sei der Beitrag von Edward Luttwak „New Fears, New Alliances“ in der New York Times vom 2. Oktober 2001 genannt. Eine „Großmachtallianz für geordnete internationale Verhältnisse“, wie sie derzeit geschmiedet werde, habe es seit dem Bündnis gegen die Welle der Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Luttwak ist überzeugt, dass eine „Wende in der amerikanischen Außenpolitik“ bevorstehe. 3 Le Monde, 16. November 2001. 4 „Face the Nation“, CBS, 23. September 2001. 5 Am 2. Oktober, mitten in den russisch-westlichen Flitterwochen, unterzeichnete Russland mit Iran ein Rahmenabkommen über die Lieferung von Militärgütern im Wert von 7 Mrd. Dollar. 6 Das Jackson-Vanik-Amendment von 1974 band die Meistbegünstigungsklausel an freie Ausreisemöglichkeiten für sowjetische Juden und behindert noch heute eine dauerhafte Normalisierung der amerikanischen Handelsbeziehungen mit Russland. 7 Dazu Nina Baschkatow, „Was Moskau befürchtet“, Le Monde diplomatique, November 2001. 8 Moskau macht die Zustimmung zum Nato-Beitritt der baltischen Staaten davon abhängig, dass der Westen eine dieser beiden Bedingungen erfüllt. Der Beitritt wird Thema des Nato-Gipfels in Prag im November 2002 sein. 9 Nach Angaben des russischen Generalstabschefs General Anatoli Kwaschnin reichen die jährlichen Pachtgebühren für die kubanische Station in Lourdes (200 Mio. Dollar) aus, um zwanzig Militärsatelliten herzustellen und in die Erdumlaufbahn zu schießen, zahlreiche moderne Radareinrichtungen inbegriffen. Vietnam verlangte für die Basis in Cam Ranh – die ursprünglich dem Belauschen der chinesischen Marine diente – eine Jahresmiete von 300 Mio. Dollar. 10 Dazu C. J. Chivers, „Long Before War, Green Berets Built Military Ties to Uzbekistan“, New York Times, 25. Oktober 2001. 11 Dazu Vicken Cheterian, „Krisenherd Zentralasien“, Le Monde diplomatique, November 2001. 12 Zbigniew Brzezinski, „A New Age of Solidarity? Don’t Count on It“, Washington Post, 2. November 2001; Henry Kissinger, „Where Do We Go from Here?“, Washington Post, 6. November 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von GILBERT ACHCAR