11.01.2002

Das Völkerrecht und die Sprache der Gewalt

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Das Völkerrecht und die Sprache der Gewalt

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

MEHR und mehr entfernen sich die Staaten der Welt derzeit von rechtlichen und politischen Festlegungen, auf die eine internationale Gemeinschaft sich hätte gründen können. Besonders deutlich wird dies in der Sichtweise des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Bereits 1945 wurde damit begonnen, Grundsätze hinsichtlich der Personenrechte, der Friedenserhaltung und der Rechte von Völkern aufzustellen; in jüngster Zeit kamen Ansätze eines internationalen Strafrechts hinzu, das Verstöße gegen diese Grundsätze nicht länger unbestraft lassen soll. Doch dieser rechtliche Rahmen wurde in der Vergangenheit von allen israelischen Regierungen missachtet, was stets die Unterstützung der Vereinigten Staaten gefunden hat.

Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (hochsymbolisch, aber ohne bindende Wirkung) gibt es verschiedene Vereinbarungen, in denen die gemeinsamen Werte der Weltgesellschaft, in Kriegs- wie in Friedenszeiten, niedergelegt sind. Dazu gehören die internationalen Pakte von 1966 über persönliche, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte sowie die Genfer Konventionen zum Schutz der Menschenrechte in bewaffneten Konflikten, die Konvention gegen Folter sowie die UN-Kinderrechtskonvention. Alle diese Vereinbarungen haben rechtlich bindende Kraft.

Der Staat Israel hat sich seit seiner Gründung um solche Konventionen nie geschert. Die innerhalb seiner Grenzen lebenden Araber sind vielfachen Diskriminierungen ausgesetzt, die gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. In den besetzten Gebieten wird Folter nach wie vor praktiziert, und das nicht nur in Ausnahmefällen. Zeitweise war sie sogar offiziell erlaubt. Und sie macht auch vor Kindern nicht Halt, die einen hohen Anteil unter den Verhafteten ausmachen.1

Alle Menschenrechtsorganisationen – auch israelische – kritisieren die Verweigerung des Rechts auf Bewegungsfreiheit und anderer in Konventionen festgeschriebene Rechte.2 Das impliziert zugleich die Verletzung allgemeiner Rechte, insbesondere der in den Genfer Konventionen aufgeführten Schutzklauseln, durch systematisch durchgeführte Maßnahmen wie Bevölkerungsvertreibung, Errichtung von Siedlungen für Angehörige der Besatzungsmacht, Zerstörung von Häusern und Anbauflächen, willkürliche Verhaftungen und geplante Morde, Maßnahmen zur Aushungerung der Bevölkerung, Zerstörung ihrer Wirtschaft und Einschränkung ihrer Außenkontakte. Viele der Handlungen zeugen zuallererst von der Ehrlosigkeit der Täter; so das Verhalten der israelischen Siedler in Hebron, die ihre Abfälle auf tiefer gelegene palästinensische Häuser kippen, weshalb über den Häusern der arabischen Altstadt Schutznetze aufgespannt werden mussten.

Die Grundsätze der Friedenserhaltung wurden und werden mit Füßen getreten: Israel hält sich weder an das Verbot des Einsatzes militärischer Gewalt und der Annexion von Gebieten noch an das Prinzip der Achtung von territorialer Integrität und politischer Unabhängigkeit anderer Völker.

Somit wird dem palästinensischen Volk der Status als Subjekt des Völkerrechts nicht nur in der Praxis, sondern im Grundsatz verweigert. Dieses Recht, das schon vom Völkerbund definiert und garantiert und später in der UN-Charta als zentrales Prinzip der Vereinten Nationen bekräftigt wurde, hatte die UN dem palästinensischen Volk im Teilungsplan von 1947 zugesichert, als das Territorium halbiert wurde. Doch anstatt mittels Verhandlungen und Überzeugungsarbeit das Einverständnis der Palästinenser zu diesem territorialen Opfer zu erlangen, wollten Israel und seine Verbündeten mit gewaltsamen Mitteln noch mehr erreichen. Der Staat Israel machte sich daran, etappenweise die verbleibende Hälfte Palästinas zu erobern und in Besitz zu nehmen, die eigentlich einem palästinensischen Staat vorbehalten sein sollte.

Die ersten israelischen Gebietsgewinne resultierten aus dem Krieg von 1948 bis 1950. Der Krieg von 1967 brachte die Annexion Ostjerusalems und die Militärherrschaft über die verbleibenden palästinensischen Gebiete. Auch die Oslo-Verträge von 1993, aufgrund deren die so genannte Palästinensische Autonomieverwaltung entstand, haben den israelischen Vormarsch auf palästinensisches Gebiet nie gestoppt.

Obwohl es sich dabei ursprünglich um ein Projekt der politischen Rechten handelte, wurde es auch von der Linken gestützt und weitergeführt. Die Siedlungen in den besetzten Gebieten wurden auch unter den Regierungen der Arbeitspartei ausgebaut, auch wenn man wusste, welchen Terror die fanatischen Siedler verbreiten. Keine der Friedensverhandlungen basierte auf einer umfassenden Anerkennung der Personenrechte und des Völkerrechts. Und obwohl die Haltung der USA gegenüber Israel nicht immer gleich war – je nachdem ob die Republikaner oder die Demokraten die Regierung stellten –, hat keine Regierung Israel klare Grenzen auferlegt.

Heute hat es den Anschein, als wolle die Regierung Scharon dem palästinensischen Volk das Existenzrecht verweigern, also seine Idendität auslöschen. Als handele es sich um die Ablösung eines Gouverneurs oder Statthalters, diskutieren Bush und Scharon darüber, ob Arafat noch zu halten sei oder ausgeschaltet werden müsse. Die Anschläge der Hamas sind eine verabscheuungswürdige Reaktion, doch letztlich hat Israel sich seine Sicherheitsprobleme selbst geschaffen, indem es den Palästinensern alle Möglichkeiten des friedlichen Widerstands verweigerte.

Im Übrigen lehnt man es in Israel ab, die eigene Führung strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen: Ariel Scharon wurde bezüglich der Vorwürfe, die man nach dem Massaker in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila gegen ihn erhoben hatte, von einem nationalen Untersuchungsausschuss reingewaschen; den Internationalen Strafgerichtshof erkennt Israel nicht an; der Staat bekennt sich zur so genannten gezielten Ermordung von Palästinensern, die er für Anschläge verantwortlich macht – doch niemand kommt auf die Idee, die Auftraggeber und Ausführenden solcher Liquidationen gerichtlich zu verfolgen. Dafür wird sich das israelische Nationalbewusstsein vor der Geschichte verantworten müssen.

Durch ihr Scheitern haben sich die Friedensverhandlungen als das erwiesen, was sie immer waren: ein Zwischenspiel, das unfähig war, die Idee der Gerechtigkeit gegen Vorbehalte und Hintergedanken durchzusetzen. Alle (auch die US-amerikanischen Vermittler), die im Juli 2000 an den Friedensgesprächen in Camp David zwischen Clinton, Barak und Arafat direkt beteiligt waren, haben danach erklärt, eine Friedensregelung sei niemals in greifbarer Nähe gewesen. Dagegen schien sich im Januar 2001 in Taba tatsächlich ein Kompromiss zwischen Palästinensern und Israelis abzuzeichnen – doch da war es zu spät, denn der israelische Wahlkampf hatte bereits begonnen.3

Die Palästinafrage ist von den Entwicklungen in der internationalen Politik nicht zu trennen. Inzwischen haben sich die Methoden Israels, der USA, aber auch Russlands angeglichen. Alle drei Staaten sind für die Unterdrückung von Völkern verantwortlich, die ihren Plänen im Wege sind – von Palästinensern, von Tschetschenen, von Irakern. Wobei im Fall der USA die Liste jener Länder, die nach Bedarf als Terroristen oder Schurkenstaaten apostrophiert werden, nicht vollständig ist. Gemeinsam ist all diesen Ländern, dass sie einem Terror ausgesetzt sind, der von militärisch hoch überlegenen Staaten ausgeht. Und dass man ihnen die Beachtung von Regeln aufzwingen will, über die sich die Herren der Welt mutwillig und permanent hinwegsetzen. Ein Beispiel: Gerade jene Staaten, die sich durch protektionistische Maßnahmen schützen, verlangen von allen anderen ein striktes Bekenntnis zum Freihandel. Weil Irak im Verdacht steht, biologische Waffen zu besitzen, werden die Sanktionen aufrechterhalten, dabei sind die USA selbst nicht bereit, ein Protokoll zu unterzeichnen, das die Kontrolle solcher Waffen vorsieht.4 Und im US-Kongress wird sogar ein Gesetzentwurf diskutiert, der Sanktionen gegen alle Staaten vorsieht, die für eine internationale Strafgerichtsbarkeit eintreten.

Israel fordert die Palästinensische Autonomiebehörde auf, die Hintermänner von Attentaten zu verhaften und auszuliefern, und gleichzeitig schwächen die israelischen Angriffe bewusst und gezielt palästinensische Polizeikräfte, die diese Verhaftungen durchführen müssten. Wenn dagegen, was kaum vorstellbar ist, Jassir Arafat oder ein anderer palästinensischer Führer es wagen sollte, von Ariel Scharon die Verhaftung der (namentlich bekannten) Urheber gezielter Mordanschläge auf palästinensische Führungspersonen und deren Überstellung an palästinensische Gerichte zu fordern – die Empörung wäre grenzenlos.

Die Anerkennung Palästinas erwägen

ALLE israelischen Regierungen (die man natürlich nicht mit der Gesamtheit der Bevölkerung gleichsetzen darf) genießen große Unterstützung in der ganzen Welt. Diese proisraelischen Kräfte unterstützen mit beträchtlichem Engagement die israelische Politik und scheuen sich nicht, diejenigen einzuschüchtern und zu bedrohen, die von Israel die Einhaltung internationaler Rechte einfordern. Wer es wagt, die antipalästinensische Politik der israelischen Regierung zu kritisieren, muss mit dem Vorwurf des Antisemitismus rechnen.

Wie kann man aus dieser verfahrenen Situation herausfinden? Es geht ja nicht nur um die Palästinenser oder andere Völker, die etwa durch Russland oder die USA in ähnlicher Weise unter Druck gesetzt werden. Das Problem ist weit umfassender. In den meisten Ländern des Südens, zumal in den Staaten der arabisch-muslimischen Welt, gibt es keine demokratischen Verhältnisse, und die persönlichen Freiheiten stehen nicht hoch im Kurs. Wenn sich die mächtigsten Staaten über die Bestimmungen des internationalen Rechts und das Prinzip der Gleichberechtigung aller souveränen Staaten – unentbehrliche Voraussetzung für die Herausbildung einer internationalen Demokratie – einfach hinwegsetzen, müssen sich die Machthaber in den Entwicklungsländern in ihrer Willkürherrschaft bestärkt fühlen. Den Menschen in diesen Ländern bleibt nur die Verzweiflung, die alle möglichen Formen von Fanatismus ausbrütet.

Gerade weil die Werte, die jetzt weithin missachtet werden, einst in Europa entstanden sind, tragen die europäischen Staaten die Verantwortung, mehr zu tun, als mit einer an Feigheit grenzenden Zurückhaltung den Leiden zuzusehen, die viele Völker, und gerade auch die Palästinenser, zu erdulden haben.

Zur Veränderung der Situation könnten drei Maßnahmen beitragen. Zum einen könnte man eine Eingreiftruppe entsenden, etwa unter dem Oberbefehl der Vereinten Nationen. Dass die USA dagegen ihr Veto einlegen würden, sollte nur diejenigen abschrecken, die ohnehin nichts tun wollen. Denn ein Veto blockiert zwar die Entscheidungen des Sicherheitsrats, kann aber von der UNO-Vollversammlung aufgehoben werden, wie dies – auf Initiative der USA – bereits mehrfach geschehen ist. Solch eine Aufwertung der Rolle der Vollversammlung würde auch der UNO gut tun, die an ihrer Machtlosigkeit zu scheitern droht. Notfalls könnte eine europäische Truppe die Aufgabe übernehmen. Das wäre zugleich eine gute Gelegenheit für die EU-Staaten, sich auf eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik festzulegen. In jedem Fall wäre mit dem Widerstand der USA und selbstverständlich Israels zu rechnen. Doch es geht um die Abwehr einer Gefahr, die uns alle betrifft, und dafür sollte man etwas riskieren.

Eine zweite Möglichkeit wären wirtschaftliche Maßnahmen. Die EU kann die Einfuhr von Erzeugnissen aus den israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten untersagen, um deutlich zu machen, dass sie die Siedlungspolitik als illegal betrachtet. Eigentlich sollte man noch einen Schritt weiter gehen, und so lange jede finanzielle Unterstützung verweigern, bis Israel bereit ist, sich an alle Bestimmungen des internationalen Rechts zu halten.

Eine dritte Möglichkeit wäre die Anerkennung Palästinas. Jede Regierung hat die Freiheit, sich für die Gründung dieses Staates auszusprechen. Formal wäre das kein Problem – es liegt in der Hand der jeweiligen Führung. Die PLO hatte 1988 bereits ein unabhängiges Palästina proklamiert, das von einer Reihe von Ländern anerkannt worden war. Warum sollten sich die Mitgliedstaaten der EU nicht anschließen? Falls man eine erneute Unabhängigkeitserklärung für nötig hält – Jassir Arafat, den man immer wieder von diesem Schritt abhalten musste, dürfte dazu gern bereit sein. Gar nichts zu unternehmen bedeutet jedenfalls, die gegenwärtige Entwicklung stillschweigend zu billigen.

dt. Edgar Peinelt

* Lehrt an der Universität Paris-VII-Denis-Diderot.

Fußnoten: 1 „Enfants palestiniens détenues par Israël: exigez le respect de leurs droits“, Plate-forme des ONG françaises pour la Palestine, November 2001. 2 Siehe die Berichte von amnesty international, Human Rights Watch und der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem. 3 Siehe Robert Malley, „Quelques légendes sur l’échec de Camp David“, Le Monde, 17. Juli 2001, und Alain Gresh, „Verpasste Friedenschancen“, Le Monde diplomatique, September 2001. 4 Vgl. Le Monde, 25./26. November 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU