15.02.2002

Sittenwidrige Schulden

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Sittenwidrige Schulden

Von ERIC TOUSSAINT *

IM Jahre 1914 stellte Mexiko, mitten in der von Emiliano Zapata und Pancho Villa angeführten Revolution, die Bedienung seiner Auslandsschulden ein. Mexiko war damals der größte Schuldner seines nördlichen Nachbarn USA, doch zwischen 1914 und 1942 zahlte das Land nur symbolische Summen zurück, um die Gläubiger bei Laune zu halten.

Anschließend verhandelte man zwanzig Jahre lang (1922 bis 1944) mit einem Gläubigerkonsortium unter Leitung eines der Direktoren der US-amerikanischen Morgan Bank. 1938 überführte der mexikanische Staatspräsident Lázaro Cárdenas die in den Händen amerikanischer Unternehmen liegende Erdölindustrie entschädigungslos in Staatseigentum.

Die Gläubiger erhoben natürlich lauten Protest gegen diese Maßnahme, die dem Volk zugute kam, doch Mexiko blieb standhaft. Das zahlte sich schließlich aus, denn die Gläubiger verzichteten 1942 auf 90 Prozent ihrer Forderungen und ließen sich mit kleineren Entschädigungssummen für die enteigneten Unternehmen abfinden. Auch andere Länder, darunter Brasilien, Bolivien und Ecuador, stellten nach 1931 ihren Schuldendienst teilweise oder sogar vollständig ein. Brasilien hielt sein selektives Rückzahlungsmoratorium so lange durch, bis im Jahr 1943 eine generelle Verringerung der Schulden um 30 Prozent vereinbart wurde. Ecuador unterbrach den Schuldendienst bis in die Fünfzigerjahre hinein.

Im Laufe der Dreißigerjahre setzten insgesamt 14 Länder die Rückzahlungen über eine längere Zeit aus. Wie schon in der Krise am Ende des 19. Jahrhunderts war Argentinien der einzige Großschuldner, der seinen Verpflichtungen ohne Unterbrechung nachkam. Das Resultat war, dass die argentinische Wirtschaftsbilanz in den Dreißigerjahren weit schlechter ausfiel als die der beiden anderen Großschuldner Mexiko und Brasilien.

Die Einstellung des Schuldendienstes, die Argentinien im Dezember 2001 verfügte, nachdem Präsident de la Rúa infolge öffentlicher Proteste gegen den Sparkurs seiner Regierung hatte zurücktreten müssen, war daher nicht die erste ihrer Art. Seit die meisten lateinamerikanischen Länder zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig wurden, stellten sie im Laufe der vier großen Schuldenkrisen (siehe Kasten) immer wieder ihre Rückzahlungen ein.

Während der ersten Krise, die von 1826 bis 1850 dauerte, setzten fast alle lateinamerikanischen Länder ihren Schuldendienst aus. Ein Vierteljahrhundert später, 1876, zahlten 11 Länder ihre Kredite nicht mehr zurück. In den Dreißigerjahren erklärten 14 Länder ein Moratorium.2 Zwischen 1982 und 2002 stellten Mexiko, Bolivien, Peru, Ecuador, Brasilien und Argentinien jeweils für mehrere Monate die Rückzahlung ihrer Kredite ein. Eine Zahlungseinstellung ermöglicht es den Schuldnerstaaten in der Regel, günstigere Konditionen in den Umschuldungsverhandlungen herauszuschlagen.

Anne Krueger, neoliberale Stanford-Professorin und Vorkämpferin in Sachen Freihandel, wurde von der Bush-Administration als IWF-Vizepräsidentin nominiert und agiert inzwischen als Aufpasserin von IWF-Chef Horst Köhler. Sie verkündete am 26. November 2001, dass der IWF an einem neuen Verfahren arbeite, das in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Ländern die Möglichkeit eröffnen soll, ihre Kreditrückzahlungen für längere Zeit auszusetzen.3 Diese Maßnahme zielt darauf ab, offene Schuldenkrisen möglichst zu vermeiden und die Schuldenlast erträglicher zu gestalten, indem man die Privatgläubiger zwingt, auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten. Dem IWF geht es vor allem darum, die Privatgläubiger an die Kandare zu nehmen, damit sich Krisenszenarien wie in Mexiko 1994, in Südostasien 1997, in Russland 1998 und nun in der Türkei und in Argentinien künftig nicht wiederholen. Bis das neue Verfahren steht, werden nach Auskunft von Anne Krueger aber noch zwei bis drei Jahre ins Land gehen. Für Argentinien kommt der Vorschlag jedenfalls zu spät.

Dabei ist allerdings offensichtlich, dass der IWF und die Gläubiger den verschuldeten Ländern lediglich eine Atempause gönnen wollen. Sie haben es seit August 1982, als Mexiko seinen Schuldendienst vorübergehend einstellte, noch immer verstanden, die Situation aufs vorteilhafteste zu nutzen. Die Zahlungsunterbrechungen dauerten ausnahmslos weniger als ein Jahr und wurden nie von mehreren Ländern gemeinsam beschlossen. Die Privatgläubiger machten profitable Geschäfte, und der IWF schaffte es jedes Mal, die Summen verzinst zurückzubekommen, die er den Schuldnerländern als „Hilfspakete“ überwies, damit diese ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen und den Schuldendienst entweder fortsetzen oder wieder aufnehmen konnten (siehe Kasten).

Die staatlichen Auslandsschulden Argentiniens belaufen sich derzeit auf über 130 Milliarden Dollar, obwohl das Land in den 25 Jahren seit dem Machtantritt der Militärdiktatur im März 1976 insgesamt über 200 Milliarden Dollar zurückgezahlt hat. Zwischen 1976 und 1983, während der „bleiernen Jahre“ des terroristischen Militärregimes, erhöhten sich die Auslandsschulden um das Fünfeinhalbfache – von 8 Milliarden Dollar auf 45 Milliarden Dollar. Der IWF hat die Generäle in dieser Zeit systematisch unterstützt und beraten – und der argentinischen Zentralbank sogar einen hohen Beamten aus den eigenen Reihen zur Seite gestellt. In den letzten Jahren der Militärdiktatur wurde der Löwenanteil der privaten Auslandsschulden mittels illegaler Machenschaften dem Staat aufgebürdet.

Nach dem Völkerrecht stellen Schulden, die ein diktatorisches Vorgängerregime aufgenommen hat, so etwas wie „sittenwidrige Schulden“ dar. Darauf hätte sich Präsident Raúl Alfonsin nach der Rückkehr zur Demokratie 1985 berufen können, um die Ansprüche des IWF und der Gläubiger zurückzuweisen. Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, nach In-Kraft-Treten der neuen Verfassung unterzeichnete Alfonsin mit dem IWF ein Abkommen, in dem er sein Land verpflichtet, alle Schulden auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen. Die in der Folge aufgenommenen Kredite dienten im Wesentlichen der Finanzierung dieser Altlasten.

Im Juli 2000 kam in Buenos Aires die Zweite Kammer des Obersten Gerichts nach achtzehnmonatigen Verhandlungen zu dem Urteil, Argentiniens Auslandsschulden seien unrechtmäßig und das Verschulden hierfür liege bei den privaten Auslandsgläubigern, dem IWF und der US-Zentralbank.5 Der 195-seitige Urteilstext legt dar, wie die argentinischen Kapitalisten die nationale Ökonomie systematisch ausgeplündert und ihre Vermögenswerte ins Ausland transferiert haben. Die Bürger können von Präsident Eduardo Duhalde daher mit vollem Recht verlangen, dass er die Zahlungseinstellung aufrechterhält, um damit eine Annullierung der Schulden zu erreichen.

Eine Regierung mit dem obersten Ziel, die Grundrechte der Bürger durchzusetzen und dafür auch konkrete Schritte zu unternehmen, könnte in der Bevölkerung mit breiter Unterstützung rechnen. Und dies nicht nur in Argentinien. In Brasilien, das beim Ausland mit 250 Milliarden Dollar in der Kreide steht, finden im Oktober 2002 Präsidentschaftswahlen statt. Der neue Präsident könnte mit Argentinien gemeinsam Front gegen die Gläubiger machen. Für Lateinamerika könnte dies eine historische Wende bedeuten.

dt. Bodo Schulze

* Vorsitzender des Komitees für die Annulierung der Schulden der Dritten Welt

Fußnoten: 1 Ein detaillierte Analyse findet sich bei Carlos Marichal, „A Century of Debt Crises in Latin Amerikca, 1820–1930“, Princeton University Press 1989. Vom selben Autor auch „La deuda externa: el manejo coactivo en la política financiera mexicana, 1885–1995“, unveröffentlichtes Manuskript, Mexiko 1999. 2 Siehe Eric Toussaint, „La Bourse ou la Vie“, Paris/Brüssel (Syllepse/CADTM) 1999, S. 104–108. 3 Siehe die IWF-Webseite http://www.imf.org/external/np/speeches/2001/112601.htm. 4 Der IWF hat Buenos Aires eine einjährige Frist eingeräumt, um die 741 Millionen Dollar zurückzuzahlen, die am 17. Januar 2002 fällig wurden. 5 Der Urteilstext steht auf der Webseite des CADTM: http://users.skynet.be/cadtm, „Dossier Argentine“.

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von ERIC TOUSSAINT