17.05.2002

Die Monotonie der Zeichen

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Die Monotonie der Zeichen

Die Digitaltechnik ist auf dem Vormarsch. Der Druck auf Hersteller und Konsumenten, sich in die Welt aus Nullen und Einsen einzufügen, wächst. Damit künftig via Multimedia-Handy ein bestimmter Aktienkurs abgefragt werden kann, damit über die Telefonleitung Fotos gefunkt und über High-Tech-Geräte Musikdateien heruntergeladen werden können und damit, nicht zuletzt, die Kommunikationstechnologie-Unternehmen bei all diesen Prozeduren ihren Profit abschöpfen können, konzentriert sich derzeit alles auf die Frage der „Konvergenz“, auf die Vereinheitlichung an den Schnittstellen von Inhalt, Programmen und Technologien.

Von DAN SCHILLER *

IM Lauf der vergangenen 25 Jahre sind die traditionellen Medien – analoges Radio und Fernsehen eingeschlossen – zunehmend durch neue Technologien verdrängt worden. Nach einer US-amerikanischen Erhebung vom Frühjahr 2000 empfangen 79 Prozent der Haushalte Kabel- oder Satellitenfernsehen, 59 Prozent besitzen einen PC, 53 Prozent ein Handy, und 29 Prozent surfen fast täglich im Internet. Hinzu kommen DVD- und MP3-Player für Film beziehungsweise Musik, Faxgeräte, digitale Assistenten, Spielekonsolen, CD-Brenner und dergleichen mehr.

Die Vermarktung der neuen Medien läuft unter dem Stichwort „Innovation“. Dahinter verbirgt sich jedoch weit mehr, nämlich eine grundlegend neue Technologie, deren Folgen in ihrem Ausmaß erst ansatzweise abschätzbar sind. Die Digitaltechnik erlaubt es, einen immer größeren Teil der menschlichen Erfahrung mehr oder weniger realistisch im „Esperanto der Nullen und Einsen“1 abzubilden. Ihre unwiderstehliche Kraft bezieht die Digitalisierung aus den wirtschaftlichen und strategischen Vorteilen dieser Technik: weiträumige Datenübertragung, exakte Signalreproduktion, flexible Speicher- und Verarbeitungstechniken.

Mit der Digitalisierung kam ein Prozess umfassender Medienkonvergenz in Gang. Während die analogen Medien naturgemäß nur einen Informationstypus übertragen können – Telefon und Radio nur Ton, Presseerzeugnisse nur Text, Fernsehen nur Bilder –, eignet sich die Digitaltechnik für eine breite Palette von Kommunikationsleistungen, die ausnahmslos auf Nullen und Einsen reduziert werden. Ob Fernseher, Computer, Handy oder Spielekonsolen, in den meisten Geräten der Konsumelektronik stecken ungeachtet ihrer unterschiedlichen Funktionalität oft dieselben Komponenten.

Die Konvergenz der digitalen Medien hat die weitgehend oligopolistisch organisierten Einzelmärkte der klassischen Medien destabilisiert. Den führenden Unternehmen der Kommunikationsbranche blieb keine andere Wahl, als nach Lösungen zu suchen, um Art und Geschwindigkeit des Wandels in den Griff zu bekommen. Sie fusionierten zu Multimediakonzernen des Typs AOL-Time-Warner-CNN und Vivendi-Universal2 und bemühten sich, das Internet in bestehende Angebote und Dienstleistungen zu integrieren, vor allem aber den Umbruch so zu gestalten, dass er möglichst viel Profit abwirft.

Drei Merkmale kennzeichnen die Medienkonvergenz: Erstens betrifft sie die strategischen Grundlagen der Branche. Angefangen beim Betriebssystem für PCs und andere Konsumelektronik über die Digitalformate von Musikaufnahmen, die Technikstandards fürs Digitalfernsehen und die Netzwerkprotokolle bis hin zu den Top Level Domains im Internet – es gibt keinen Bereich, der sich dem Zugriff des Markts entziehen könnte. Jede Medienplattform gilt inzwischen als potenzieller Türöffner für neue Märkte, oder, falls nötig, auch nur als Instrument der Bestandsicherung.

Zweitens ist in diesen harten Kampf um Marktvorteile ein viel breiteres Unternehmensspektrum involviert. Neben den bekannten – neuerdings als content providers bezeichneten – Produzenten von Inhalten haben auch die Hersteller von Konsumelektronik, die Betreiber von Telekommunikationsnetzen und die Softwarehäuser ihre Finger im Spiel. Häufig geht es dabei um schwer durchschaubare, aber grundlegende Dinge wie Industriestandards.

Drittens wird der Kampf um die Kontrolle der Konvergenzdynamik transnational ausgetragen. Ländergrenzen spielen keine Rolle mehr. Mit nur kaum verhohlenem Bedauern meinte Vivendi-Chef Jean-Marie Messier: „Kein Medienunternehmen kann hoffen, sämtliche Vertriebsketten weltweit zu kontrollieren.“

Auf welche Segmente mag also Vivendi sein Interesse konzentrieren? Ein viel versprechendes Produkt wäre zum Beispiel die Set Top Box. Das Ensemble aus hoch entwickelter Digitalelektronik und spezieller Software eröffnet die Möglichkeit, eine ganze Palette von TV-Diensten zu kontrollieren. Die Bandbreite reicht vom herkömmlichen Fernsehprogramm über Video-on-Command bis hin zu den zahlreichen Möglichkeiten, die die Vernetzung von Fernsehapparat und PC bietet:3 Hochgeschwindigkeits-Internet, Netzwerkspiele, E-Mail, Online-Shopping, Mikro-Payment, Speichern von Videos, Fotos und Musik, Abspielen von DVDs. AOL-Time-Warner hofft trotz skeptischer Analysen, seine Abonnenten in wenigen Jahren so weit zu haben, dass sie für Spiele, Telefondienste, Musik und Hochgeschwindigkeits-Internet monatlich 180 Euro bezahlen. Ähnliche Vorstellungen hört man aus der Führungsetage von Vivendi. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Set Top Box haben sich zahlreiche Unternehmen zu Konsortien zusammengeschlossen und rivalisierende Versionen auf den Markt gebracht.

Durch die Übernahme von Canal+ erwarb Vivendi ein Unternehmen mit langjähriger Erfahrung im Bereich Bezahlfernsehen und Set Top Box. Die MediaHighway-Software dieses Privatsenders läuft bereits in 12,5 Millionen europäischen Haushalten. Darüber hinaus unterzeichnete Canal+ mit dem Konsumelektronikhersteller Sony, dem Computerkonzern Sun Microsystems und einer Reihe kleinerer Softwarefirmen ein langfristiges Partnerschaftsabkommen.

Und das ist noch nicht alles. Mit 1,5 Milliarden Dollar stieg Vivendi-Universal beim Satelliten-TV-Betreiber EchoStar ein, der 7 Millionen Abonnenten zählt. Die Finanzspritze kam zur rechten Zeit. EchoStar plant eine milliardenschwere Fusion mit der Hughes Holding, die in den Vereinigten Staaten 10 Millionen Haushalte mit dem Konkurrenzprodukt DirectTV versorgt. Sollten die amerikanischen Kartellbehörden grünes Licht geben – was noch nicht sicher ist –, erhielte Vivendi Zugriff auf einen Großteil der US-amerikanischen Satellitendienste – und auf 27 Millionen Abonnenten in aller Welt. Überdies hofft der Konzern durchzusetzen, dass EchoStar anstatt der bisher verwendeten Set-Top-Box-Software das Vivendi-Produkt MediaHighway einsetzt und im Fall einer Vertragsunterzeichnung mit Hughes auch dem von DirectTV bislang bevorzugten Microsoft-Produkt den Laufpass gibt. Auch hier geht es nicht allein um den Markt für Set-Top-Boxen, sondern um die potenziellen Märkte, die sich dadurch im Bereich interaktiver Dienste eröffnen.

Multifunktionales Handy und High-Speed-Internet

DIE Komplexität dieser Zusammenhänge sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Entwicklungspotenzial der Set Top Box noch lange nicht erschöpft ist; das gilt zumal für den Bereich digitaler audiovisueller Produkte. Die an den Fernseher angeschlossenen Spielekonsolen zum Beispiel bringen immer mehr Funktionen mit, die der Funktionalität einer Set Top Box recht ähnlich sind. Die neuesten Versionen bieten die Möglichkeit, das TV-Empfangsteil anzusteuern, im Internet zu surfen, online zu spielen und DVDs abzuspielen. So forderte etwa Microsoft mit dem zeitgleichen Marktstart der Xbox in den USA, Europa und Japan die Platzhirsche des Konsolenmarkts, nämlich Sony und Nintendo, heraus.4

Eine weitere Konvergenzplattform sind die Handys der dritten Generation. Auch hier hat der Vivendi-Konzern über seinen Ableger Cegetel und das Partnerschaftsabkommen mit Vodafone die Finger im Spiel. Die Vivendi-Strategen ködern potenzielle Käufer mit der Aussicht, „jederzeit und überall“ Zugang zu Kommunikationsdiensten zu haben. So könne der Verbraucher in Echtzeit die aktuellen Börsenkurse und den Wetterbericht abfragen, sich mit Musik berieseln lassen, das nächstgelegene Restaurant herausfinden, Zeichentrickfilme anschauen und dergleichen mehr.

Schließlich ist mit Blick auf die beschriebene Medienkonvergenz noch der Computer zu nennen, ein zwar voluminöses, aber doch praktisches Mittel, um sich in die diversen Kommunikationsströme einzuklinken. Fast 40 Prozent der PC-Nutzer spielen auf ihrem Rechner auch CDs ab, knapp ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung schaltete 2001 eines der zahlreichen Internetradios ein oder sah sich online Filme an. Das größte unabhängige Hollywood-Filmstudio Carsey-Werner unterhält monatlich über 200 Millionen Surfer in aller Welt mit Auszügen aus erfolgreichen Filmproduktionen. Das Angebot versucht sich als Werbeträger zu positionieren. RealNetworks, Hersteller einer weitverbreiteten Videoplayer-Software für den PC, bietet seinen Abonnenten ab 9,95 Dollar pro Monat Sendungen von ABC News, CNN, E-Entertainment Television und Fox Sports Net an, die an den Einnahmen beteiligt sind. Die neueste Version der AOL-Zugangssoftware, die von 32 Millionen Surfern benutzt wird, hält auf der Startseite einen Button zum Radiohören bereit. Angesichts des immensen Drucks, mit dem das High-Speed-Internet in den Markt gedrückt wird, dürfte die Nutzung solcher Kommunikationsdienste in nächster Zeit rapide anwachsen.

Auch in der Musikbranche gehört Vivendi zu den ganz Großen (850 000 Titel). Vor kurzem startete das Unternehmen in Zusammenarbeit mit Sony, EMI, Microsoft und einigen unabhängigen Labels einen kostenpflichtigen Musikabodienst. Pressplay, wie das Angebot heißt, hat sich im Verein mit seinem einzigen Konkurrenten MusicNet zum Ziel gesetzt, proprietäre und kostenpflichtige Online-Musikdienste gegenüber der Surfergemeinde zu legitimieren – und damit möglichst viel Profit zu machen.

Die beiden Lizenzierungsdienste kämpfen mit harten Bandagen gegen die diversen Musiktauschbörsen, die am Kommerz vorbeiagieren. Der Fall Napster war hier nur der Anfang. Nachdem das Pionierunternehmen von den Großen der Musikbranche totgeklagt war, sind mit Morpheus, LimeWire und Kazaa5 flugs die nächsten Anbieter aufgetreten. Und die Hersteller von Konsumelektronik gießen Öl ins Feuer, indem sie die Werbetrommel für ihre neuen Aufnahmetechniken rühren. Die Musikbranche steht wie alle anderen Medienproduzenten vor einschneidenden Veränderungen. Welche Geräte, Vertriebskanäle und Programmdienste das Rennen machen werden, lässt sich freilich noch nicht absehen.

Doch unabhängig davon, welche Plattformen und Dienste schließlich die Oberhand gewinnen werden – fest steht schon jetzt, dass der Nutzer neue Lösungen braucht, um sich im Dschungel der zahllosen Angebote zurechtzufinden. Eine Möglichkeit wären so genannte elektronische Programmführer (EPG oder Electronic Program Guide). Die interaktive TV-Lösung soll dem Verbraucher behilflich sein, unter Dutzenden von Fernsehsendern, Spielen, E-Mail- und anderen Multimediadiensten das für ihn Passende auszuwählen. Die führende elektronische Programmzeitschrift dieser Art, der „Gemstar-TV Guide“, arbeitet mit der News Corporation und Liberty Media zusammen. Eine andere Möglichkeit könnten die Portale bieten, die per Computer und Handy zugänglich sind. Doch egal ob EPG oder Portal, der Startbildschirm ist stets als Konvergenzpunkt für kommerzielle Angebote und Werbung konzipiert.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der University of California, San Diego, Autor von „Digital Capitalism“, Cambridge, Mass. (MIT Press), 1999.

Fußnoten: 1 Die Formulierung stammt von Jim Davis und Michael Stack: „The Digital Advantage“, in: Davis, Hirsch und Stack (Hrsg.), „Cutting Edge: Technology, Information, Capitalism and Social Revolution“, London (Verso) 1997. 2 Dazu Dan Schiller, „Vivendi schluckt Universal“, Le Monde diplomatique, Januar 2001. 3 Dazu Philippe Rivière, „Die Rattenfänger des Internet“, Le Monde diplomatique, Juni 2000. 4 Vivendi will zwar auch den Spielemarkt erobern, aber nicht über eine patentierte Spielekonsole. Die Angebotspalette der Vivendi Universal Computerspiele enthält im Übrigen auch das durch Robert Steinhäuser zu trauriger Berühmtheit gelangte Counter-Strike. 5 Dazu Yves Eudes, „Qui a peur de Kazaa“, Le Monde, 28. Februar 2002.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von DAN SCHILLER