14.06.2002

Schiffbruch der Illusionen

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Schiffbruch der Illusionen

Über 100 000 Marokkaner versuchen jedes Jahr, illegal über die Meerenge von Gibraltar nach Europa zu gelangen. Für viele findet der europäische Traum ein tödliches Ende. Tausende werden an den streng bewachten Grenzen des Schengen-Gebiets abgefangen und unverzüglich zurückbefördert. Trotz der Gefahren und obwohl die Schlepper und deren Helfershelfer enorme Summen verlangen, suchen immer mehr junge Marokkaner ihr Glück in Europa. Nach der in den 1960er-Jahren erreichten Unabhängigkeit hatte die Bevölkerung der Maghrebländer gehofft, der nationale Aufbruch werde in eine ökonomische Entwicklungsperspektive münden. Vierzig Jahre später ist diese Hoffnung von einer Zukunft im eigenen Lande zur Illusion geworden.

Von PIERRE VERMEREN *

WEGGEHEN und ankommen – das ist das Thema eines der erfolgreichsten Varietéprogramme im Maghreb der Neunzigerjahre: „Ia raiah ouin moussafer“ („Reisender, wohin hat es dich verschlagen?“) ist eine Hommage an die Nordafrikaner im Exil, die anschaulich macht, wie viele Maghrebiner vom Auswandern nach Europa oder Kanada träumen. Kaum jemand im wohlhabenden und freien Europa kann sich vorstellen, was es bedeutet, dass seit In-Kraft-Treten des Schengen-Abkommens im Jahre 1990 die Zahl der Einreisegenehmigungen nach Europa drastisch zurückgegangen ist. Insbesondere die Jugendlichen im Maghreb fühlen sich wie eingesperrt. Und so bleibt vielen nur die illegale Aus- und Einwanderung von Gibraltar nach Spanien, die in den letzten Jahren enorm zugenommen hat.

Die Überfahrt über die Meerenge ist ein lebensgefährliches Abenteuer; sie geschieht in der Regel mit so genannten pateras, schnellen Fischerbooten mit 40- bis 60-PS-Motoren, die überall entlang der Nordküste Marokkos ablegen, selbst in Kenitra in unmittelbarer Nähe der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Aber die zunehmend schärfere Überwachung der Meerenge zwingt die Fluchthelfer zu immer tollkühneren Unternehmungen. Aus den zwölf Kilometern, die Spanien und Marokko an der schmalsten Stelle trennen, kann leicht eine Odyssee von mehreren hundert Kilometern werden – die entsprechend gefährlich ist, vor allem, wenn die Boote Richtung Westen auf den offenen Atlantik ausweichen. Erst Ende April dieses Jahres kenterte ein Boot vor Agadir. Bis jetzt wurden sieben ertrunkene Marokkaner gefunden.

Für die marokkanische und die spanische Polizei ist die Bergung angeschwemmter Leichen längst traurige Routine. Die Opfer ertranken, weil ihr Boot Schiffbruch erlitten hat, oder sie wurden von ihren Schleppern aus Angst vor einem nahenden Boot der Küstenwache ins Meer geworfen. Auf spanischer Seite wurden im Jahr 2000 offiziell 72 Leichen geborgen, die überlebenden Schiffbrüchigen zählten 271 Tote. Auch die marokkanischen Medien berichten regelmäßig über solche Unglücksfälle entlang der Nordküste des Landes. So hat am 26. September 2001 der Untergang eines einzigen Bootes 38 Menschenleben gefordert. Die marokkanische Vereinigung der Freunde und Familien von Opfern der illegalen Einwanderung (AFVIC) gibt an, zwischen 1997 und 2001 seien beiderseits der Meerenge 3 286 Leichen angeschwemmt worden. Geht man davon aus, dass nur jeder dritte Tote gefunden wird, würde dies bedeuten, dass in den vergangenen fünf Jahren allein in der Meerenge von Gibraltar über 10 000 Auswanderer umgekommen sind.

Eine besondere Situation herrscht in den beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, die an der marokkanischen Nordküste liegen. Weil hier die Marokkaner aus der näheren Umgebung mit einem gewöhnlichen Personalausweis einreisen können, ziehen die Enklaven viele Menschen an, die illegal nach Europa weiterkommen wollen. Allein in Ceuta sollen es jeden Tag 25 000 versuchen. Die Enklave versucht deshalb, die Ausreisewilligen mit einer Art eisernem Vorhang aus elektrischem Stacheldraht abzuhalten. Dennoch sind beide Enklaven einem enormen Migrationsdruck – insbesondere von Kindern – ausgesetzt. Jährlich werden tausende von ihnen zurückgeschickt. „Die marokkanischen Behörden zeigen absolut kein Interesse für das Wohlergehen ihrer Kinder und Jugendlichen“, erklärte jüngst der spanische Innenminister Mariano Rajoy.1

Nach Auskunft der marokkanischen Behörden stammen die Migranten aus allen Teilen Afrikas und sogar aus dem Nahen Osten und Asien, laut spanischer Polizei hingegen sind 80 Prozent der Einwanderer Marokkaner. Jedenfalls gehören Auswanderer aus ganz Afrika in Tanger oder Rabat zum Stadtbild – trotz der katastrophalen Lebensbedingungen. Sie kommen durch die Sahara nach Algerien, wo sie von Schleppern übernommen werden, die sie in Richtung Tetouan oder Nador weiterschleusen. Mitunter werden diese Migranten kurzerhand ohne Gerichtsverfahren oder Einspruchsrecht, manchmal sogar gleich gruppenweise nach Algerien abgeschoben, was allen internationalen Bestimmungen widerspricht. Vor kurzem wurde ein Auswanderungslager mit 10 000 „Einwohnern“ aufgelöst.

Als Marokkaner, der nach Europa will, hat man verschiedene Möglichkeiten. Für Kinder wohlhabender Eltern gibt es einen sicheren Zugang zur Reisefreiheit: Man geht auf eine der ausländischen Schulen auf marokkanischem Boden. Schwieriger ist es für die Absolventen öffentlicher Schulen. Allein im vergangenen Jahr haben 14 000 marokkanische Abiturienten (d. h. jeder Vierte) über die französische Botschaft in Rabat einen Studienplatz in Frankreich beantragt. Auch für Spanien und Kanada liegen zahlreiche Anträge vor. Absolventen marokkanischer Universitäten sind – je nach Fachrichtung – durchaus begehrt. So wurden alle Informatiker, die im Jahr 2001 an Marokkos angesehenster technischer Fachhochschule „Mohammedia“ Examen gemacht haben, vom Ausland angeworben. Auch Führungskräfte haben gute Aussichten: Seit einigen Jahren gehen immer mehr ausgebildete und relativ gut situierte Dreißigjährige – Ärzte, Ingenieure, Manager – ins Exil, meist in Richtung Frankreich oder Kanada.

Für den Durchschnittsmarokkaner ist die Sache weitaus teurer und schwieriger. Eine Möglichkeit besteht darin, ein Schengen-Visum zu erhalten und nach dessen Ablauf nicht zurückzureisen. Immer wieder nutzen marokkanische Sportler eine Auslandsreise, um sich abzusetzen. Im vergangenen Winter etwa ließ sich ein französischer Rugby-Verband unfreiwillig einspannen, indem er für einen imaginären marokkanischen Rugby-Klub dutzende von Einreisegenehmigungen beschaffte. Da jedoch selbst ein Besuchervisum schwer erhältlich ist, werden gefälschte Papiere für 5 000 bis 6 000 Euro gehandelt.

Auch mit dem Flugzeug kommt man weg. Das gilt nicht nur für die jungen Mädchen, die als Haushaltshilfen in den Golfstaaten anheuern. Systematisch genutzt werden Flugtickets, die eine Zwischenlandung auf einem europäischen Flughafen vorsehen: Man bucht einen Flug nach Australien oder China, der über Paris oder Rom führt, wo man gegen Zahlung einer stattlichen Summe von Komplizen aus dem Flughafen geschleust wird. Das kostet insgesamt zwar rund 7 000 Euro, ist aber die weitaus sicherste Methode. Eine Möglichkeit ist auch der Landweg, denn immerhin überqueren jährlich an die 100 000 Lastwagen die Meerenge von Süden nach Norden. In der Industriezone von Rabat suchen zahlreiche Jugendliche (notdürftig mit Proviant ausgestattet) nach einer Mitfahrgelegenheit in einem der Textiltransporter. Begehrt sind auch Reisebusse, bei denen die Fahrer mitspielen müssen (Kostenpunkt 5 000 Euro), oder die Bustouren nach Tunis und Sizilien (3 000 Euro). Den riesigen Umweg einer Schiffsreise vom Hafen El Jadida in Richtung Türkei oder Griechenland haben im letzten August 140 Marokkaner versucht.

Natürlich gibt es außerdem die mehr oder weniger privaten, individuellen Lösungswege – wie Heirat, Familienzusammenführung oder Arbeitsvertrag in Italien. Doch der Großteil der Illegalen gelangt auf den berüchtigten pateras nach Europa. Die meisten Auswanderer stammen aus den drei großen Krisengebieten Marokkos. Das sind die drei Regionen zwischen Nador und Oujda im Rifgebirge, zwischen Casablanca und Beni Mellal sowie zwischen Casablanca und Marrakesch. Manche Migranten aus diesen ländlichen Gegenden haben vor ihrem Aufbruch noch nie das Meer gesehen und keinerlei Vorstellung davon, auf welche Gefahren sie sich einlassen.

Das Geschäft mit den Auswanderern ist von A bis Z straff organisiert. Die Kandidaten werden in den abgelegensten Regionen Marokkos von lokalen Schleppern angeworben und dann mit Lastwagen örtlicher Transportunternehmen zur Küste gebracht. Dort kommen sie bei einem Mittelsmann unter, bis die See ruhig ist. Der Bootskapitän, meist nicht Eigentümer der patera, kassiert pro Kopf 200 bis 300 Euro. Nachdem die harragas („die ihre Vergangenheit verbrennen“) noch 1 000 bis 1 300 Euro an eine der Banden abgeliefert haben, die die Überfahrt organisieren, treten sie ihre nächtliche Bootsfahrt an. Das organisierte Verbrechen verdient mit diesem Geschäft 100 Millionen Euro pro Jahr – ein Klacks im Vergleich zu den Gewinnen im Cannabishandel.2

Für die Unterkunft in Spanien – in der Umgebung von Tarifa oder auf den Kanarischen Inseln – ist gesorgt. Auch dies zeigt, dass der Menschenhandel von einer internationalen, straff organisierten Mafia betrieben wird. Nach Zeugenaussagen soll der Menschenschmuggel von Auslandsmarokkanern dirigiert werden, die mit spanischen Mittelsleuten arbeiten. Aber der Umfang der Operationen erfordert, dass sie auf beiden Küsten über ein ganzes Netz von Komplizen verfügen.

Die Vereinigung AFVIC untersucht die Ursachen der illegalen Einwanderung und will zugleich gegen das Übel vorgehen, indem sie Privatklagen gegen die Menschenhändler erhebt. Neben ihren direkten Aktionen organisiert die AFVIC auch Diskussionsrunden. Ihre Arbeit wird vom Europarat unterstützt. Im vergangenen Jahr führte AFVIC eine Befragung von 600 Marokkanern unter 30 Jahren durch, um herauszufinden, wie und aus welchen Gründen sie sich zur Emigration entschlossen haben. Die Untersuchung der sechs Gruppen mit je hundert Befragten ergab, dass der Auswanderungsplan bereits in der Kindheit entsteht und im Erwachsenenalter zum dominierenden Wunsch wird.

Während 85 Prozent der befragten Grundschüler ihre Lebenssituation noch als gut bezeichnen, sind es unter Jugendlichen ohne festes Einkommen gerade 6 Prozent (unter Oberschülern 21, unter Studenten 25 Prozent). 71 Prozent dieser Jugendlichen bezeichnen ihre Lebenssituation als mittelmäßig, und von den 87 Prozent, die in der Grundschule an eine bessere Zukunft glaubten, sind bei den Jugendlichen ohne festes Einkommen nur noch 8 Prozent übrig geblieben. Insgesamt glauben 33 Prozent der Jugendlichen, dass sich ihr Schicksal zum Besseren wenden wird, während 31 Prozent sicher sind, dass es für sie noch schlechter wird.

Der Auswanderungswunsch steht nach dieser Studie in direktem Zusammenhang mit den zunehmenden ökonomischen Unsicherheiten. Alle Befragten möchten einmal nach Europa reisen und glauben, dass es ihnen dort besser ginge. 82 Prozent der Oberschüler geben an, nach Europa gehen zu wollen – bei den Jugendlichen ohne festes Einkommen sind es 94 Prozent, gegenüber 19 bei den Jugendlichen mit fester Arbeit. Und 62 Prozent der Arbeitslosen sind bereit, ohne Visum – sprich: als Illegale – ihr Glück zu versuchen.

Costa del Sol und Rifgebirge

SPANIEN hat im Jahr 2001 44 841 irreguläre Einwanderer in ihre Heimat rückgeführt oder abgeschoben – die meisten waren Marokkaner, Kolumbianer und Ecuadorianer. 21 706 weitere Marokkaner wurden ohne gültige Papiere angetroffen und festgenommen. Die große Mehrheit der 12 976 Ausländer, die nach einem Gerichtsverfahren und in Anwendung des neuen Einwanderungsgesetzes vom 23. Dezember 1999 ausgewiesen wurden, waren ebenfalls Marokkaner. Spanien war lange Zeit ein Auswanderungsland und hatte bis in die Achtzigerjahre hinein kaum Immigranten zu verzeichnen. Doch allein im Jahre 2001 hat das Land offiziell 1 243 919 Ausländer aufgenommen, davon 46 Prozent aus einem Land außerhalb der EU. Die Einwanderung ist für Spanien zum großen Problem geworden. Jorge Dezcallar, Chef des Geheimdienstes CNI, war früher spanischer Botschafter in Marokko. Zweifellos rührt der faktische Abbruch der spanisch-marokkanischen Beziehungen, der im Oktober 2001 durch den Rückruf des marokkanischen Botschafters aus Madrid offensichtlich wurde, von Problemen mit der Einwanderung und dem Cannabishandel.

Im Rahmen einer spanischen Legalisierungsoffensive haben im Jahr 2000 nach Angaben des Europarates zwischen dem 3. März und dem 31. Juli 246 000 illegale Einwanderer eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Zwar wurde die Hälfte der Anträge abgelehnt, aber die Marokkaner sind nach wie vor die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Spanien. Die marokkanischen Behörden bedauern diese Situation, zumal es im eigenen Land einen sektoralen Arbeitskräftemangel gibt (insgesamt 127 000 offene Stellen). Die spanische Regierung bevorzugt Arbeiter aus Lateinamerika und Polen, insbesondere für die Erntesaison in Andalusien.

Dass der Einwanderungsdruck nicht nachlässt, dafür sorgt schon die gewaltige Kluft, die hinsichtlich Wirtschaftswachstum, Reichtum und demographischen Verhältnissen zwischen den Gebieten nördlich und südlich der Meerenge von Gibraltar besteht. Der wohlhabenden Costa del Sol gegenüber liegt das Rifgebirge, dessen hoffnungslose Lage schon daran deutlich wird, dass es in der gesamten Region um Kettama kaum etwas außer Cannabis-Monokulturen gibt. Als es vor zwei Jahren in der andalusischen Kleinstadt El Ejido zu Krawallen und regelrechten Menschenjagden auf „Moros“ kam, verfolgten viele Marokkaner die Gewaltszenen im Fernsehen: Über die Interviews mit Landarbeitern erfuhren sie, dass jenseits des Meeres viele ihrer Landsleute Arbeit hatten. In den darauf folgenden Wochen waren die Warteschlangen vor dem spanischen Konsulat in Rabat so lang wie noch nie.

Mit finanzieller Unterstützung der EU versucht Spanien, den Strom der Einwanderer zu bändigen und die Außengrenzen des Schengen-Gebiets zu sichern. Für jeden illegalen Einwanderer, den die spanischen Behörden festnehmen und nach Marokko zurückschicken, verlangen sie von der Regierung in Rabat 300 Euro – eine Forderung, die in Marokko übel aufstößt. Das Land beteuert seinen Willen zur Kooperation und beklagt, dass es keine europäischen Zuwendungen erhält.

Die marokkanische Wirtschaft ist nach den drei Dürrejahren von 1998 bis 2001 in einer schwierigen Lage. Mehr als 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze. Und nach spanischen Statistiken sind 70 Prozent der festgenommenen illegalen Einwanderer in Marokko arbeitslos. Doch es gibt unter ihnen auch eine kleine Gruppe von Universitätsabsolventen – u. a. Anwälte und Ärzte – die sich auf die gefährliche Überfahrt einlassen, wenn sie alle legalen Möglichkeiten der Auswanderung erfolglos ausgeschöpft haben.

Ein geretteter Schiffbrüchiger erklärte im vergangenen Jahr gegenüber dem marokkanischen Wochenmagazin Demain: „Hören Sie, dies ist die Meerenge der letzten Hoffnung. Sie ist die letzte Grenze zwischen der Hölle und einer angeblich besseren Welt. Wer versucht, diese Grenze zu überschreiten, weiß, was ihn erwartet. Es ist ein Spiel. Ein Spiel um Leben und Tod.“ Dazu passt die folgende Aussage eines Befragten aus der AFVIC-Untersuchung: „Ich habe es dreimal auf einer patera versucht. Einmal wurde ich festgenommen, und zweimal ist das Boot gesunken. Sechs Leute sind dabei gestorben. Ich werde es wieder versuchen. Wenn ich sterbe, bin ich ein Wirtschaftsmärtyrer. Was ich tue, tue ich für meine Familie.“

Diese Verzweiflung macht deutlich, dass die illegale Emigration für Marokko die Funktion eines Überdruckventils hat. Wer ins Exil geht, hat den Kampf im Lande aufgegeben. Zwar wird mit dem Weggang ein Platz im heimischen Wirtschaftskreislauf frei (die Arbeitslosigkeit in Marokko ist 2001 zurückgegangen), was bei den Verbleibenden neue Hoffnungen hervorruft. Doch von diesem ökonomischen Aspekt abgesehen, ist die massenhafte illegale Auswanderung ein Symptom für die Krise Marokkos, vielleicht sogar für das Scheitern des Nationenbildungsprozesses, der einmal dem ganzen Maghreb die Unabhängigkeit gebracht hat. Und diese Krise ist zuallererst eine Krise des Wertesystems.

Bis in die Achtzigerjahre existierte die Bevölkerung des Maghreb in relativer Autarkie. Die Masse der Bauern hatte kaum Kontakt mit der Außenwelt. Nationale Radio- und Fernsehsender schürten den patriotischen Elan – und lehnten den europäischen Konsumismus ab. Abgesehen von den Eliten und den Emigranten reisten nur wenige Marokkaner ins Ausland. Und als in den Siebzigerjahren das Land versuchsweise für den Tourismus geöffnet wurde, sorgte der damalige König Hassan II. dafür, dass nicht mehr als eine Million Europäer pro Jahr ins Land kamen.

Mit der Verbreitung der Satellitenschüsseln seit Ende der Achtzigerjahre ist für viele Bewohner des Maghreb ihr Weltbild unwiderruflich zerbrochen. Wie die Tunesier dank der RAI begannen, Italienisch zu lernen, und die Algerier sich an die französischen Nachrichten gewöhnten, so öffneten sich auch die Marokkaner langsam für neue Horizonte. Im Fernsehen präsentierte sich ein künstlicher Westen, und der Erfolg der Satellitenschüsseln im Algerien und Marokko der Neunzigerjahre lässt erahnen, wie sehr diese Sendungen die Sichtweisen der Menschen veränderten. Ende der Neunzigerjahre begannen europäische Spartensender, die Bevölkerung mit einem nie dagewesenen Strom – auch pornografischer – Bilder zu überschwemmen. Die Sender wussten genau, warum sie ihre Arabisch sprechende Klientel pausenlos und gezielt ansprachen – angesichts der drückenden gesellschaftlichen Enge und der Tatsache, dass die meisten Marokkaner aus wirtschaftlichen Gründen nicht vor dem 30. oder 35. Lebensjahr heiraten können, bleiben sexuelle Bedürfnisse unbefriedigt. Zudem verbreiten auch die einheimischen Sender Erfolgsgeschichten von Emigranten – etwa von dem niederländischen Unternehmer Jamel Debbouz, von der Sängerin Nadia Farès oder dem Fußballer Zinedine Zidane. Und einmal im Jahr kehren 1,5 Millionen Marokkaner mit Konsumgütern beladen und nicht selten in nagelneuen Autos nach Marokko zurück. Kein Wunder, dass Europa wie ein Eldorado erscheint.

In mancher Hinsicht ist der Maghreb das Mexiko Europas. Im vergangenen Jahr zählte Mexiko 100 Millionen Einwohner. 35 Millionen weitere Mexikaner leben in den USA. Davon sind 10 Millionen illegale Einwander, und jedes Jahr kommt eine weitere Million hinzu. Der Maghreb hat heute 70 Millionen Einwohner, und man kann davon ausgehen, dass weitere 10 bis 15 Millionen Menschen aus dem Maghreb in Europa leben. Marokko hat 30 Millionen Einwohner, etwa 5 bis 7 Millionen Marokkaner leben im Ausland, und jedes Jahr wandern weitere 100 000 bis 200 000 aus. Die Abwanderung ins Exil ist also ungebrochen im Gange, und die einzige Möglichkeit, sie wenigstens zu begrenzen, wäre ein konsequentes Vorgehen gegen den organisierten Menschenhandel der Schlepperbanden.

„Der Kampf gegen die illegale Einwanderung“, so Khalil Jemmah, der Vorsitzende des AFVIC, „kann nicht an den Grenzen stattfinden, sondern nur im Heimatland und in den Köpfen der Emigranten. Nord und Süd müssen dabei zusammenarbeiten. Wir brauchen einen Dialog gleichwertiger Partner, keinen Monolog des Nordens. Wir brauchen eine Politik der Einwanderung, keine Einwanderungspolizei. Und der Süden darf nicht in die Rolle des Bittstellers gezwungen werden.“

dt. Herwig Engelmann

* Journalist, Verfasser von „Ecole, élite et pouvoir Maroc-tunisie. XXe siècle“, Rabat (Alizés) 2002, und von „Maroc en transition“, Paris (La Découverte) 2002.

Fußnoten: 1 Demain Magazine, 11. Mai 2002. 2 Pierre Vermeren, „Le Maroc en transition“, Paris (La Découverte) 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von PIERRE VERMEREN