11.10.2002

Clans, Stämme und eine überflüssige Einheitspartei

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Clans, Stämme und eine überflüssige Einheitspartei

Obwohl die irakische Regierung der Rückkehr der UN-Waffeninspektoren grundsätzlich zugestimmt hat, sind die Vereinigten Staaten entschlossen, einen Krieg zu führen und das Regime in Bagdad zu stürzen, zur Not auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Auch wenn das Embargo schwer auf der Bevölkerung lastet, ist es Präsident Saddam Hussein bisher gelungen, jegliche Opposition auszuschalten und sich an der Macht zu halten. Er schaffte dies vor allem dank der Unterstützung durch die verschiedenen Clans und Stämme, deren Bedeutung zu Lasten der bis vor kurzem dominanten Baath-Partei zugenommen hat.

Von FALEH A. JABAR *

DIE Bush-Regierung in Washington hat die bedingungslose Kapitulation des Regimes von Saddam Hussein beschlossen. Der bevorstehende Feldzug gegen den Irak erinnert an den „angekündigten Tod“ in dem berühmten Roman von Gabriel García Márquez. Doch könnte sich das Ende dieses Regimes als außerordentlich kostspielig erweisen oder gar in ein Chaos führen. Denn wir haben es mit einem einzigartigen politischen System zu tun, das schon schwere Schläge überstanden hat, etwa seinen erfolglosen Krieg gegen den Iran (1980–1988) und die schmähliche militärische Niederlage von 1991, nach der Invasion in Kuwait.

Die Langlebigkeit dieses Regimes ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer sorgfältig geplanten und erstaunlich komplexen Machtstrategie. Saddam Hussein war in jungen Jahren ein Bewunderer Hitlers, eine Neigung, die er von seinem Onkel mütterlicherseits, Chairallah Tilfah, geerbt hat. Später geriet er unter kommunistischen Einfluss und nahm Stalin in die Galerie seiner Vorbilder auf. Das von Saddam errichtete System orientiert sich also an diesem Erbe, trägt aber auch originäre Züge. In Anlehnung an das nationalsozialistische Vorbild ruht das System der Baath-Partei im Irak auf vier Pfeilern: einer totalitär ausgerichteten Ideologie, einer Einheitspartei, der Kontrolle der – als sozialistisch bezeichneten – Wirtschaft und der Kontrolle der Medien und der Armee.

Im Unterschied zum NS-Modell formte die Baath-Partei die traditionellen sozialen Institutionen der Stämme und Clans, die nur noch in den Randregionen, in der Provinz und auf dem Lande Einfluss hatten, zu tragenden Säulen des Staates um. Drei strategische Posten waren prinzipiell dem führenden Clan vorbehalten: das Amt des Verteidigungsministers, des Chefs des Militärbüros der Partei, (al-Maktab al-‘Askari), und des Chefs des Büros für nationale Sicherheit (Maktab al-Amn al-Qaumi).

Nach dem Machtantritt des Regimes 1968 dominierte für etliche Jahre ein staatlicher Tribalismus. Jedoch blieb dieser auf die Albu Nasir begrenzt, den Stamm der herrschenden Elite, dessen harter Kern der Clan al-Beijat ist. Im Laufe der Jahre wurden dann aber weitere, zweitrangige Stammesfraktionen in das System eingebunden. Im Zuge dieser Entwicklung entstand eine Strategie der Angst, die darauf zielte, die Machtbasis abzusichern, eine Herrschaftselite aufzubauen und Spaltungen und Machtkämpfe zu unterdrücken, die zwischen 1958 und 1970 die Armee und das Parteiensystem belastet hatten. Die Einnahmen aus der Erdölproduktion sind ein weiterer Grundstein des von der Baath-Partei errichteten totalitären Systems. Die umfangreichen Erdölreserven des Landes ermöglichten einen beträchtlichen Ausbaudes öffentlichen Dienstes wie auch diverser sozialer Errungenschaften.

Die westlich orientierten Mittelschichten, die durch den Ölboom nach dem Oktoberkrieg 1973 reich geworden waren, sahen rosigen Zeiten entgegen. Ironischerweise konnte die Oberschicht ausgerechnet unter den Beschränkungen einer Planwirtschaft ihren Besitz in unerhörtem Ausmaß mehren. So gab es etwa 1968 bereits 53 Dinar-Millionäre (1 Dinar war damals 3,10 US-Dollar wert), 1980 waren es schon 80 und 1989 über 3 000. Aber die neuen sozialen Kräfte, Angestellte wie Grundbesitzer, Mittel- und Oberschichten verdankten ihren Wohlstand nicht einem liberalen System, sondern ausschließlich staatlichen Posten oder Aufträgen. Innerhalb der Staatsmacht und der aufsteigenden Schichten hatten die Stammes- oder Familiengruppen die entscheidenden Positionen inne. Diese Verbindung von Klasse und Clan dominierte Armee, Partei, Bürokratie und Wirtschaft. Sie wurde durch ideologische und wirtschaftliche Interessen, durch arrangierte Heiraten und durch den tiefen Glauben an die Clanordnung zusammengehalten. Daran änderten auch all die offiziellen Reden gegen den so genannten Tribalismus nichts.1

Das Spezifikum des irakischen totalitären Systems besteht also in dem Amalgam aus modernen und traditionellen Elementen. Es soll sowohl die Strukturen der Macht als auch die unruhigen Massen dieser multiethnischen Gesellschaft kontrollieren, die eine große kurdische Minderheit umfasst und deren arabische Mehrheit in Sunniten und Schiiten zerfällt (siehe auch die Reportage über die Kurden auf den Seiten 8 und 9). Dieses spezifische Amalgam ist der entscheidende Grund für die Langlebigkeit des Regimes – zugleich aber auch dessen Achillesferse. In Hinblick auf den Zusammenhalt der herrschenden Elite und deren Einfluss auf die Schalthebel der Macht unterscheidet sich das Baath-Regime von seinen Vorgängern, dem Regime des Generals Abdelkarim Kassem (1958–1963) – dessen Staatsstreich die Monarchie beseitigte – wie dem des Brigadegenerals Abdelsalam Aref (1963–1968), der sich auf die Armee wie auch auf verwandtschaftliche Bande gestützt hatte (Dschumailat-Clan). Doch diese beiden Regime hatten es nicht geschafft, ihre Macht zu stabilisieren. Die Baath-Partei ergänzte die Grundformel Armee plus Stammessolidarität durch neue Elemente. Es dauerte lange, bis diese komplexe Mischung sich etabliert hatte, weil die einzelnen Systemkomponenten in sich widersprüchlich waren. Da waren zum einen die Normen eines modernen Parteiwesens, auf die sich die Baath-Partei mit ihrem arabisch-nationalistischen und sozialistischen Selbstverständnis bezieht. Solche Normen können freilich nicht vor internen Spaltungen schützen, vor allem aber stehen sie im Widerspruch zu den Prinzipien von tribaler Bindung und Solidarität.

In den ersten Jahren des Regimes herrschte noch eine fragile Koexistenz zwischen dem zivilen und dem militärischen Flügel der Partei, bis das Militär schließlich in die Kasernen verbannt wurde. Doch auch die Clanstrukturen wurden von Rivalitäten und blutigen Intrigen um Macht und Reichtum zerrissen, sie sicherten allerdings auch einen gewissen Zusammenhalt. Der laizistische Nationalismus spielte im traditionellen Diskurs der führenden Stammeseliten keine Rolle, aber dennoch fand der Arabismus am Ende Eingang in den Kodex der Stammeswerte. Da die Gewinne aus der Ölproduktion ständigen Schwankungen unterlagen, griff das Regime auch auf primitive Formen der ökonomischen Kontrolle zurück.

Als sich das regionale und globale Umfeld, das den arabischen Nationalismus gestärkt hatte, zumal nach der Niederlage Ägyptens, Syriens und Jordaniens im Juni 1967 veränderte, war der irakische Nationalismus berufen, die Lücke zu schließen. Der Versuch, diese sozialen Kräfte und widersprüchlichen Ideologien gewaltsam zu verschmelzen, führte zwar zu Auseinandersetzungen, konnte aber am Ende eine gewisse Koexistenz herbeiführen. Wann immer eine neue Krise ausbrach, wurden Reformen verabschiedet, die das gestörte Gleichgewicht wiederherstellen sollten. Präsident Saddam Hussein wurde zum großen Meister dieses Spiels der flexiblen, ständig erneuerten Feinanpassungen.

Der Krieg zwischen Irak und Iran und danach der Golfkrieg erzwangen eine unablässige ideologische Umstrukturierung. So wurde während der qualvolle acht Jahre dauernden Konfrontation mit der „islamischen Revolution“ die Religion politisch instrumentalisiert: Das Hauptproblem Bagdads war in dieser Zeit, wie das Regime den schiitischen Teil der arabischen Bevölkerung niederhalten konnte und wie sich die Schiiten gegenüber der islamischen Republik von Ajatollah Chomeini verhalten würden. Da der Staat durch den anhaltenden Konflikt geschwächt war, verlor er die Kontrolle über zahlreiche Stämme. Die Folge war ein Erstarken des Tribalismus. Der Krieg verschlang Währungsreserven in Höhe von 38 Milliarden Dollar und hinterließ nahezu 50 Milliarden Dollar Schulden. In der Armee mit ihren damals eine Million Mann regte sich Aufruhr. Die Kriegsgeneration hoffte auf die Rückkehr in ein komfortables Zivilleben, wie sie es vor dem Krieg gekannt hatte. Die Soldaten drohten der Kontrolle zu entgleiten. Die Machtstrukturen und die sozialen Ausgleichsmechanismen funktonierten nicht mehr richtig. In diesem Zusammenhang ist die Kuwait-Invasion vom 2. August 1990 zu sehen, deren Ziel in allererster Linie war, die innere Stabilität wiederherzustellen. Die Niederlage von 1991 hatte eine chronische strukturelle Krise in mindestens fünf Bereichen zur Folge.

Militär und Regierung sind geschwächt

DA ist erstens die staatliche Ebene, deren Regierungsfähigkeit ernsthaft geschwächt wurde. Der Militärapparat wurde auf etwa ein Drittel seiner Vorkriegsstärke gestutzt und musste lokale Aufstände bekämpfen, vor allem in Kurdistan im Norden und in den schiitischen Gebieten im Süden, wo überdies auch noch amerikanisch-britische Flugverbotszonen errichtet waren. Besonders starke Verluste erlitten die Sicherheitskräfte beim Aufstand 1991, der sehr viel Material und viele qualifizierte Mitarbeiter kostete.

Zweitens wurde parallel dazu das ideologische Kontrollsystem geschwächt, das heißt die Strukturen der Baath-Partei. Die Mitgliederzahl von 1 800 000 aus dem Jahr 1990 war bis zum 10. Parteikongress 1991 um 40 Prozent gesunken. Dieser Rückgang hat sich seitdem fortgesetzt und ist besonders spürbar im Süden des Landes (in Städten wie Basra und Nasirija), aber auch in der Zentralregion (Hilla, Nadschaf und Karbala) und in Bagdad. Das schwächte die Möglichkeiten der Baath-Partei, den Staat zu leiten und die Gesellschaft zu kontrollieren. Drittens beraubten die Sanktionen die Regierung der immensen Erdöleinkünfte früherer Jahre. Die Folge war ein Sinken des Bruttosozialprodukts um über 75 Prozent im Vergleich zu 1982. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen, das damals 4 219 Dollar betragen hatte, fiel 1993 auf 485 Dollar, heute wird es auf etwas mehr als 300 Dollar geschätzt.

Aus Geldmangel erhöhte der Staat die Steuern und setzte die Notenpresse in Gang. Das Regime büßte also weitgehend die Fähigkeit ein, sich mittels sozialer Leistungen und ökonomischer Subventionen die Unterstützung breiter Gesellschaftsschichten zu sichern. Damit bildete sich ein neues Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft heraus, in dem der Staat nicht mehr über das Machtmonopol Geld verfügt. Die auf die Öleinnahmen gestützte Planwirtschaft wurde brüchig. Die Marktkräfte untergruben, obwohl noch kaum entwickelt, bereits die Staatsmacht.

Die vierte Krisendimension ist der Niedergang innerhalb der Schicht der mittleren Angestellten, bis dato die Hauptstütze der Baath-Partei. Die Hyperinflation ließ diese Schicht verarmen, die sich heute mit extrem bescheidenen Einkünften begnügen muss. Der irakische Dinar war vor dem Krieg noch 3,10 Dollar wert gewesen, 1996 musste man für einen Dollar bereits 3 000 Dinar hinlegen. Seitdem schwankte der Wechselkurs zwischen 2 000 und 12 000 Dinar, um sich schließlich bei etwa 2 000 zu stabilisieren. Die Menschen sind zum Überleben darauf angewiesen, ihre Kleidung, ihre Möbel, ihre Bücher, ihren Schmuck und selbst Gegenstände des täglichen Lebens zu verkaufen. Diese Mittelschichten haben jede Illusion verloren. Sogar der offizielle Ideologe und Propagandist der Baath-Partei, General Dschabar Muhsin, verdrückte öffentlich eine Träne über das Schicksal „der Mittelschichten, die wir verloren haben“2 . Millionen Iraker sind nach Jordanien oder nach Europa und in die USA emigriert.

Der fünfte und letzte Schwachpunkt: Die „revolutionäre Legitimität“ – Rechtfertigung für die Existenz von Einheitspartei und Staatswirtschaft – hat mit dem Untergang der UdSSR und anderer Modelle osteuropäischer Einheitsparteien einen schweren Schlag erlitten, von den Auswirkungen der vorsichtigen Liberalisierung im Nahen Osten ganz zu schweigen.

Die verheerenden Folgen zweier völlig sinnloser Kriege haben dazu geführt, dass Volkspatriotismus und offizielle nationale Propaganda nicht mehr übereinstimmen und es seit den blutig niedergeschlagenen Aufständen im Frühjahr 1991 eine breite Opposition gibt. Infolge des Waffenstillstands und der Resolutionen des Sicherheitsrates unterliegt das Regime beispiellosen Beschränkungen und Behinderungen. All das trug dazu bei, den Einfluss der herrschenden Elite auf die Machtstruktur zu schwächen. Hinzu kam, dass der Staat selbst zu wenig Kraft hatte, um die unruhigen städtischen Massen, so gespalten sie auch waren, effektiv zu regieren. Spaltungen waren unvermeidlich, und sie gingen mitten durch das führende Haus, nämlich das der al-Madschid. Armee und Partei erlitten einen gravierenden Aderlass. Über 1 500 höhere und mittlere Offiziere flohen in den Westen. Viele Parteikommissare beantragten im Ausland Asyl.

Diesen unerhörten Verlusten versuchte das Regime mit einem Zehnjahresplan zu begegnen, der in fünf Punkten eine Überlebensstrategie formulierte: Wiederherstellung der Ordnung im Haus des wichtigsten Stammes; Restrukturierung der Armee; Stärkung der Stämme im ganzen Land als Ersatz für die Parteiorganisation; Modernisierung des ideologischen Rüstzeugs; Einführung neuer ökonomischer Kontrollinstrumente.

Die entscheidende Niederlage erlitt das Regime bei dem Versuch, innerhalb des Clans, der die Macht innehat, wieder Ordnung zu schaffen und die Frage der Nachfolge zu regeln. Der Tribalismus an der Spitze des Staats beruhte auf breiten sunnitischen Clan-Allianzen um den Beijat-Clan. Dieser bestand aus zehn Gruppen (afchad). Vor 1968 drehten sich die Rivalitäten zwischen diesen Gruppen um die traditionelle lokale Macht. Seit 1978 kämpften sie dagegen um die Macht im Staat. Ungeachtet aller Solidaritätsappelle verschob sich das Zentrum der Macht mit großer Brutalität von einer Gruppe auf die andere und brachte dabei die Beziehungen der Clans zu Partei und Staat durcheinander. Sieben der zehn Subclans wurden hart geschlagen – das löste Kettenreaktionen aus. Die Machtergreifung Saddam Husseins – er ersetzte 1979 Hassan al-Bakr, hatte jedoch real seit langem die eigentliche Macht ausgeübt – bewirkte einen Bedeutungsverlust des Clans, dem Hassan al-Bakr entstammte. An dessen Stelle trat der Albu-Gafur-Clan, dem Saddam Hussein angehört.

Ein ähnliches Schicksal ereilte die Takriti. In den Achtzigerjahren stützte sich Saddam Hussein hauptsächlich auf drei Gruppen seiner Verwandtschaft: auf seine drei Halbbrüder (Albu Chattab), auf seinen Cousin mütterlicherseits und zugleich Schwager, den ehemaligen Verteidigungsminister Adnan Chairullah Tilfah (Albu Mussallat) und auf Mitglieder des Hauses al-Madschid, das zum Subclan Gafur gehört. Weitere Unterclans wie die Albu Hassa des Generals Omar Hassa, die Albu Nadscham des Generals Fadhil Barrak oder die Albu Monim des Generals Mahir Raschid hatten zwar wichtige, aber keine Schlüsselpositionen inne. Diese drei Unterclans fielen während oder nach dem Krieg mit dem Iran in Ungnade: Ihre Chefs wurden exekutiert, der Clan marginalisiert.

Der Aufstieg der al-Madschid in den Neunzigerjahren machte die größten Probleme, widersprach er doch grundlegenden, für Partei und Armee geltenden Regeln: Effizienz, Dienstalter, Beförderung nach dem Anciennitätsprinzip. Hussein Kamel, Saddam Kamel (beide mit Töchtern des Präsidenten verheiratet) und Ali Hasan al-Madschid kontrollierten die Rüstungsindustrie, die Spezialeinheiten und das Verteidigungsministerium. Sie hatten Cousins in wichtigen Positionen, etwa Rokan, den Adjutanten des Präsidenten. Mit dem Aufstieg der beiden Saddam-Söhne Udai und Qusai erlitt das Haus al-Madschid einen Vertrauensverlust. Der Konflikt kulminierte 1995, als Hussein und Saddam Kamel nach Jordanien flüchteten. 1996 wurden sie nach ihrer Rückkehr in den Irak hingerichtet, mit ihnen ihr Vater, ihre Mutter und ihre Schwester.

Das blutige Geschehen erschütterte das Haus al-Madschid in den Grundfesten und brachte auch den Präsidenten in Schwierigkeiten. Saddam Hussein wandte sich von seinem inneren Zirkel, der aus Al-Madschid-Leuten bestand, ab und stützte sich fortan stärker auf seinen eigenen Subclan, die Albu Gafur, die zum Stamm der Albu Sultan gehören. Kamal Mustafa (wichtigster Mann der Albu Sultan und Cousin väterlicherseits des Präsidenten) wurde die republikanische Nationalgarde anvertraut, die mit zwei kompletten Armeekorps die Prätorianergarde des Regimes stellt. Sein Bruder Dschamal wurde mit der jüngsten Tochter des Präsidenten verheiratet.

Es gibt berechtigten Grund zu der Annahme, dass die Beziehungen zwischen den beiden Clans Albu Gafur und Albu Sultan ebenso gespannt sind wie die zwischen den beiden Söhnen des Präsidenten. Qusai wurde vom Vater zum Nachfolger bestimmt. Er erhielt die Aufgabe, den Geheimdienst und die innere Sicherheit zu reorganisieren; im Jahre 2000 wurde er ermächtigt, im Notfall die Interimspräsidentschaft zu übernehmen. Davor war Qusai zum Inspektor der „Armee der Mutter aller Schlachten“ (inzwischen „Republikanische Armee“) ernannt worden. Im April 2001 wurde er in die regionale Führung der Partei gewählt.3 Damit entstand ein neuer harter Kern, allerdings um zwei Männer: Qusai und Kamal Mustafa. Der Staatstribalismus, der als Transmissionsriemen zwischen Stämmen und Staatsapparat funktionieren soll, um die Herrschaft einer fragilen und verletzbaren Elite zu sichern, ist zwar noch intakt, aber ziemlich altersschwach. Der gesellschaftliche Tribalismus dagegen erfährt eine Wiederbelebung, manipuliert die Stammesstrukturen oder erfindet sie neu mittels der paternalistischen Werte, die ländliche Migranten und die Bewohner der Provinzstädte hochhalten.

Die alten Familien sind an der Macht

DIE Baath-Partei entdeckte und benutzte auch den militärischen Tribalismus, der innerhalb der kurdischen Bevölkerung fortbesteht: Die Stammeschefs (Agas) der Sorchi, Mesuri, Doski und Herki wurden seit 1974 als Söldner rekrutiert, um den kurdischen Nationalismus zu bekämpfen. Während des Krieges gegen den Iran entdeckte das Regime auch die Vitalität der arabischen Stämme des Südens, die gegen die iranischen Soldaten kämpften und seitdem von der Zentralgewalt umworben werden. Demselben Muster entspricht auch der soziale Aufstieg der Stammesnotabeln seit dem Ende der Achtzigerjahre, der vor allem mit dem Niedergang ziviler Verbände moderner Prägung zusammenhing. Je mehr die Parteiorganisation geschwächt wurde, desto mehr konnten Strukturen primärer Solidarität an ihre Stelle treten. So übernahmen die alten Familien – von der Regierung ermuntert – die Verantwortung für die öffentliche Ordnung. Überall ging man daran, die Stammesbeziehungen – fiktiv oder real – wiederherzustellen. 1992 empfing der Präsident die Stammeschefs in seinem Palais, entschuldigte sich für die früheren Agrarreformen und versprach Versöhnung. Die Clanchefs hissten ihre Fahnen und schworen den Treueid auf den Präsidenten, der so zum Chef der Chefs wurde. Die Stämme wurden vom Militärdienst entbunden und erhielten leichte Waffen, Transport- und Kommunikationsmittel. Die großen Stämme, hauptsächlich Sunniten, hatten die Aufgabe, für die nationale Sicherheit zu sorgen. Die kleinen Stämme bekamen auf der lokalen Ebene die Verantwortung für Polizei, Justiz, das Regeln von Streitfällen sowie für die Erhebung von Steuern übertragen. Über die Stämme wurde das staatliche Räderwerk auf das flache Land ausgeweitet. Mit anderen Worten: Die Renaissance der Stämme als soziale Akteure entstand aus der Notwendigkeit, das Vakuum zu füllen, das durch die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Institutionen und durch den Niedergang des Staates entstanden war. Eines Staates, der die Hoheit über Sicherheit und Justiz und den Schutz von Leben und Besitz nicht mehr gewährleisten konnte. Die Stammesstrukturen, die jetzt reanimiert oder neu konstituiert wurden, funktionierten nicht in ihrem ursprünglichen Umfeld auf dem Lande, sondern in den Städten. Das hatte zur Folge, dass die Struktur der urbanen und kultivierten Gesellschaft weiter brüchig wurde.

Beide Strategien (Staatstribalismus und sozialer Tribalismus) fungieren als Mittel der Mobilisierung und der Kontrolle. Dabei findet zugleich eine ideologische Erneuerung statt. Der irakische Patriotismus, mit seinem Bezug auf die alte babylonische Geschichte, verbindet sich mit dem arabischen Patriotismus und will die nichtarabischen Ethnien einbeziehen. Die Ideologie der Verwandtschaft, die das Prinzip der Abstammung verherrlicht – der tribale Ansatz par excellence – wurde von den Propagandisten der Partei zum Kern des Arabismus gemacht: Ohne seine Abstammungslinien macht der arabische Nationalismus keinen Sinn. Der Wahhabismus, die saudisch-hanbalitische Orthodoxie, sickert unter den nachsichtigen Augen der Sicherheitskräfte über die durchlässige Südgrenze ein. Diese religiöse Ideologie wird als wünschenswertes Gegengewicht zum militanten Schiismus wahrgenommen.

Und noch ein Faktor hat dem Regime bislang das Überleben gesichert: die Sanktionen. Das Regime kontrolliert das Programm „Öl für Nahrungsmittel“4 ; die Rationierung der für die Ölerlöse importierten Lebensmittel erfolgt über Bezugsscheine, die längst der Manipulation und der Mobilisierung dienen. 1995 musste jeder, der in den Genuss von Bezugsscheinen kommen wollte, an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Dissidenten oder Leuten, die man dafür hielt, wurden sie verweigert. Nie zuvor hat das Regime ein so wirksames soziales Kontrollinstrument besessen. Man kann diese Strategie als „Politik des Hungers“ bezeichnen. Die Unterstützung der Oberschicht versucht man mit einem anderen Mittel zu erreichen: der Deregulierung des Marktes. In Bagdad schmeißen die alten und die neuen Reichen in den In-Lokalen jeden Abend extravagante Feste, neben denen die legendären Gelage aus Tausendundeiner Nacht verblassen. Diese Mischung aus Nationalismus, Patriotismus, Tribalismus und Sunnismus hat es den Herrschenden ermöglicht, zu überleben und – zumindest bis heute – alle Hindernisse zu überwinden. Im Falle einer Invasion des Irak durch die Vereinigten Staaten lässt sich aber keine Vorhersage machen, was diese politische Hinterlassenschaft für die Zukunft des Landes bedeutet.

dt. Hans Schiler

* Soziologe am Birbeck College, London University (geb. 1946 in Bagdad, lebt seit 1978 im Exil). Neuere Publikationen: „Ayatollahs, Sufis and Ideologues. State, Religion and Social Movements in Iraq“, sowie „Tribes and Power“ (zusammen mit Hisham Dawod), beide bei Saqi Books in London erschienen.

Fußnoten: 1 Erstaunlicherweise erklärte der 8. Kongress der Baath-Partei im Januar 1974: „Das Renegatenregime, das 1963 (unter Aref) an die Macht kam, ist ein offenkundiges Beispiel für die Art und Weise, in der sich eine rechtsgerichtete Militäraristokratie der Nation bemächtigt. Diese Aristokratie ist weder in der Armee noch im Volk verwurzelt. Deshalb muss sie sich auf tribale, kommunale Familien und persönliche Bindungen stützen.“ 2 Babil Daily, Bagdad, 20. Dezember 1994. 3 Die „regionale“ Führung der Baath-Partei ist für den Irak, die „nationale“ Führung dagegen für die gesamte arabische Welt zuständig. Sie setzt sich aus Kadern verschiedener Länder zusammen. 4 Das Programm „Öl für Nahrungsmittel“, das die UN-Resolution 986 von 1995 beschlossen hatte, wurde am 20. Mai 1996 vom Irak durch eine entsprechende Übereinkunft mit den Vereinten Nationen anerkannt. Das Abkommen sieht vor, dass der Irak pro Halbjahr für 2 Milliarden Dollar Öl exportieren darf. Im Februar 1998 wurde der Betrag auf 5,2 Milliarden Dollar erhöht. Die Einnahmen werden auf einem UN-Sonderkonto deponiert, 53 Prozent der Summe dienen der Finanzierung irakischer Importe (Nahrungsmittel, Medikamente und bestimmte Güter des zivilen Bedarfs), 13 Prozent gehen an die Nordprovinzen (Kurdistan), die von der Zentralregierung nicht kontrolliert werden. Der Rest entfällt auf die Kompensationsfonds für die Opfer des Kuwaitkrieges (30 Prozent) und auf diverse Aufwendungen, die durch das Embargo und die Arbeit der Vereinten Nationen (darunter die Kosten der Unscom) entstehen. Bemerkenswert ist, dass Bagdad in der zweiten Septemberwoche 2002 seine Ölexporte auf 6,4 Millionen Barrel erhöht hat, das entspricht nahezu der Hälfte der geschätzten möglichen Kapazität – im Sommer lag die Quote noch bei einem Drittel.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von FALEH A. JABAR