15.11.2002

Leidenschaftlich gerne groß

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Leidenschaftlich gerne groß

MIT der Bereitschaft, einen Krieg gegen den Irak zu führen, hat die Regierung Bush die republikanischen Wähler mobilisiert. Die Partei des Präsidenten eroberte bei den Zwischenwahlen am 5. November die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses. Die republikanische Dominanz in der Legislative wird nun zum Flankenschutz für eine Außenpolitik, die seit dem 11. September 2001 offen auf rechten Nationalismus setzt. Die Bush-Mannschaft gibt sich als Führung der „größten Nation auf dem Antlitz der Erde“, der in einer vom Terrorismus bedrohten Welt die natürliche Hegemonierolle zustehe. Und die will sie – angeblich im Sinne einer globalen Demokratisierung – nicht nur im Nahen Osten nutzen.

Von ANATOL LIEVEN *

Das Überraschendste an den Plänen der Bush-Regierung für eine Irakinvasion ist nicht das, was allenthalben zu Recht kritisiert wird: dass sie die internationale Ordnung zu zerstören drohen; dass sie angesichts der Rolle der USA in der Nahostregion nachgerade perfide wirken; dass der Großteil der internationalen Gemeinschaft gegen sie ist und sie zudem grundlegende Voraussetzungen für den Krieg gegen den Terror untergraben. All das ist richtig, aber all das ficht die hartgesottenen Nationalisten in der US-Regierung nicht an. Sie sind nun einmal zum Krieg entschlossen, und sie haben innerhalb der Bush-Regierung und der Apparate, die über die US-Sicherheitspolitik befinden, so viel Macht, dass sie ihren Kurs wahrscheinlich durchsetzen können.

Was an diesem Kriegskurs am meisten überrascht, ist seine bodenlose Leichtfertigkeit. In Anbetracht der militärischen Überlegenheit der USA, der Schändlichkeit des Saddam-Hussein-Regimes, der Unzuverlässigkeit der irakischen Raketen und der Zerrissenheit der arabischen Welt dürfte die Wahrscheinlichkeit einer raschen Zerschlagung des irakischen Regimes zwar bei weit über 80 Prozent liegen. Doch wenn man die langfristigen Vorteile für die USA ins Auge fasst, sieht es schon weit weniger eindeutig aus. Und der wichtigste Einwand: Falls die Sache schief geht, werden die Folgen katastrophal sein. Wenn es so weit käme, dass die ganze Nahostregion in Flammen aufgeht und diverse prowestliche arabische Staaten zusammenbrechen, wäre der Krieg gegen den Terrorismus auf Jahrzehnte hinaus verloren. Das würde für tausende unschuldige Zivilisten in den westlichen Ländern das Todesurteil bedeuten und für die Weltwirtschaft eine tiefe Depression.

Ein Irakkrieg wäre aber auch für die politische Zukunft der republikanischen Regierung nicht ohne Risiko. Wenn das Unternehmen schief geht, werden alle Beteiligten politisch erledigt sein – und zwar endgültig. Anders als die US-Intervention in Vietnam wird dieses Unternehmen nicht zunächst von einem breiten Konsens der beiden Parteien, der militärischen und sicherheitspolitischen Experten und der Medien getragen. Zwar halten sich die Demokraten heute im Fall Irak – aus weitgehend wahltaktischen Gründen – mit Kritik zurück, aber ein Teil der alten republikanischen Sicherheitsexperten verurteilt die Kriegspläne, und auch das Pentagon formuliert Unbehagen. Die Bush-Regierung wurde also rechtzeitig vor den Gefahren gewarnt. Würde während eines Irakkrieges ein neuer Al-Qaida-Anschlag erfolgen, würde das zwar die antimuslimische Stimmung in den USA verstärken, aber die Regierung wäre auch dem Vorwurf ausgesetzt, sie habe wegen eines abwegigen Rachefeldzugs die Jagd nach den Attentätern des 11. September vernachlässigt.

Und noch etwas könnte für die aktuelle Regierung gefährlich werden. Bush und die anderen Hauptkriegstreiber haben keinen Militärdienst geleistet, sieht man von Donald Rumsfeld ab, dessen Dienstzeit zu seinem Glück in die Periode zwischen dem Korea- und dem Vietnamkrieg fiel. Natürlich hat Außenminister Colin Powell in Vietnam gedient, aber der hat hinsichtlich eines Angriffs auf den Irak bekanntlich seine Zweifel. Die übrigen Falken haben sich erfolgreich dem Militärdienst entzogen, und wenn im Irak etwas schief laufen sollte, wird man sie als chicken hawks bezeichnen, als „Falken“, die sich als Kriegsexperten aufspielen, aber von militärischen Dingen so wenig Ahnung haben wie ein Huhn von der Mäusejagd.1

Wer die Beweggründe der US-Regierung verstehen will, muss sich eines klar machen: Die innen- und weltpolitischen Ambitionen, die das Lager der neokonservativen Nationalisten mit Hilfe eines Krieges voranzutreiben hofft, sind atemberaubend weit gespannt und reichen über ihre öffentlich geäußerten Ziele beträchtlich hinaus. Innerhalb dieses Lagers gibt es durchaus verschiedene Gruppen. Die einen sind besonders israelfreundlich, andere weniger chinafeindlich als die Übrigen, und nicht alle würden die radikalsten Facetten der Irakpläne unterstützen. Doch insgesamt verfolgen sie das grundlegende Konzept einer unilateralen Beherrschung der Welt mittels absoluter militärischer Überlegenheit – auch Außenminister Colin Powell und die übrigen Sicherheitspolitiker teilen dieses Ziel. Schließlich war es Generalstabschef Powell, der 1992 erklärte, die USA benötigten die entsprechenden Machtmittel, um jede konkurrierende Macht „abzuschrecken, jemals davon zu träumen, dass man uns auf der globalen Ebene herausfordern könnte“. Allerdings geht die Idee der präventiven Verteidigung, die heute offizielle Militärdoktrin ist, einen Schritt weiter – und viel weiter, als Powell je gehen wollte. Mit dieser Doktrin kann man im Prinzip die Zerstörung jedes fremden Staates rechtfertigen, wenn es den Anschein hat, als könne dieser Staat irgendwann in der Zukunft die USA herausfordern. In die Welt gesetzt wurde diese Idee nach dem Ende des Kalten Krieges von Paul Wolfowitz und anderen,2 stieß jedoch damals selbst in konservativen Kreisen auf allgemeine Kritik. Dass diese Leute heute gleichwohl großen politischen Einfluss ausüben, erklärt sich aus dem Aufstieg der radikalen Nationalisten innerhalb der Regierung sowie aus den Auswirkungen des 11. September auf die US-amerikanische Psyche.

Der moralische, kulturelle und intellektuelle Kosmos, den der US-amerikanische Nationalismus hervorgebracht hat, existierte zwar bereits lange vor dem 11. September, aber die terroristischen Attacken von 2001 haben ihn auf gefährliche Weise angefacht und – was ebenso gefährlich ist – mit dem Nationalismus der israelischen Rechten zusammengebracht.

Betrachten wir zunächst die geopolitischen Ziele. Wie im Fall des Raketenabwehrschirms (NMD) sollen auch im Fall des Irakkrieges die öffentlich artikulierten Motive in erster Linie den nötigen Rückhalt für eine Operation gewinnen, die in Wirklichkeit viel weiter reichende Ziele hat.3 Das unmittelbare Ziel ist tatsächlich die Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen (MVW), auch wenn nur wenige Experten fürchten, Saddam Hussein könnte diese Waffen an Terroristen weitergeben, damit diese sie gegen die USA einsetzen. Ernst zu nehmen ist eine solche Befürchtung dagegen im Hinblick auf einen Einsatz gegen Israel. Ferner rechnet niemand ernsthaft damit, dass Saddam diese Waffen bei einem Angriff gegen die USA oder Israel einsetzen könnte, denn die unmittelbare Folge wäre seine eigene Vernichtung. Die Propagandamasche, Saddam als einen durchgedrehten und selbstmordsüchtigen Diktator darzustellen, kommt in Amerika bei den Massen zwar gut an, aber ich glaube nicht, dass die Regierung selbst daran glaubt. Washington hat vielmehr ganz andere Absichten: Zum einen will man sich unbedingt die Fähigkeit erhalten, die Golfregion gegen einen irakischen Angriff zu verteidigen; zum anderen – und wichtiger noch – will man sicherstellen, dass die USA und Israel weiterhin freie Hand für eine Intervention im gesamten Nahen Osten haben. Die Vorteile einer solchen freien Hand sind aus der Sicht Israels, der proisraelischen Lobby und von deren Vertretern in der Bush-Regierung unmittelbar einleuchtend.

Der Irakkrieg würde auch die schon erfolgten Fortschritte bei der Entwicklung von alternativen Energiequellen untergraben. Diese Fortschritte waren bislang dürftig genug, aber immerhin hat der 11. September die Sicherheitsargumente aufgewertet, die für eine verminderte Abhängigkeit von Ölimporten sprechen. Diese Argumente könnten in dem Maße, in dem die alternativen Energien vorankommen, zu einer echten Gefahr für die mit Bush eng verbündete Öllobby werden, weshalb ein Irakkrieg dieser – wie auch der proisraelischen Lobby – durchaus gelegen käme. Er würde aber auch in den Rahmen eines strategischen Konzepts passen, das für die Zukunft der Menschheit noch weit bedeutungsvoller ist (siehe die ausführliche Analyse von M. Klare, S. 1, 10 und 11 in dieser Ausgabe). Nach diesem Konzept können die USA mit Hilfe ihrer Militärmacht gewährleisten, dass die ökologischen Kosten ihres gegenwärtigen Wirtschaftssystems weiterhin auf den Rest der Welt abgewälzt werden. Damit wären der Kapitalismus, die politische Elite und die Wähler der USA von kurzfristigen ökonomischen Opfern befreit.

Blitzsieg zur Einschüchterung der islamischen Welt

AUCH für den Krieg gegen al-Qaida und deren Verbündete gilt: Der Plan, das irakische Regime zu vernichten, hat tatsächlich mit dem Kampf gegen den Terror zu tun, aber in anderer Weise, als es in Washington dargestellt wird. Die behaupteten Verbindungen zwischen Bagdad und al-Qaida sind unbewiesen und im Grunde unwahrscheinlich. Tatsächlich hofft die US-Regierung, der Blitzsieg über einen mittelgroßen Staat bei minimalen militärischen Kosten werde andere Staaten der muslimischen Welt einschüchtern, sodass diese sich nach Kräften an der Jagd nach mutmaßlichen Terroristen beteiligen und alle Verdächtigen ausliefern – und: sodass die übrigen Staaten aufhören, die Palästinenser zu unterstützen. Der Iran zum Beispiel könnte auf diese Weise (durch die Drohung einer Bombardierung der Nuklearanlagen) gezwungen werden, sein Atomwaffenprogramm und seine Unterstützung für die Palästinenser aufzugeben.

Die Grundidee besteht also schlicht darin, andere Staaten dem Nahostkonzept der USA und Israels zu unterwerfen, wie man in dem berüchtigten Gutachten nachlesen kann, das Laurent Murawiec von der Rand Corporation für Richard Perle und sein Defense Policy Board (das wichtigste Beratungsgremium des Pentagon) verfasst hat. Darin schlägt Murawiec unter anderem vor, von den Saudis ultimativ nicht nur die volle polizeiliche Zusammenarbeit mit den USA einzufordern, sondern auch das Verbot jeder öffentlichen Kritik an den USA und an Israel. Obwohl jeder weiß, dass sich kein arabischer Staat die Unterdrückung antiisraelischer Publikationen oder Sendungen leisten kann, wurde diese Forderung in den US-Medien verbreitet.

„Der Weg zu einem Frieden im Nahen Osten führt durch Bagdad“, lautet die Parole, mit der die Bush-Regierung und die proisraelische Lobby hausieren gehen. Vielleicht gibt es in Washington tatsächlich Leute, die glauben, man könne sich durch die Vernichtung von Saddam Hussein – Israels mächtigstem Feind – bei der proisraelischen Lobby und in Israel so viel Kredit verschaffen, dass man die Regierung in Jerusalem zu Zugeständnissen bringen kann. Aber die Töne aus dem Lager der Republikaner vermitteln einen anderen Eindruck. So hat Rumsfeld die jüdischen Siedlungen als legitime Folge von Israels militärischem Sieg bezeichnet. Und Dick Armey, der Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus (der einen Irakkrieg eher skeptisch sieht), hat sogar den „Transfer“ der Palästinenser jenseits des Jordans befürwortet, also eine ethnische Säuberungspolitik. Der einflussreiche Richard Perle hatte bereits 1996 dem damaligen israelischen Regierungschef Netanjahu nahe gelegt, den Oslo-Friedensprozess zu negieren und zur militärischen Unterdrückung der Palästinenser zurückzukehren.4

Weitaus wahrscheinlicher ist daher, dass die meisten Mitglieder der Bush- und der Scharon-Regierung hoffen, die Vernichtung des irakischen Regimes werde die Palästinenser demoralisieren und deren Rückhalt im arabischen Lager so stark beeinträchtigen, dass man ihnen eine „Bantustan-Lösung“ aufzwingen kann.

Es ist erstaunlich, dass intelligente Menschen angesichts der Geschichte der letzten 50 Jahre glauben können, ein solches Konzept werde aufgehen. Schließlich haben die Israelis die arabischen Staaten fünfmal besiegt, ohne dass dies den palästinensischen Nationalismus oder die arabischen Sympathien für ihn geschwächt hätte. Aber in Washington und Jerusalem haben heute die harten „Realisten“ das Sagen. Und die haben, wie so häufig, vom Rest der Welt ein derart unrealistisches Bild und so wenig Sensibilität für den Charakter und die Motive der anderen, dass man fast von Autismus sprechen kann. Sie unterteilen die Welt in Freunde und Feinde und glauben, dass sich der Feind beim kleinsten Zeichen von „Schwäche“ automatisch radikalisieren werde.

Im Hinblick auf den arabisch-israelischen Konflikt wäre ein Irakkrieg für die US-Regierung eine Flucht nach vorn. Einerseits ist inzwischen klar, dass dieser Konflikt derart in die umfassenderen Entwicklungen im Nahen Osten eingebettet ist, dass man ihn nicht – wie die Bush-Regierung in ihrem ersten Amtsjahr – einfach ignorieren kann. Andererseits haben selbst jene Mitglieder der politischen Elite in Washington, die über Kenntnisse der Region und ein Gespür für Gerechtigkeit verfügen, nicht den Mut, der israelischen Regierung und ihrer Lobby in Washington so entschieden entgegenzutreten, dass der Frieden eine Chance hätte.

Aus dieser Sackgasse versuchen die USA herauszukommen, indem sie zynischerweise fordern, in den palästinensischen Autonomiegebieten müsse „Demokratie“ herrschen, bevor der Friedensprozess wieder in Gang kommen könne. Aber viel gravierender und beunruhigender ist das Programm, das mit dem neuen Slogan von einer „Demokratisierung“ der gesamten arabischen Welt verkündet wird. Da dieser Slogan auch für viele Linke attraktiv klingt, gilt es, ihn genauer anzusehen.

Die meisten Leute, die an die Verbreitung der Demokratie mittels US-amerikanischer Macht glauben, sind subjektiv durchaus nicht unaufrichtig. Dieser Glaube, ein Bestandteil des nationalen Sendungsbewusstseins, war historisch ein ungeheuer nützliches Instrument, um politische Rivalen der USA zu vernichten oder zu schwächen, wie das Beispiel der Sowjetunion am eindrucksvollsten belegt. Der Krieg gegen Irak soll nicht nur Saddam Hussein stürzen, sondern die Gesamtstruktur des sunnitisch dominierten, von einem arabischen Nationalismus geprägten Staates Irak treffen. Die „Demokratie“, die dieses Regime ersetzen soll, dürfte den afghanischen Verhältnissen ähneln: eine brüchige Koalition aus ethnischen Gruppen und Warlords, die fast vollständig von der amerikanischen Militärmacht abhängen und sich nach den Wünschen Washingtons (und Jerusalems) richten.

Ähnlich könnte es nach dem Irak auch Saudi-Arabien ergehen. Wenn sich die Saudis den Wünschen der USA nicht unterwerfen, könnten sie ebenfalls angegriffen werden. In dem Fall wäre das Ziel – jedenfalls nach Überlegungen, wie sie in den Denkfabriken Washingtons formuliert werden – nicht einfach die Beseitigung des saudischen Regimes und die Eliminierung der wahhabitischen Staatsideologie, sondern die Aufteilung des saudischen Staates. Die Ölfelder am Golf würden vom US-Militär okkupiert und die ganze Region in ein abhängiges Emirat umgewandelt, während Mekka und der Hidschas (die westliche Küstenregion am Roten Meer) wieder an das haschemitische Königshaus von Jordanien fallen könnten, das die Region bis 1924 regiert hatte.5

Hinter allem steht jedoch das Problem China. Nach dem Amtsantritt der Regierung Bush galt ihr sicherheitspolitisches Hauptaugenmerk zunächst nicht dem Nahen Osten, den sie eher mit wohlwollender Missachtung bedachte („wohlwollend“ jedenfalls gegenüber Israel). Die größten Ängste formulierten rechte nationalistische Gurus wie Robert Kagan im Hinblick auf China und dessen künftige Rolle als konkurrierende Supermacht. Und diese Ängste waren angesichts der schieren Größe Chinas und seines wirtschaftlichen Wachstums durchaus plausibel. Der Grundsatz aus dem berühmten Strategiepapier, das Wolfowitz und Kahlilzad im letzten Jahr der Amtszeit von Bush senior verfasst hatten,6 wurde von Bush junior in seiner Westpoint-Rede vom Juni 2002 quasi zur offiziellen Politik erhoben. Oberstes Ziel der US-Strategie nach dem Ende des Kalten Krieges sollte es demnach sein, zu verhindern, dass irgendwo auf der Welt irgendeine Macht zum „ebenbürtigen Konkurrenten“ werde.7

Für diese Strategie haben die radikalen Nationalisten zwei Varianten im Sinn. Die erste setzt auf die „Eindämmung“ Chinas durch ein übermächtiges Militärpotenzial und auf die Einkreisung durch US-Verbündete. Die zweite, vertreten von den eigentlich radikalen Kräften, setzt auf die Zerstörung des kommunistischen chinesischen Staates. Dies würde wie im Fall der Sowjetunion darauf hinauslaufen, das Territorium Chinas unter dem Vorwand der „Demokratisierung“ zu zerschlagen (etwa durch die „Befreiung“ Tibets und anderer Gebiete) und die chinesische Zentralregierung samt ihres wirtschaftlichen und militärischen Expansionspotenzials entscheidend zu schwächen.

In den nationalistischen Medien hat das Feindbild China – in abgemilderter Form – den 11. September überlebt. Wenn die USA ihre überwältigende militärische Überlegenheit im Nahen Osten demonstrieren können, wird dies sicher auch gewisse Gruppen der Republikaner ermutigen, einen weit härteren Kurs gegenüber China einzuschlagen, zum Beispiel indem man sich für die nationale Unabhängigkeit Taiwans stark macht.

Aber dies sind derzeit nur langfristige Ziele – oder auch nur Träume. Die Mehrheitsströmung in der Bush-Regierung teilt solche Ambitionen sicher nicht, zumal sie sich kaum systematisch umsetzen lassen dürften. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass die dominanten Kräfte in der Regierung erklärtermaßen ein grundlegendes Strategem der Clinton-Ära über Bord geworfen haben: den Grundsatz nämlich, dass sich die wichtigsten Staaten der Welt auf eine prinzipiell liberale kapitalistische Ordnung verpflichten sollten, womit sich auch die drohende Rivalität zwischen ihnen reduzieren ließe. Diese Denkrichtung ist noch nicht erledigt, und tatsächlich wird sie weiterhin von Colin Powell und weniger prominenten Figuren wie Richard Haass vertreten.

Aber deren nationalistische Rivalen sind mächtiger und verfechten inzwischen ganz offen den Grundsatz, dass man die Entstehung eines ernsthaften Rivalen der Vereinigten Staaten (oder einer Kombination von Rivalen) mit allen Mitteln verhindern müsse. Sie wollen nicht nur jeder Macht entgegentreten, die Ambitionen einer konkurrierenden globalen Hegemonialmacht entwickelt, sie wollen andere Staaten daran hindern, in ihrer eigenen Region die Rolle einer regionalen Großmacht zu spielen.

Die erdumspannenden Visionen mit dem trügerischen Titel „National Missile Defense“ zeugen zwar von Größenwahn8 , sind aber keinesfalls reine Fantasie. Angesichts der überwältigenden Übermacht der USA könnte die gegenwärtige Weltordnung durchaus über Jahrzehnte Bestand haben – bis ihr die Kosten terroristischer Aktionen plus unerträglicher sozialer, politischer und ökologischer Lasten schlicht über den Kopf wachsen.

So wie die Dinge stehen, würde allerdings das amerikanische Volk ein solches Programm niemals wissentlich unterstützen, und das gilt übrigens auch für das US-Militär. Selbst nach dem 11. September sind die Vereinigten Staaten nach keinem historischen Maßstab ein militaristisches Land. Obwohl die nationalistische ThinkTank-Kaste ihre imperialistischen Positionen immer offener artikuliert, wollen sich weder das Militär noch die Masse der Amerikaner in einer imperialistischen Rolle sehen. Die Angst vor Todesopfern und vor langfristigen militärischen Verwicklungen jenseits der eigenen Grenzen ist nach wie vor sehr ausgeprägt. Und alle Meinungsumfragen zeigen, dass die US-Bürger weit mehr an einer Zusammenarbeit mit den Verbündeten interessiert sind als ihre Regierung.

Angesichts der ökonomischen Entwicklung könnte diese Regierung trotz des Sieges bei den jüngsten Zwischenwahlen 2004 wieder abgewählt werden. Denn je mehr Unternehmen Bankrott machen, desto anstößiger werden die Verbindungen der Bush-Regierung mit den korrupten Führungskadern der Großkonzerne. Eine chronische Wirtschaftsflaute würde früher oder später deutlich machen, dass die hohen Militärausgaben und die Steuerersparnisse für die Reichen die finanzielle Basis für die öffentlichen Leistungen erheblich schrumpfen lassen. Und das könnte die Republikaner sehr viele Stimmen aus den Mittelschichten kosten.

Dennoch sind zwei Strategien denkbar, mit denen die Republikaner durchaus Chancen hätten, nicht nur die Präsidentschaftswahlen 2004 zu gewinnen, sondern auch – wie die Demokraten zwischen 1932 und 1952 – für eine ganze Periode zur quasinatürlichen Regierungspartei zu werden. Die erste Strategie ist die klassische Methode, die bedrohte rechte Oligarchien anwenden: das Umpolen verbreiteter Unzufriedenheit auf nationalistische Gefühle. Die zweite Strategie ist typisch amerikanisch und zielt darauf, der Demokratischen Partei ihre traditionellen jüdischen Wähler abspenstig zu machen, indem sich die Republikaner nicht nur uneingeschränkt für die Verteidigung Israels, sondern auch für dessen territoriale Ambitionen stark machen.

Diese zweite Strategie hängt mit dem politischen Rechtsruck in Israel und mit den immer engeren Verbindungen zwischen den Republikanern und der Likud zusammen, die über Personen wie Richard Perle und Douglas Feith laufen. Dieses Bündnis bedeutet einen radikalen Wandel im Vergleich mit der alten Republikanischen Partei unter Eisenhower, Nixon und Bush senior, die von Israel viel unabhängiger waren als die Demokraten. Entscheidend ist hierbei die immer engere Allianz zwischen der christlichen Rechten – mit ihrer Affinität zum alten weißen Süden – und der proisraelischen Lobby oder zumindest ihrer harten Likud-Fraktion.

Als sich diese Allianz herausbildete, erschien sie den meisten Beobachtern als fast undenkbare Konstellation. Schließlich waren die christliche Rechte und der weiße Süden die klassischen Brutstätten antisemitischer Verschwörungstheorien. Auf der anderen Seite konnte man aus den alttestamentarischen Aspekten der fundamentalistischen christlichen Lehre gewisse Sympathien für den Judaismus und Israel ableiten. Aber ebenso bedeutsam für die Unterstützung Israels durch die christlichen Fundamentalisten von heute ist der Einfluss des chiliastischen Denkens.

Zu natürlichen Verbündeten wurden die fundamentalistisch-christliche Rechte und der rechte Zionismus aber wohl vor allem deshalb, weil die Objekte ihres Hasses in vieler Hinsicht dieselben sind. Die christliche Rechte hasst seit jeher die Vereinten Nationen (aus schlicht nationalistischen Gründen oder auch weil sie in einer Weltregierung das Werk des Antichristen sieht). Verhasst sind ihnen auch die Europäer, und zwar in religiöser Hinsicht als dekadente Atheisten, in klassenmäßiger Hinsicht als Verbündete der verhassten „Ostküsteneliten“ und aus nationalistischen Gründen als Kritiker einer uneingeschränkten Hegemonie der USA.9 Doch am gefährlichsten ist eine weitere Gemeinsamkeit: Beide Gruppen sehen sich gern als Verteidiger der „Zivilisation“ gegen „die Wilden“ – eine Unterscheidung, die bei der christlichen Rechten vorwiegend nach rassischen Kategorien vorgenommen wird. Heute sind solche Kategorien gegenüber US-Bürgern schwarzer, asiatischer oder hispanischer Abstammung tabu – aber zumindest seit dem 11. September ist es möglich, sie auf Araber und Muslime anzuwenden.

In den Wahlen vom November 2000 war es den Republikanern gelungen, Al Gore einen Großteil der weißen Arbeiter abspenstig zu machen, indem sie deren populistische Neigungen ansprachen – und speziell die Opposition gegen strengere Schusswaffen- und Umweltschutzgesetze. Wenn die Republikaner es schaffen, den Demokraten viele jüdische Wähler auszuspannen – ein Prozess, der infolge schichtspezifischer Interessen schon seit den Tagen Reagans im Gange ist – haben sie eine gute Chance, den Demokraten für die Dauer mindestens einer Generation das Wasser abzugraben. Doch wenn die Demokraten noch viel mehr an finanzieller Unterstützung und intellektueller Substanz einbüßen, könnten sie auf eine Koalition zusammenschrumpfen, die nur noch soziale Verlierer umfasst, also etwa gewerkschaftlich organisierte weiße Arbeiter, Schwarze und Latinos. Je mehr die Demokraten als Partei der Minderheiten gesehen werden, desto mehr weiße Amerikaner werden mit der Zeit zu den Republikanern überlaufen.

Schon heute hat der Antisemitismus einiger schwarzer Wortführer in der Demokratischen Partei dazu beigetragen, viele Juden ins andere politische Lager zu treiben. Und viele progressive jüdische Intellektuelle haben sich inzwischen wegen ihrer Bindungen an Israel weit von ihren früheren internationalistischen Positionen entfernt. Man kann sogar ohne Übertreibung sagen, dass diese Entwicklung die internationalistische Substanz der Demokratischen Partei und der USA ingesamt ausgehöhlt hat. Auch haben sich die Demokraten in der Debatte über den Irak kaum profiliert. Damit entwickeln sie immer mehr das Image einer leidenschaftslosen und schlappen Partei, während die republikanischen Nationalisten mit ihrem Engagement und ihrer politischen Leidenschaft auftrumpfen.

Es wäre ein Fehler, in den Absichten und Plänen der Gruppen, die in der Bush-Regierung den Ton angeben, nur die bewusste und zynische Manipulation im Dienst engstirniger Interessen zu sehen.10 Die radikale nationalistische Rechte identifiziert sich selbst absolut – und absolut aufrichtig – mit den Vereinigten Staaten. Und zwar so weitgehend, dass die Präsenz anderer Kräfte in der Regierung in ihren Augen einer Usurpation gleichkommt, also per se zutiefst illegitim und damit „unamerikanisch“ ist. Dieser harte Kern des alten sicherheitspolitischen Establishments und des militärisch-industriellen Komplexes ist ein Produkt des Kalten Krieges, das heißt, er ist geprägt durch den Kampf, die Paranoia und den Fanatismus dieser Epoche. Zudem wurden diese Leute – typisch für Sicherheitspolitiker – in der Zeit des Kalten Krieges so konditioniert, dass sie sich nicht nur für härter, tapferer, weiser und informierter halten als den Rest ihrer ignoranten, arglosen Landsleute; sie halten sich auch für die einzige Kraft, die das Land vor der Zerstörung retten kann.

Die im Kalten Krieg in den USA entstandenen staatlichen, ökonomischen und intellektuellen Strukturen können nur überdauern, wenn die Leute an die Existenz eines mächtigen nationalen Feindes glauben – und zwar nicht in Gestalt von Terroristen, sondern von feindlichen Staaten. Deshalb erzeugen die nationalistischen Kräfte in ihren Analysen und in ihrer Propaganda ganz instinktiv immer wieder das erforderliche Feindbild. Aber erneut wäre es kurzsichtig, sich dies als bewussten Prozess vorzustellen.

Das innere Feindbild ist die Clinton-Generation

UND noch etwas: Die Hysterie der Rechten äußert sich nicht nur in nationalistischen Parolen und bei Fragen der nationalen Sicherheit, sondern auch in einem krankhaften Hass auf die Clinton-Regierung, der sich in rationalen politischen und ökonomischen Kategorien nicht erklären lässt. Denn Clinton hatte sich nach anfänglichen halbradikalen Experimenten (in Sachen Gesundheitsreform) sehr rasch darauf beschränkt, große Teile des sozioökonomischen Programms der Republikaner zu übernehmen. Bill Clinton, seine Frau, sein Lebensstil, sein Familienhintergrund und etliche seiner Mitarbeiter wurden also vor allem deshalb als kulturell – und folglich auch national – fremde Elemente identifiziert, weil sie von der Rechten mit der Gegenkultur der Sechziger- und Siebzigerjahre in Verbindung gebracht wurden.

Die jüngste Inkarnation dieses alten Geistes ist in Wahrheit vor allem eine Reaktion auf die zweifache Niederlage, die diese Rechte mit dem Vietnamkrieg erlitten hat. Denn die beispiellose militärische Niederlage bedeutete zugleich den Siegeszug einer modernen Kultur, die traditionsverhafteten Amerikanern unbeschreiblich fremd, unmoralisch und hassenswert vorkommen musste. Diese doppelte Schmach könnte, so die Hoffnung der Rechten, durch einen Sieg im Irak und eine neue Welle des konservativen Nationalismus an der Heimatfront endlich und endgültig getilgt werden.

Nun ist es keineswegs so, dass alle US-Amerikaner solche Rachefantasien hegen. Wohl aber zeichnet sich dieses Volk als Ganzes durch einen tief sitzenden Solipsismus aus, also eine weitgehende Unkenntnis der Welt jenseits der eigenen Küsten und Grenzen. Diese Mentalität schafft – verstärkt durch die Folgen des 11. September – ein riesiges politisches Vakuum, das die Gruppen mit den oben skizzierten Fantasien und Ambitionen ausfüllen und für ihre Ziele ausnutzen können. Um einen historischen Vergleich zu bemühen: Die meisten US-Amerikaner sind weit weniger militaristisch, imperialistisch und aggressiv eingestellt als etwa die Deutschen im Jahre 1914, aber die meisten Deutschen von 1914 hätten zumindest Frankreich auf der Landkarte gefunden.

Die jüngeren Hochschulabsolventen wissen auch deshalb so wenig über die weite Welt jenseits der USA, weil in den akademischen Curricula historische und regionale Studien gegenüber Disziplinen zu kurz kommen, die häufig nur eine platte Projektion „typisch amerikanischer“ Auffassungen und Vorurteile darstellen (deren übelstes Beispiel die „Rational Choice“-Theorie ist). Damit wurde die Fähigkeit, das eigene Land und dessen Handlungsweisen zu analysieren, weiter beschränkt. Solche Defizite erklären – neben der „Fahnenflucht“ der entschiedensten Internationalisten –, warum auch viele Intellektuelle heute für einen nationalistischen Messianismus anfällig sind, der sich mit vorgeblich hehren Zielen wie etwa der „Demokratisierung“ des Nahen Ostens drapiert.

Ihre überwältigende militärische und ökonomische Vormachtstellung hat den USA in den letzten zehn Jahren zweimal die Chance eröffnet, die Welt durch ihr Vorbild und auf dem Wege der Konsensbildung von ihrer Führungsrolle zu überzeugen. Washington hätte eine Strategie wählen können (und Clinton hat es in höchst begrenztem Maße versucht), die bemüht ist, die eigene Dominanz zu mildern und zu legitimieren – durch ökonomisch großzügiges und ökologisch verantwortliches Verhalten, durch geopolitisch defensives Auftreten und durch „gebührenden Respekt für die Weltmeinung“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung der USA heißt.

Die erste Chance war der Zusammenbruch der Supermacht Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie. Die zweite ergab sich aus der Bedrohung durch al-Qaida. Beide Chancen wurden verspielt, die erste zumindest teilweise, die zweite offenbar endgültig. Deshalb stehen wir heute vor der Tragödie eines großen Landes. Eines Landes mit positiven Intentionen und erfolgreichen Institutionen, mit großartigen historischen Errungenschaften und unerschöpflichen Energien, das gleichwohl zu einer Bedrohung für die Menschheit – und für sich selbst – geworden ist.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Britischer Publizist und Historiker. Seit 2000 leitendes Mitglied der Carnegie Endowment for International Peace in Washington D. C.. Zuletzt erschien: „Chechenya, Tombstone of Russian Power“, Yale University Press 1998. Dieser Text erschien in einer früheren Fassung in der „London Review of Books“, 3. Oktober 2002.

Fußnoten: 1 Dieser Vorwurf wurde bereits gegen so auftrumpfende Falken wie Richard Perle, die zurückhaltendere US-Militärs attackieren, erhoben. 2 Es handelt sich um einen Entwurf zur so genannten Defense Planning Guidance, verfasst von Wolfowitz und seinem Co-Autor Zalmay Khalilzad, dessen Inhalt in der New York Times vom 8. März 1992 enthüllt wurde. Den Auftrag für dieses Strategiepapier hatte der damalige Verteidigungsminister Dick Cheney erteilt. Siehe dazu: Frances FitzGerald, „George Bush and the World“, The New York Review of Books, 26. September 2002. 3 Solche manipulativen Methoden sind auch deshalb erfolgreich, weil das breite Publikum sich nicht für eine ernsthafte Debatte der Außen- und Sicherheitspolitik interessiert. Angesichts des Zustands der Medien und der politischen Öffentlichkeit wäre sie auch äußerst schwer in Gang zu bringen. 4 Perle machte diesen Vorschlag zusammen mit Douglas Feith, der heute Under Secretary for policy (Abteilungsleiter für politische Grundsatzfragen) im Pentagon ist. 5 Als irakischer König wird der jordanische Prinz al-Hassan Bin Tallal gehandelt, ein Cousin des 1958 ermordeten irakischen Königs Faisal II. (siehe dazu: Turkish Daily News vom 30. Oktober 2002). Die Rückkehr der Haschemiten ist aber aus jordanischer Sicht nicht wünschenswert und würde langfristig das Todesurteil für die haschemitische Dynastie bedeuten. 6 Siehe Anmerkung 2. 7 Dieser Grundsatz wird im Abschnitt IX der neuen Verteidigungsdoktrin vom 20. September 2002 bekräftigt. Siehe: „The National Security Strategy of the United States of America“ (www.whitehouse.gov/nsc/nss.html). 8 Der Größenwahn wird sehr deutlich in dem offiziellen Dokument zur Planung der Verteidigungsausgaben für die Haushaltsjahre 2004 bis 2009, das dieses Jahr von Verteidigungsminister Rumsfeld veröffentlicht wurde (www. defenselink.mil/sites/b.html#budget). 9 Zudem sehen sich beide Gruppen auch als historische Opfer. Das mag im Fall der US-Rechten befremdlich anmuten, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass der weiße Süden eine Geschichte der Niederlagen hinter sich hat und dass sich die christliche Rechte seit den 1960er-Jahren durch die nichtreligiösen Kräfte und den kulturellen Wandel belagert und zurückgedrängt sieht. 10 Solche schematischen Anschauungen beeinträchtigen immer wieder die Analyse nationalistischer Einstellungen und nationaler Konflikte, etwa in der Diskussion über die nationalistische Anfälligkeit deutscher Arbeiter vor 1914.

Le Monde diplomatique vom 15.11.2002, von ANATOL LIEVEN