07.03.2024

Die Frucht, die alles frisst

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Die Frucht, die alles frisst

Avocados sind Kolumbiens neuer Exportschlager – mit gravierenden Folgen für die Umwelt

von Stefano Liberti

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Néstor Ocampo zeigt auf die Bäume, die das umliegende Hügelland bedecken, so weit das Auge reicht. „Vor zehn Jahren gab es keine einzige dieser Plantagen.“ Der 74-jährige Umweltaktivist beschreibt mit dem Arm einen großen Bogen. „Sie breiten sich unaufhaltsam aus. Um Früchte anzubauen, die dann am anderen Ende der Welt landen, wird hektarweise Wald abgeholzt.“

Das Departamento del Quindío ist Kolumbiens kleinste Provinz und liegt auf der Zentralkordillere zwischen Cali und Medellín. Bei Touristinnen und Wanderern ist die gebirgige Gegend beliebt, denn hier gibt es eine weltweit einzigartige Pflanze zu bewundern: die Wachspalme. Sie ist ein Wahrzeichen Kolumbiens und gedeiht noch oberhalb von 2000 Metern.

Doch inzwischen stehen hier in der Gegend nicht mehr die prächtigen Palmen im Zentrum der Interessen, sondern eine Kulturpflanze, die in schwindelerregendem Tempo die Gegend erobert, angetrieben durch die steigende Nachfrage in den Ländern des Westens, besonders in Europa: die Avocado. Laut Eurostat exportierte Kolum­bien 2013 noch 500 Tonnen, 2022 waren es bereits 98 000. Innerhalb kürzester Zeit avancierte das südamerikanische Land zum zweitgrößten Avocadoproduzenten der Welt hinter Mexiko, speziell in die Europäische Union verkauft nur Peru mehr Avocados als Kolumbien.

Begünstigt wurde der Boom durch mehrere Faktoren: Dank des tropischen Klimas kann die Frucht praktisch ganzjährig geerntet werden, wegen der Nähe zu zwei Ozeanen und zum Panamakanal sind die Transportzeiten per Schiff kurz, und nicht zuletzt herrschen in Kolumbien seit jeher günstige Bedingungen für Auslandsinvestitionen.

Jede siebte Avocado in Europas Supermärkten kommt mittlerweile aus Kolumbien. Alles deutet darauf hin, dass der Anteil weiter steigen wird: In den allermeisten europäischen Ländern wird beim Konsum der Frucht mit zweistelligen Wachstumsraten gerechnet. Hauptabnehmer Frankreich importierte 2022 rund 200 000 Tonnen. An zweiter Stelle folgt der rasant wachsende Absatzmarkt Deutschland mit rund 127 000 Tonnen im Jahr 2022.

Bei den westlichen Kon­su­men­t:in­nen steht die Frucht als Guacamole oder Poké-Bowl hoch im Kurs. In den Erzeugerländern hingegen, die überwiegend in Mittel- und Südamerika liegen, bleibt der rasante Anstieg der Produktion nicht ohne Folgen. In Chile, das unter anhaltender Trockenheit leidet, geriet die Avocado sogar ins Visier des UN-Sonderberichterstatters für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung, weil sie die Wasserressourcen im Land aufbraucht.1

Kokainschmuggel in Avocados

In Mexiko streiten sich bereits die Drogenkartelle um das Geschäft mit dem „grünen Gold“. Die 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr, die es abwirft, wollen sie sich nicht entgehen lassen.2 In Kolumbien scheinen die Narcos bislang zwar nicht unmittelbar in der Avo­cado­pro­du­ktion mitzumischen, doch sie nutzen die mit Früchten voll beladenen Containerschiffe, die nach Europa fahren, für ihre branchenüblichen Aktivitäten. Dabei zeigen sie sich immer kreativer und experimentierfreudiger: 2020 stellten die kolumbianischen Behörden im Hafen von Santa Marta eine Ladung sicher, bei der sich anstelle der Avocadokerne Kokain befand.

Doch auch in Kolumbien geht nach Aussage von Umweltschützern und Lokalpolitikerinnen das unkontrollierte Wachstum auf Kosten der Umwelt und des kleinbäuerlichen Sozialgefüges im ländlichen Raum. Das Gebiet, in dem mehr und mehr Plantagen entstehen, ist überwiegend von Andenwald bedeckt. Dieses biologisch sehr vielfältige Ökosystem ist extrem sensibel und spielt als Wasserreservoir und als sogenannte Kohlenstoffsenke eine wichtige Rolle als Barriere gegen die globalen Erwärmung. „Die transnationalen Unternehmen sind dabei, eine einzigartige Naturlandschaft für immer zu verändern“, schimpft der Umweltschützer Ocampo. „Sie liefern sich einen Wettlauf um Grund und Boden und verdrängen die Kleinbauern, um ihre industriellen Monokulturen anzulegen.“

Carlos Mario Muñoz kann davon ein Lied singen. Dem Landwirt gehören sieben Hektar Ackerland in den Bergen bei Pijao, im südlichen Teil von Quindío, wo er Bananen, Kaffee, Tomaten und verschiedene Gemüsesorten anbaut. Er sitzt im Patio seines kleinen Häuschens, dessen zwei Zimmer er mit seiner Ehefrau und der 15-jährigen Tochter teilt, und erzählt, wie vor ein paar Jahren ein paar unbekannte Männer auftauchten und ihm sein Land abkaufen wollten. „Sie haben 150 Millionen Pesos (knapp 30 000 Euro). geboten. Das kam mir zu wenig vor. Ich lehnte ab.“

Damit ist Muñoz eine absolute Ausnahme, die meisten anderen verkaufen. Das Resultat ist nicht zu übersehen: Muñoz’ Parzelle ist auf allen Seiten von Avocadobäumen umgeben wie das kleine gallische Dorf bei Asterix von römischen Legionen.

Der Landwirt macht niemandem, der sein Land verkauft hat, einen Vorwurf. Bei einem Angebot in angemessener Höhe hätte er sich genauso entschieden. Er berichtet, was sich alles verändert hat, seit die Avocado hier Einzug gehalten hat. Pijao liegt inmitten des Eje Cafetero – der „Kaffee­achse“ –, die 2011 zum Unesco-Welterbe ernannt wurde.

Die Ehrung ändert allerdings nichts daran, dass der Kaffeeanbau hier immer mehr zurückgeht, weil er durch die Krisen der vergangenen 20 Jahre sehr viel weniger lukrativ geworden ist. Also verkaufen die Eigentümer ihr Land und schaffen damit Platz für weitläufige Anbauflächen, die meist von großen chilenischen und peruanischen Konzernen bewirtschaftet werden.

Heute ist diese früher von Kleinbauern besiedelte Gegend so gut wie menschenleer: Für die Avocado-Monokulturen werden keine ortsansässigen Arbeitskräfte gebraucht, sondern nur Tagelöhner, die bei Bedarf mit dem Lkw hergefahren werden. „Was sich hier abspielt, ist eine Gentrifizierung auf dem Lande. Sie treibt die Campesinos dazu, ihren Grund und Boden aufzugeben und dem Großkapital zu überlassen“, meint Ocampo.

Keine Bienen mehr in Quindío

Wenige Kilometer von Muñoz’ Land entfernt führt ein steiler Schotterweg zu einer Lichtung, auf der ein niedriges Gebäude steht. Es ist eine der Landschulen, die der kolumbianische Staat vor Jahrzehnten für die Kinder der Bauern eingerichtet hat. Auch hier bietet die Landschaft ein einförmiges Bild: Die umliegenden Hänge sind bedeckt von einem Meer von Bäumen voller grüner Früchte.

Es ist ein warmer Tag, die Fenster des großen Klassenzimmers sind weit geöffnet. Drinnen sitzen an zwei von sieben großen Tischen Kinder unterschiedlichen Alters. „Noch vor ein paar Jahren hatten wir mehr als 20 Kinder“, sagt die Lehrerin, die anonym bleiben will, weil sie „keine Scherereien mit dem Ministerium bekommen“ möchte. Ein Jahr lang war die Schule ganz geschlossen. Wieder geöffnet wurde sie nur, weil die Hausmeisterin mit vier Kindern herzog. „Die Gegend wird entvölkert“, klagt die Lehrerin. „Inzwischen gibt es hier nur noch Avocados, aber kein Leben mehr. Von den Anbaumethoden will ich gar nicht reden – wenn gespritzt wird, müssen wir die Fenster schließen und das Haus abdichten.“

Muñoz kann das bestätigen. Betrübt erzählt er, was ihm widerfahren ist: „Wir hatten sieben Bienenstöcke für die Honigproduktion. Eines Tages haben wir die Bienen alle tot vorgefunden. Das war erschreckend.“ Die Ursache steht für ihn fest: „Die Pestizide bringen die Insekten um.“

„Insgesamt haben wir in Quindío 40 000 Bienenstöcke verloren“, berichtet Luis Carlos Serna, der als Abgeordneter im Regionalparlament sitzt. „Die Bienen sind ökologische Seismografen. Wenn sie massenhaft sterben, heißt das, es ist etwas Gravierendes im Gange.“ Der Politiker ist gelernter Biologe und hat die Gewässer im Departamento del Quindío untersucht. In seinem Büro in der Provinzhauptstadt Armenia zeigt er die Ergebnisse seiner Analysen. Sie sind erschreckend.

„Wir sind auf Chemikalien gestoßen, die in Kolumbien seit den 1950er Jahren verboten sind“, sagt er. „Das Problem ist: Die Wasservorkommen werden vom Staat nicht wirksam überwacht. Das zur landwirtschaftlichen Nutzung freigegebene Wasser nutzen die Campesinos auch zum Waschen, Kochen und Trinken.“ Bei seinen häufigen Fahrten durch die ländlichen Gebiete fragt Serna seine Gesprächspartner immer, ob sie gesundheitliche Probleme haben. „Alle erzählen mir, dass immer mehr Menschen unter Kopfschmerzen, Fieber und Übelkeit leiden – typische Anzeichen für eine Vergiftung durch Agrochemikalien.“

Strafen haben die Erzeugerbetriebe laut Serna nicht zu befürchten. „Sie setzen verbotene Chemikalien ein, achten dann aber darauf, dass in den Avocados, die in den Export gehen, keine Rückstände mehr zu finden sind.“ Auf diesen krassen Widerspruch will der Abgeordnete aufmerksam machen: Um ein perfektes, insekten- und parasitenfreies Produkt liefern zu können, werden im großen Stil Pestizide eingesetzt. Dann wird die Pestizidbehandlung genau im richtigen Moment eingestellt. „Unser Grundwasser wird verseucht, und ins Ausland werden makellose Früchte geliefert.“

Serna kritisiert auch, dass die großen Unternehmen gegen geltendes Recht verstoßen, indem sie sich das für den Anbau benötigte Wasser durch das Umleiten von Flüssen und Bächen verschaffen und Avocadobäume auch in den Verbotszonen pflanzen. In letzter Zeit hat die zuständige Umweltbehörde, die Corporación Autónoma Regional del Quindío, 13 Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlicher Regelverstöße eingeleitet.

So hatte ein Betrieb in Pijao 810 Bäume in einem Schutzgebiet angepflanzt und musste sie alle wieder ausreißen. In der weiter nördlich gelegenen Kleinstadt Salento wurde ein anderer Betrieb mit einer Geldbuße von 63 Millionen Pesos (12 000 Euro) belegt, weil er ohne Genehmigung Wasser gezogen und Avocadobäume in einem Waldschutzgebiet gepflanzt hatte. „Das sind aber Peanuts. Für Unternehmen, die Millionen von Dollar investieren, sind solche Bußgelder eine Lachnummer“, meint Serna.

Weite Teile der Provinz Quindío sind Waldschutzgebiete, und dort sind Monokulturen gesetzlich prinzipiell untersagt. Doch der Abgeordnete zeigt eine Landkarte, auf der deutlich zu erkennen ist, wie viele Avocado-Anbaugebiete sich in Schutzzonen befinden. „Diese Konzerne scheren sich nicht um die Gesetze, weil sie wissen, dass sie im schlimmsten Fall mit einer Ordnungsstrafe davonkommen.“

Diego Aristizábal, Präsident des nationalen Verbands der Avocado-Erzeuger, hält dagegen: „Das sind Einzelfälle. Sie gehen auf das Konto von Betrieben, die in ihrer Anfangsphase noch nicht mit den kolumbianischen Gesetzen vertraut waren.“ Er betont, die Branche schaffe Wohlstand und Arbeitsplätze und biete der durch die Kaffeekrise in Not geratenen Landwirtschaft eine Alternative. „Dass man uns verteufelt, ist widersinnig. Wir Erzeuger gehen beim Thema Umweltschutz voran. Das liegt in unserem eigenen Interesse, denn wenn die Umwelt leidet, können wir unsere Arbeit nicht machen.“

Nach Aussage des Verbandschefs gelten für die Avocadoproduzenten strengere Regularien als für Betriebe, die traditionell Kaffee, Bananen oder anderes anbauen. „Der Markt verlangt Nachhaltigkeit, und wir freuen uns, dass wir diesen Anspruch erfüllen“, sagt Aristizábal und zeigt uns Pläne zur Eigenproduktion von sogenannten Inputs, also Zusatzstoffen wie Dünger und Pflanzenschutzmittel auf biologischer Basis, die sein Verband gerade gemeinsam mit der Universität in Armenia entwickelt.

„Der Avocadokonsum nimmt so rapide zu, dass die bisher geschaffenen Anbauflächen nicht ausreichen werden, um die weltweite Nachfrage zu bedienen“, erklärt Aristizábal. In seinen Augen ist die Avocado ein echter Segen für Kolumbiens Agrarwirtschaft. Zu den Vorwürfen, für die Plantagen werde massenhaft Andenwald gerodet, hat er eine klare Meinung: „Das ist übertrieben. Die Anbaugebiete befinden sich zum großen Teil auf Flächen, die bereits abgeholzt waren und früher als Weideland oder für den Kaffeeanbau genutzt wurden.“

Die Provinz Quindío ist eher schwer zugänglich und wegen ihrer relativ großen Entfernung zum Meer nicht gerade zur Exportregion prädestiniert. Dass sie bei multinationalen Unternehmen aus dem Ausland so großes Interesse weckt, liegt vor allem an gezielten staatlichen Fördermaßnahmen. Die örtliche Handelskammer gründete 2016 eigens zu diesem Zweck die Agentur Invest in Armenia, die die Ansiedlung von Unternehmen aus dem Ausland oder aus anderen Teilen Kolumbiens erleichtern soll.

„Seit wir unsere Tätigkeit aufgenommen haben, wurden unter unserer Mitwirkung 47 Millionen Dollar in die hiesige Avocadoproduktion investiert“, sagt Juan Sebastián Pérez, der Direktor von Invest in Armenia. Er legt großen Wert auf die Feststellung, dass seine Agentur sich besonders für ökologisch nachhaltige Investitionen starkmache. Angesprochen auf die nachgewiesenen Umweltverstöße, erklärt er sich für nicht zuständig. „Wir fördern Unternehmen, die für Entwicklung sorgen und Arbeitsplätze schaffen.“ Und zählt alle Firmen auf, die sich in den vergangenen Jahren in der Gegend niedergelassen haben „Es gibt auch europäische Interessenten, aber Details darf ich noch nicht nennen, weil die Feinabstimmung noch nicht abgeschlossen ist.“

Dass die „Kaffeeachse“ komplett in ausländische Hände geraten könnte, hält der Chef von Invest in Armenia dabei für ausgeschlossen: „Die Eigentumsverhältnisse hier sind so kleinteilig, dass Ausverkauf im großen Stil nicht möglich ist.“ Luis Carlos Serna hingegen glaubt, dass der Prozess bereits jetzt aus dem Ruder gelaufen ist. „Wir erarbeiten gerade zusammen mit einer Abgeordneten im kolumbianischen Senat einen Gesetzentwurf, nach dem in jedem Departamento höchstens 10 Prozent des Grundeigentums in ausländischen Händen sein dürfen“, berichtet er und schickt hinterher: „Wobei in Quindío diese Grenze schon weit überschritten ist.“

Falls der Entwurf es jemals ins Parlament schafft, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er eine Mehrheit findet. Weite Teile der politischen Klasse und der Unternehmerschaft Kolum­biens halten die Investitionen aus dem Ausland für einen Glücksfall, zumal im Agrarsektor. Auch der linke Präsident Gustavo Petro träumt davon, „statt Öl die Avocado“ zur Haupteinkommensquelle des Landes zu machen.

Serna ist Mitglied in Petros Partei Colombia humana, aber in dieser Frage trennen ihn Welten vom Präsidenten. „Als Petro unsere Region besuchte und ich ihm erklärt habe, dass dieses Modell ein Fehler ist, hielt er mir entgegen, die Agrarindustrie sei die Rettung für Kolumbiens ländlichen Raum.“ Allerdings erklärte das Staatsoberhaupt auch öffentlich, Großgrundbesitz müsse verhindert und das Kleinbauerntum geschützt werden.

Hier prallen offenkundig zwei unterschiedliche Vorstellungen von Landwirtschaft aufeinander: Die Avocado steht für ein System intensiver Landwirtschaft, die auf Monokulturen setzt und mit enormen Anfangsinvestitionen verbunden ist. Kleinerzeuger haben weder die Produktionsmittel noch das Kapital, aktiv in diesen Markt einzusteigen. Sie werden von diesem System am Ende erdrückt, weil sie durch den zunehmenden Run auf die Anbauflächen von ihrem Grund und Boden verdrängt werden. Das Ergebnis liege auf der Hand, so Serna: „Das Land wird privatisiert. Es setzt sich ein rein exportbasiertes Anbau- und Entwicklungsmodell durch, und wir verlieren unsere Ernährungssouveränität.“

In der kolumbianischen Esskultur hat die Avocado ihren festen Platz. Die grüne Frucht ist Bestandteil vieler landestypischer Gerichte, der Pro-Kopf-Verbrauch liegt laut Landwirtschaftsministerium bei schätzungsweise 6,3 Kilo im Jahr. In Europa sind es 1,33 Kilo jährlich.

In den neu angelegten Plantagen wird jedoch eine Sorte angebaut, die in Kolumbien bislang kaum bekannt ist und bis vor zehn Jahren überhaupt nicht anzutreffen war: die Hass-Avocado. Mit ihrer charakteristischen rauen Schale und geringen Größe ist sie mittlerweile zur Nummer eins in den Supermärkten Europas und Nordamerikas geworden – und erobert damit auch auf den Hügeln Kolumbiens die Vorherrschaft.

Die Hass-Avocado und ihre Erfolgsgeschichte sind ein Produkt des Zufalls. In den 1920er Jahren pflanzte der Briefträger und Hobbygärtner Rudolph Hass in Los Angeles Avocadosetzlinge der damals gängigsten Sorte Fuerte und versuchte sie zu veredeln. Bei einem Bäumchen missglückte das Pfropf­expe­ri­ment, sodass Hass es beinahe gefällt hätte. Doch er ließ es wachsen, und nach ein paar Jahren brachte der Baum Früchte hervor, die sich von allen bisher bekannten Avocados unterschieden – vor allem durch ihre rauere und dickere Schale.

Hass’ Sohn probierte die neue Sorte und fand sie schmackhafter als die gewohnten Fuerte-Avocados und ließ die neue Sorte unter seinem Namen patentieren. Heute sind 95 Prozent aller Avocados auf dem Markt Hass-Avocados. Beliebt sind sie nicht nur wegen ihres Geschmacks, sondern auch wegen ihrer kompakten und transportfreundlichen Größe. Ein weiterer Vorteil: Die Farbe der reifen Frucht färbt sich dunkel­violett bis schwarz. Ähnlich wie bei der Banane lässt sich also leicht am Äußeren ablesen, wann sie verzehrbereit ist.

Auch in anderer Hinsicht hat die Geschichte der Hass-Avocado viele Parallelen zur Geschichte der Bananensorte Cavendish. Es gibt auf der Welt Hunderte von Bananensorten, aber im internationalen Handel hat die Cavendish-Banane ein beinahe vollständiges Mo­no­pol.3 Die Frage ist, ob die Hass den gleichen Weg gehen wird wie die Cavendish. Deren Anbaugebiete werden großflächig von ausländischen Großkonzernen bewirtschaftet, die sich in die Politik der mittelamerikanischen Staaten massiv einmischten und damit den Begriff „Bananenrepublik“ hervorbrachten.

In seinem Büro in Medellín rückt Jorge Enrique Restrepo die Größenordnungen zurecht. „Wir reden hier von ein paar zehntausend Hektar in einem klar umgrenzten Landesteil.“ Restrepo ist Direktor von Corpohass, einem Zusammenschluss von Avocado-Erzeugern und -Exporteuren; er dürfte einer der bestinformierten Experten der Branche sein. Auf einer großen Landkarte zeigt er, wie die Plantagen sich verteilen und wie die Avocadobranche funktioniert.

Das Anbaugebiet liegt zwischen 1500 und 2500 Metern Höhe über dem Meeresspiegel an der Zentralkordillere. Von den Plantagen aus werden die Avocadokisten zu den Sammelstellen oder direkt zu den Packereien, den empacadoras, befördert, wo die Früchte nach den Vorgaben der Abnehmer selektiert werden. Von dort geht es in Kühl-Lkws zu den Häfen. „Die allermeisten Kisten für den europäischen Markt werden in Cartagena oder Santa Marta verschifft“, sagt Restrepo.

Nach 15 bis 20 Tagen kommen sie im Hafen von Rotterdam an, der für einen großen Teil Europas als Sortierzentrum fungiert. Die gesamte Transportstrecke von der empacadora bis zum Supermarkt legen die Avocados bei einer Temperatur von maximal 5 Grad zurück, damit der Reifeprozess angehalten wird. Wenn die Avocado im Ladenregal ankommt, trennen sie 10 000 Kilometer von dem Ort, an dem sie angebaut wurde, und oft ein ganzer Monat von dem Moment, in dem sie geerntet wurde.

Auf die Frage, ob Landgrabbing durch ausländische Konzerne drohe, wiegelt Restrepo ab. „Dass die ausländischen Investitionen so in den Vordergrund gestellt werden, erscheint mir nur vorgeschoben. In Kolumbien sind Ausländer seit jeher willkommen, weil unser Markt die ganze Welt ist.“ Auch die meisten anderen Agrarerzeugnisse des Landes wie Bananen und Kaffee würden schließlich für den Export produziert. Zudem habe Kolumbien gute Voraussetzungen, um bei der Erschließung eines Wachstumsmarkts eine Schlüsselrolle zu übernehmen. „Anders als die wasserarmen Ländern Chile und Peru haben wir Wasser im Überfluss. Hier gibt es das nötige Land, die Ressourcen und die Arbeitskräfte. Wir können nur wachsen.“

Restrepo redet von gewaltigen Potenzialen, macht aber auch kein Hehl aus den Problemen. „Wir können die Anbauflächen ausweiten, aber ohne die nötige Infrastruktur bringt das nicht viel: Wenn die Ernte nicht rechtzeitig in den empacadoras ankommt, ist sie unbrauchbar.“ In vielen ländlichen Gebieten Kolumbiens befänden sich die Straßen in einem extrem schlechten Zustand und die Plantagen oft in unwegsamen Gegenden. Außerdem schimpft Restrepo über die Vorschriften, die den Anbau in Schutzgebieten verhindern.

Als prominentes Beispiel nennt er die sogenannte Ley segunda, durch die 1959 die Waldschutzgebiete geschaffen wurden. „Dieses Gesetz ist für das Kolumbien von vor 60 Jahren gemacht. Es ist höchste Zeit, es auf den Prüfstand zu stellen und an heutige Erfordernisse anzupassen.“ Damit berührt er den entscheidenden Punkt und den Kern der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Erzeugern und Umweltschützern, die sich in Quindío am deutlichsten zeigt. Soll man diese Gebiete, die dem Ökosystem der ganzen Welt dienen, intakt halten? Oder soll man sie produktiv nutzen und Reichtum und Wohlstand für Kolumbien erwirtschaften?

Dieses fundamentale Dilemma existiert für die meisten großen Agrarstaaten, die den Weltmarkt beliefern: hier der Schutz der Umwelt, dort das Wachstum einer exportorientierten Wirtschaft. Dabei sind für Grundnahrungsmittel wie Getreide, die für die Ernährung der Weltbevölkerung unverzichtbar sind, kaum Alternativen denkbar. Bei der Avocado sieht es allerdings anders aus. Sie ist als Produkt letztendlich überflüssig und leicht durch andere zu ersetzen.

Der exponentiell zunehmende Konsum auf der Nordhalbkugel wirft die Frage auf, ob es vertretbar ist, Früchte zu essen, die mit gewaltigem Energieaufwand für Transport und Kühlung, also erheblichem CO2-Ausstoß, vom anderen Ende des Planeten kommen und die Ökosysteme in den Erzeugerländern substanziell verändern.

Langsam, aber sicher erobert die Avocado in Kolumbien einen großen Teil der Flächen, die sich aufgrund ihrer Höhe – zwischen 1500 und 2500 Metern über dem Meeresspiegel – als Anbaugebiete eignen. Wird diese Entwicklung sich als Fluch für das Land erweisen, wie Serna und andere befürchten, oder als Segen für die Agrarwirtschaft, wie Restrepo und Pe­tro glauben?

Klar ist: Die Avocado steht im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, bei der es um die Zukunft nicht nur Kolumbiens, sondern der ganzen Welt geht. Sie führt uns vor Augen, dass unsere Konsumentscheidungen Konsequenzen haben, die wir uns noch nicht einmal vorstellen können.

1 Aislinn Laing, „U.N. water rights expert questions Chile‘s avocado and energy priorities“, Reuters, 20. August 2020.

2 Stephanie Corpi und Toya Sarno Jordan, „Mexico’s avocados and arms trafficking: The criminal combi­na­tion suffocating Michoacán“, El País, 11. November 2023.

3 Vgl. Sandra Weiß, „Krumme Dinger“, LMd, August 2022.

Aus dem Italienischen von Andreas Bredenfeld

Stefano Liberti ist freier Journalist.

© Stefano Liberti; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Stefano Liberti