07.03.2024

Sudan – vom Krieg zerrissen

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Sudan – vom Krieg zerrissen

Über dem Kriegsgeschehen in der Ukraine und im Gazastreifen hat die westliche Welt den Bürgerkrieg im Sudan fast vergessen. Dabei droht der fast ein Jahr andauernde Konflikt eine ganze Großregion zu destabilisieren. Und treibt Millionen Menschen in die Flucht – innerhalb des Sudan wie auch in Richtung Europa.

von Gérard Prunier

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Als am 15. April 2023 in Khartum schwere Kämpfe zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und der paramilitärischen Miliz Rapid Support Forces (RSF) ausbrachen, hatten die Medien nur eine Erklärung parat: die Rivalität zwischen zwei Kriegsherren, General Abdel Fattah al-Burhan, Präsident der Regierungsjunta (Souveräner Rat genannt) und seinem Vizepräsidenten Mohammed Hamdan Daglo, genannt „Hemeti“ (im sudanesischen Arabisch „mein Beschützer“).

Die Wirklichkeit hat nur auf den ersten Blick mit der Rivalität zweier Persönlichkeiten zu tun, die Wurzeln dieses Konflikts liegen sehr viel tiefer: in der langen Geschichte und in der nicht enden wollenden wirtschaftlichen und sozialen Krise des Sudan.

Die Kämpfe haben an Zahl und Heftigkeit dramatisch zugenommen; genährt werden sie durch den massiven Import von Waffen, vor allem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten für die RSF und aus Ägypten für die SAF. 7 Millionen Menschen wurden entweder zu Binnenflüchtlingen oder haben sich nach Ägypten oder in den Tschad gerettet. Die „Regierung“, die sich nach Port Sudan in Sicherheit brachte, hat die Kontrolle über die Hälfte des Landes verloren.

Die Vermittlungsversuche der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union sind allesamt gescheitert. In den von den USA und Saudi-Arabien initiierten Gesprächen, die im Mai 2023 im saudischen Dschidda aufgenommen wurden, konnte lediglich hin und wieder ein Waffenstillstand ausgehandelt werden, der dann umgehend wieder gebrochen wurde. Seither geht es nur noch um die Organisation humanitärer Hilfe, auf der politischen und militärischen Ebene dagegen bewegt sich gar nichts mehr.

Sieben Millionen Menschen auf der Flucht

Nachdem die SAF die Hauptstädte von drei der insgesamt fünf Bundesstaaten in der Darfur-Region – Nyala, al-Dschunaina und Zalingei – aufgeben musste, konzentrieren sich die Kämpfe inzwischen auf al-Faschir, die Hauptstadt von Nord-Darfur. Egal ob die sudanesische Armee die Kontrolle über die Stadt – also eine Bevölkerung von rund einer Million und dazu 300 000 Flüchtlinge – behalten kann oder ob sie von der RSF eingenommen wird: Was in al-Faschir geschieht, wird einen Wendepunkt des Kriegs bedeuten.

Die blutigen Ereignisse in Darfur und im gesamten Sudan haben eine lange Vorgeschichte. Die allermeisten afrikanischen Staaten sind Resultate der kolonialen Aufteilung.1 Damit wurden disparate Gebiete zu Staaten zusammengefügt, die trotz vieler Konflikte über den Verlauf der Grenzen in eine staatliche Einheit gezwängt wurden. Eine Ausnahme ist Äthiopien, das trotz der kurzen Phase unter italienischer Besatzung (1936–1941) nie kolonisiert wurde; eine weitere ist der Sudan, dessen Grenzen und Gebiete andere historische Gründe haben.

Dieser Staat entstand 1821 mit der Eroberung eines Teils des Bilad as-Sudan („Land der Schwarzen“) durch Ägypten, das damals Teil des Osmanischen Reichs war. Muhammad Ali Pascha, der fast autonome Gouverneur Ägyptens, verfolgte mit diesem Kriegszug zwei Ziele: die Aushebung von Schwarzen Sklavensoldaten und Gold.

Das eroberte Gebiet wurde grob unterteilt in eine Kolonie nach türkischem Modell2 – schwach organisiert und zur Ausbeutung bestimmt – und einem nur teilweise kontrollierten Randgebiet, das zur institutionalisierten Plünderung freigegeben war.

1882 fiel Ägypten unter britische Kontrolle. Teile des heutigen Sudan wurden 1899 – nach Niederschlagung des Mahdi-Aufstands3 gegen die ägyptische Herrschaft – mit Hilfe der Briten zu einem ägyptisch-britischen Kondominium. Darfur, ein bis dahin unabhängiges Sultanat, wurde erst 1916, also während des Ersten Weltkriegs, von den Briten besetzt.

Der Sudan blieb ein Flickenteppich und Darfur eine Kolonie. Der Dauer­konflikt zwischen dem Norden und dem Süden des Landes forderte zwischen 1955 und 2002 eine halbe bis eine Million Menschenleben.

In dieser unterschiedlichen historischen Entwicklung innerhalb des 1956

unabhängig gewordenen Sudan liegen die Ursachen für die Auseinandersetzungen, die das Land heute zerreißen. Um diese zu verstehen, muss man in das Jahr 2011 zurückgehen.

Die Sezession des Südsudan4 und das Aufkommen von Guerillabewegungen innerhalb der muslimischen Bevölkerung in den Randgebieten des Nordens trugen dazu bei, dass Präsident Omar al-Bashir, der seit dem Staatsstreich vom 30. Juni 1989 an der Macht war, zunehmend an Autorität einbüßte. Sein von Korruption geprägtes islamistisches Regime wurde immer unpopulärer und hielt sich nur noch dank Rückendeckung durch den Iran und einer gewissen Unterstützung der Saudis.

Al-Bashir war bereits in Bedrängnis geraten, als der Internationale Strafgerichtshof 2009 wegen der Massaker in Darfur einen Haftbefehl gegen ihn erlassen hatte. 2013 traf er dann eine folgenschwere Entscheidung: Er begann den bis dahin latenten Bürgerkrieg von oben zu organisieren und verlieh der von den nomadischen Rizaiqat-„Arabern“ gestellten Dschandschawid-Miliz einen offiziellen Status.

Hier bedarf es einer Präzisierung: Der Begriff „Araber“ hat im Sudan eine eher kulturelle denn ethnische Bedeutung. Wenn eine Familie zu Hause nicht eine der lokalen Sprachen, sondern Arabisch spricht, gilt sie als „arabisch“. Die Dschandschawid-Miliz wurde als Truppe im Dienst der fundamentalistisch-arabischen Macht aufgebaut, obwohl die Rizaiqat weder das eine noch das andere sind.

Das Bashir-Regime setzte die Miliz zunächst im Jemen ein – im Auftrag der Saudis, die mit hohen Soldzahlungen lockten – und erst dann im eigenen Land: zunächst im Kampf gegen die Sudanesische Volksbefreiungsbewegung im Nordsudan (SPLM-Nord), dann in Darfur und später überall im Sudan. Im Grunde war die Miliz also nichts anderes als eine (inländische) Ko­lo­nial­truppe zur Sicherung der Herrschaft Khartums über das gesamte sudanesische Territorium.5

Al-Bashir wurde schließlich am 11. April 2019 durch einen gemeinsam von der SAF und der RSF organisierten Staatsstreich gestürzt, den die Bevölkerung enthusiastisch unterstützte.6 Die Sudanesen und insbesondere die Sudanesinnen hatten auf unzähligen Demonstrationen einer brutalen Repression getrotzt, bei der mehrere hundert Menschen ums Leben kamen.

Doch die Putschisten konnten nur bedingt als Verbündete gelten. Die SAF ist eine überwiegend „arabische“ Truppe, die sich vorwiegend aus Aulad al-Bahar, der Bevölkerung des Niltals, re­kru­tiert, die RSF dagegen aus den Rizaiqat-Stämmen. Die einen gehören also zu den Herrschenden, die anderen zu den Beherrschten. RSF-Anführer Hemeti gilt in Darfur als „Araber“, in Khartum jedoch als ein kolonialer Untertan.

Nach dem gemeinsamen Staatsstreich waren die Spannungen zwischen den beiden Gruppierungen vom ersten Tag an spürbar. Beide wollten die Demokratiebewegung vereinnahmen, indem sie sich als legitime Vertreter des Volks gegen die Diktatur ausgaben. Und beide hatten damit keinen Erfolg.

Am 25. Oktober 2021 initiierten SAF und RSF gemeinsam einen erneuten Militärputsch gegen die Übergangsregierung, um ihre politische Kontrolle zu sichern und die Proteste auf der Straße zu beenden. Die neue Regierungsjunta, der sogenannte Souveräne Rat, beseitigte die staatlichen Übergangsinstitutionen und ließ Ak­ti­vis­t:in­nen der Demokratiebewegung, die zum Sturz al-Bashirs beigetragen hatten, massenhaft festnehmen.

Sämtliche Untersuchungen der unter der militärisch-islamistischen Diktatur begangenen Verbrechen wurden eingestellt, Funktionäre des gestürzten Baschar-Regimes freigelassen. Zwar stellten die Putschisten Wahlen für den Juli 2023 Aussicht, doch sie lösten Gewerkschaften und Berufsverbände auf und beriefen mehrere sudanesische Botschafter im Ausland ab. Der Chef der Übergangsregierung, Abdullah Hamdok, wurde erst festgesetzt, dann in eine Übergangsregierung berufen, bis er im Januar 2022 ins Exil ging.

Streit um die Verteilung der Goldbeute

Im Januar 2022 entsandte die US-Regierung Molly Phee, die Unterstaatssekretärin für afrikanische Angelegenheiten, zu einem Meinungsaustausch mit den Putschisten nach Khartum. Damit wurde der Staatsstreich faktisch anerkannt. Dabei waren seit dem erneuten Putsch 64 unbewaffnete Demonstranten getötet worden, der 65. während des Besuchs der US-Delegation. Zwei Tage später wurden drei weitere Protestierende umgebracht.

Am 24. Februar 2022 reiste Hemeti nach Moskau. Seine Sorge galt den möglichen Auswirkungen des Ukrai­ne­kriegs auf die sudanesischen Gold­exporte nach Russland. In Moskau wurde er beruhigt: Fortan wurden die Goldlieferungen vom russischen Militärgeheimdienst (GRU) organisiert. Als in der UN-Generalversammlung am 3. März 2022 über die Resolution abgestimmt wurde, die die Invasion der Ukraine durch Russland verurteilte, enthielt sich der Sudan der Stimme.

Ungeachtet der Verbindungen der Junta mit Moskau nahmen die USA am 9. Mai 2022 ihre Wirtschaftshilfe für den Sudan wieder auf. In Washington glaubte man wohl, man werde die Krise irgendwie in den Griff bekommen. Am selben Tag versuchte die Umma-Partei, die neben den Kommunisten einzige übrig gebliebene Oppositionspartei, die zu Zeiten al-Bashirs vollkommen marginalisiert worden war, wieder im politischen Spiel mitzumischen. Das herrschende Regime sei „voll und ganz für die Blockade des demokratischen Prozesses verantwortlich“, erklärte die alte Partei der Mitte.

Am 21. Oktober 2022 rief der UN-Sicherheitsrat alle Konfliktparteien zur „Mäßigung“ auf. Kurz darauf organisierten Islamisten der Nationalen Kongresspartei eine Demonstration, auf der sie erfolglos die Ausweisung der „Integrierten UN-Mission im Sudan zur Unterstützung des Übergangs“ (Unitams) forderten. Die Partei ist zwar seit dem Sturz al-Bashirs verboten, doch viele ihrer Mitglieder sind weiterhin aktiv.

Die Friedensmission war im Juni 2020 vom UN-Sicherheitsrat eingerichtet worden, um das Land auf dem Weg zur Demokratie zu begleiten. Sie lief auch nach dem Putsch vom 25. Oktober 2021 weiter, hat jedoch mittlerweile an Glaubwürdigkeit verloren.

Die weiteren Versuche, die Konfliktparteien zu einem Dialog zusammenzubringen, sind allesamt gescheitert.  Am 3. Juni 2022 beendete nach der Afrikanischen Union auch die zivile Oppositionsbewegung FFC (Forces of Freedom and Change) ihre Teilnahme an den Gesprächen, die unter der Schirmherrschaft der ostafrikanischen Intergovernmental Authority on Development (Igad) liefen.7

Das alles hinderte den UN-Sicherheitsrat nicht, das Mandat der Friedensmission zu verlängern. Noch im Juni 2022 kam es in zu Massakern der Rizaiqat-Milizen an den Gimr in West Darfur, bei denen 200 Menschen getötet wurden.

Russische Söldner und libysche Sponsoren

Der Konflikt zwischen den beiden Putschistengruppen, der RSF und der SAF, wurde im Dezember 2022 zum ersten Mal öffentlich ausgetragen. Hemeti erklärte, der Staatsstreich vom 25. Oktober sei „ein Fehler gewesen“, während SAF-General Burhan ihn nach wie vor für gerechtfertigt hielt. Am 12. Dezember erklärte die russische Regierung, sie stehe „allen politischen Tendenzen im Sudan gleich nah“.

Zu dieser Zeit beschwerten sich Angehörige der Bedscha-Ethnie, einer weder „arabischen“ noch „afrikanischen“ Gruppe im Osten, über den illegalen Goldbergbau, der von den RSF in ihrem Siedlungsgebiet betrieben wurde. Da sie von der nur noch auf dem Papier stehenden Regierung keine Antwort erhielten, blockierten Bedscha im Februar 2023 die wichtige Straße nach Port Sudan, dem Hafen am Roten Meer.

Derweil begann im äußersten Westen des Landes, in Darfur, die SAF angesichts der bevorstehenden Konfrontation mit der RSF Soldaten unter den Rizaiqat und speziell unter den mit dem Hemeti-Clan verfeindeten Clans zu rekrutieren. Am 16. November 2023 schließlich lehnte der sudanesische Vertreter bei den Vereinten Nationen den Vorschlag von UN-Generalsekretär António Guterres ab, eine strategische Bewertung der Unitams-Mission vorzunehmen. Das bedeutete das Ende des UN-Engagements.

Früher hatten sich SAF und RSF recht und schlecht geeinigt, den immer kleiner werdenden Kuchen einer fast völlig von der Goldförderung abhängigen Volkswirtschaft unter sich aufzuteilen. Gold war in den 2010er Jahren zum wichtigsten Exportgut des Landes geworden. 2022 wurden 18 627 Kilogramm gefördert, damit lag der Sudan unter den Goldproduzenten Afrikas an dritter Stelle.

Diese Zahl dürfte zu niedrig angesetzt sein, denn wegen der mangelhaften Erfassung vor Ort und der grassierenden Korruption sind die veröffentlichten Statistiken nicht besonders verlässlich. Der illegale Export des Ertrags der größten Minen liegt in den Händen der RSF.

Tatsache ist jedenfalls, dass einerseits die Goldförderung der weitaus wichtigste Wirtschaftsfaktor ist und andererseits die Fokussierung auf den Goldexport katastrophale Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hat.

Die Misswirtschaft und die Einkommenskonzentration in den Händen einiger weniger hat sich noch verschlimmert, seit der Südsudan 2011 unabhängig wurde, denn dort befinden sich die wichtigen Ölvorkommen. Der Goldabbau erfordert, im Gegensatz zur Ölförderung, keine aufwendige industrielle Infrastruktur. Das macht die Unterschlagung und den illegalen Handel viel leichter. So wurde im Sudan unter zunehmend chaotischen und unsicheren Verhältnissen der Großteil des Reichtums jenseits staatlicher Kontrolle generiert und gelangte direkt in die Hände der Militärs.

In dieser Situation musste sich am Ende jede ethnisch-politische Gruppe für eine der beiden militärischen Machtgruppen entscheiden, für die SAF oder die RSF. Im April 2023 kam es erstmals zum offenen Kampf zwischen beiden Armeen. Die „Schlacht um al-Dschunaina“ in West-Darfur endete mit 200 Toten und ebenso vielen Verwundeten. Die Bevölkerung der Stadt gehört mehrheitlich zur ethnischen Minderheit der Masalit, die mit den Arabern traditionell verfeindet sind.

Die Lage wurde noch komplizierter, als General al-Burhan, obwohl selbst kein Fundamentalist, islamistische hohe Beamte aus der Ära al-Bashir auf seine Seite zog, darunter einige, die er aus der Haft befreite. Möglicherweise setzt er angesichts seiner eigenen bürgerlichen Herkunft eher auf Extremisten aus guten Familien als auf Demonstranten, die er als „Gharraba“ (Abschaum aus dem Westen) denunziert. Im Lager Hemetis ist es genau umgekehrt: Es ist geeint durch die Feindseligkeit gegenüber den Kozan – ein abfälliger Begriff für die islamistischen Gegner.

Der gemeinsame Staatsstreich vom 25. Oktober 2021 hat zwar die demokratische Revolution gestoppt, aber die beiden Lager der Putschisten hatten dabei unterschiedliche Ziele im Auge. Für die reguläre SAF-Armee unter al-Burhan ging es um soziale und politische Anliegen: Ein Großteil der Armen und der Mittelschicht hatten nach der April-Revolution von 2019 nicht nur die Ausschaltung der Islamisten und al-Bashirs, sondern auch mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit erhofft – eine Art Sozialdemokratisierung des Landes.

Hemeti und seine hungrigen Kämpfer aus dem Westen des Landes, die von der herrschenden Schicht aus dem Niltal verachtet wurden, wollten hingegen das Machtmonopol brechen, das die arabische Herrschaftsschicht seit der Zeit der osmanischen Eroberung innehatte. Die Briten hatten dieses System fortgeführt, das dann seit der Unabhängigkeit von der militarisierten Bourgeoisie getragen wurde.

In der turbulenten Zeit nach dem Staatsstreich hatten SAF und RSF anfangs noch das gleiche Ziel: den Rest der Macht zu erhalten in einem Staat, dessen Zerfall auch für die wohlhabende Stadtbevölkerung zu spüren war. Die Auflösung der traditionellen Wirtschaft – landwirtschaftliche Produkte aus al-Dschazira, Gummi arabicum aus Kurdufan und Darfur, Groß- und Kleinvieh für den Export nach Saudi-Ara­bien – hatte das Land in eine tiefe soziale Krise gestürzt. Die Inflation erreichte Rekordhöhen: Von 81,6 Prozent im März 2020 stieg sie auf 143,8 Prozent im Juni, 204,3 Prozent im Januar 2021 und 422,8 Prozent im Juni 2022.8 Die Auslandsschulden, über 60 Mil­liarden Euro, wurden von der Weltbank und der EU zwischen 2020 und 2022 teilweise erlassen, ohne aber den wirtschaftlichen Niedergang auch nur im Geringsten zu bremsen.

Doch für Hemeti ist der Hauptfeind die islamistische „arabische Bourgeoisie“, die seit al-Bashirs Staatsstreich 1989 die Macht für sich gepachtet hatte. Zwar diente ihr Hemeti mit seiner Miliz sowohl in Darfur als auch im Jemen, aber das machte ihn nicht zu einem Teilhaber ihrer Macht; er blieb vielmehr ein Handlanger, der auch noch wegen seines Dialekts und seiner Herkunft verspottetet wurde.

Hemeti saß also in der Zwickmühle: In Khartum galt er als provinzieller Gharraba, in Darfur als der „Araber“, der als die „eiserne Hand Khartums“ die nichtarabischen Stämme unterdrückt. Mit der ihm eigenen Energie, Intelligenz und Skrupellosigkeit gelang es ihm, diesem Dilemma zu entkommen, indem er sich zum „König des Goldes“ machte – eines Goldes, das am Rande und teilweise jenseits der Legalität geschürft und verkauft wird.

Auf diese Weise erlangte der Ex-Söldner eine gewisse Autonomie. Er wird wegen seiner Gewalttätigkeit gefürchtet, von vielen aber auch bewundert, weil er sich über die bestehenden Hierarchien hinwegzusetzen vermochte. Um seine Legitimität zu betonen, traf er sich inzwischen mehrmals mit den wichtigsten Staatschefs Ostafrikas, darunter Yoweri Museveni aus Uganda und Abiy Ahmed aus Äthiopien.

All das erklärt das Gegeneinander zweier Lager, die irgendwann nichts mehr gemeinsam hatten außer ihrer Vorliebe für Kalaschnikows. Die Mehrheit der unbewaffneten Bevölkerung konnte den wachsenden Spannungen nur hilflos zusehen. Im Kampf der beiden Lager wird sie zunehmend aufgerieben, ohne jede Möglichkeit, sich zu schützen.

Zur inneren Dynamik kommen noch externe Einflüsse hinzu. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) treten in der Region paradoxerweise als verlängerter Arm Russlands auf, während Ägypten die Interessen der USA vertritt. Dabei galten die Vereinigten Arabischen Emirate in früheren, stabileren Zeiten stets als Werkzeug Washingtons im Nahen Osten. Ihr Aufstieg zu einem unabhängigeren Player begann in den frühen 2000er Jahren, als wichtigstes Ins­tru­ment diente ihr der Seetransport-­Konzern DP World, der 1999 in Dubai von der staatlichen emiratischen Investmentgesellschaft Dubai World gegründet wurde. DP World besitzt und betreibt inzwischen weltweit zahlreiche Häfen und Schifffahrtsgesellschaften.

Im Osten Afrikas begann der Einstieg der VAE mit Verträgen über den Bau und Betrieb der Häfen Berbera in Somaliland (2016) und Bosaso in Puntland (2017); später kamen Häfen im Senegal, in Angola und in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) dazu. Am 26. Oktober 2023 erwarb DP World für 250 Millionen Dollar die Betreiberlizenz für den Mehrzweckhafen von Daressalam in Tansania.

Diese Entwicklungen betreffen den Sudan insofern, als sie eine schrittweise Ausweitung der militärischen Beziehungen zwischen den Emiraten und Russland mit sich brachten. Moskau hatte schon in der Al-Bashir-Ära einen Militärstützpunkt in Port Sudan im Visier. Im Frühjahr 2021 entluden russische Schiffe – die chaotischen Zustände in Khartum nutzend – militärische Güter auf der Flamingo-Basis der praktisch inexistenten sudanesischen Marine. Das blieb den USA nicht verborgen, woraufhin al-Burhan am 29. April 2021 den Russen die Räumung des Stützpunkts befahl.

Auch die Emirate, die die Übernahme des Hafens von Port Sudan anstrebten, blieben nicht untätig. Als sich der Bürgerkrieg im April 2023 aufs ganze Land auszuweiten begann, beschloss Abu Dhabi, sich stärker im Sudan zu engagieren und dabei mit der russischen Wagner-Gruppe zusammenzuarbeiten.

Die Söldnertruppe lieferte über ihre Einheiten in der Zentralafrikanischen Republik von den VAE bezahlte Waffen an die RSF. Das war wegen der Konflikte zwischen den verschiedenen Rizaiqat-Clans gar nicht einfach. Mehrere Transportkonvois wurden auf dem Weg zwischen Bangui und Darfur überfallen, die erbeuteten Waffen an den Meistbietenden verkauft.

Seit dem Tod von Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin sind die Dinge noch komplizierter geworden. Da der Kreml seine Milizen in Afrika zu reorganisieren begann, konkurrieren heute zwei russische Gruppen um die Belieferung der RSF mit Waffen. Immerhin könnte die im Dezember von Moskau angekündigte Gründung eines Afrikakorps für eine Vereinheitlichung sorgen.

Die VAE wiederum reagierten auf die finanziellen und logistischen Unsicherheiten, indem sie die Hilfe des libyschen Marschalls Chalifa Haftar in Anspruch nahmen. Dieser verhandelte direkt mit Moskau und organisierte für die Russen – und die Geldgeber aus den Emiraten – eine Luftbrücke zwischen Bengasi und Nordwest-Darfur, wo eigens behelfsmäßige Flugplätze gebaut wurden. Zusätzlich ließen die libyschen Verbündeten ihre Waffen per Fallschirm abwerfen.

Die SAF wiederum, die seit ihrem Rückzug aus dem verwüsteten Khartum ihr Hauptquartier in Port Sudan hat, bekommt ihren Waffennachschub aus Ägypten auf dem Meeresweg. Zudem wird sie von der ägyptischen Luftwaffe unterstützt, wie bei der Bombardierung der Schambat-Brücke über den Nil in Khartum im August 2023.

Die riesigen Mengen an Waffen und Munition, die den Kriegsparteien zur Verfügung stehen, scheinen die internationale Gemeinschaft nicht sonderlich zu beunruhigen. Jedenfalls wurde bislang kein Lieferembargo verhängt. Lediglich der Rat der Europäischen Union beschloss am 22. Januar 2024 Sank­tionen gegen sechs sudanesische Unternehmen, die beschuldigt werden, eine der beiden Kriegsparteien zu unterstützen. Die auf beide Parteien zielenden Maßnahmen blieben, wenig überraschend, weitgehend wirkungslos.

Der Sudan versinkt offenbar unaufhaltsam im Chaos. Bevor fast alle Apotheken geschlossen wurden, waren die Preise für Medikamente um bis zu 600 Prozent gestiegen. Angesichts der Massaker und der allgemeinen Zerstörung stellt sich die Frage, ob der Sudan als Staat überhaupt noch existiert.

In Dschidda, wo seit Mai 2023 geisterhafte Friedensgespräche stattfinden, tun beide Kriegsparteien so, als würden sie an dessen Existenz noch glauben. Denn der offizielle Untergang des Staats könnte die ganze Region in ein ­Chaos stürzen, das nach schlimmer werden könnte als das in Somalia nach der Implosion des Staats in den 1990er Jahren. Damals haben die Vereinten Nationen schlichtweg die Realität verleugnet, indem sie eine Regierung in Mogadischu anerkannten, deren Autorität kaum über die Hauptstadtregion hinausreichte.

Für den Fall, dass der sudanesische Staat endgültig zusammenbricht, sind die Aussichten denkbar schlecht. Das gesamte Horn von Afrika befindet sich heute in einem Zustand fortgeschrittener Zerrüttung. Es ist bezeichnend für die tragische Lage, dass Äthiopien noch als das stabilstes Land der Region erscheint. Und das, obwohl es von internen Konflikten zerrissen ist9 und überdies mit seinen Nachbarn Ägypten und Somalia über gewisse Staudamm- und Hafenprojekte im Streit liegt.

1 Siehe Anne-Cécile Robert, „Afrikanische Grenzfragen“, LMd, Dezember 2012.

2 Die Zeit von 1821 bis 1885 ist im Sudan noch heute als „al-Turkiyya“, die Zeit der Türken, bekannt.

3 Siehe Georg Brunold, „Das Erdenrund ein Gottesstaat. Im 19. Jahrhundert begründete der Mahdi im Sudan den modernen politischen Islam“, LMd, Mai 2008.

4 Vgl. Anne-Felicitas Görtz, „Wie der Südsudan nach Magwi kam“, LMd, August 2011.

5 Vgl. Alex de Waal, „Wie die Fur zu Afrikanern wurden“, LMd, September 2004, monde-diplomatique.de/artikel/!701085.

6 Siehe Charlotte Wiedemann, „Das Haus von Fathiya“. LMd, April 2020.

7 Siehe Gwenaëlle Lenoir, „Sudan – Flickwerk für den Frieden“, LMd, März 2023.

8 Moutiou Adjibi Nourou, „Soudan: la transition visée par une tentative de coup d’État attribuée à des partisans d’Omar el-Béchir“, Agence ecoFin, Genf, 22. September 2021.

9 Siehe Laura-Maï Gaveriaux und Noé Hochet-Bodin, „Wer kämpft in Tigray?“, LMd, Juli 2021.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Gérard Prunier ist unabhängiger Berater.

Le Monde diplomatique vom 07.03.2024, von Gérard Prunier