07.07.2022

Grüne Musik

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Grüne Musik

Kann die Unterhaltungsindustrie klimaneutral werden?

von Éric Delhaye

Fahrräder zur Stromerzeugung auf einem Coldplay-Konzert im Mai 2022 RICK SCUTERI/picture alliance/Invision/AP
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Das neue Coldplay-Album „Music of the Spheres“ klingt eher uninspiriert, dafür sorgt die britische Band in einem nichtmusikalischen Bereich für Aufmerksamkeit. 2019 verkündeten Coldplay, sie wollten in Zukunft auf Welttourneen verzichten, um ihren CO2-Ausstoß zu verringern. Seitdem ist eine breite Debatte über die Schäden entbrannt, die die Musikindustrie der Umwelt zufügt.

Die Tour-Abstinenz von Coldplay hielt nicht lange an. Dieses Jahr sind sie erneut auf Welttournee – allerdings „so nachhaltig wie möglich“: Für jedes verkaufte Ticket wird ein Baum gepflanzt; den Strom für die Konzerte erzeugen Solaranlagen und die Fans selbst, indem sie auf einem Teppich herumhüpfen, der die Bewegungsenergie aufnimmt, oder auf Fahrrädern in die Pedale treten. Die Scheinwerfer sind energiesparend, die Leuchtarmbänder wiederverwendbar, das Konfetti ist biologisch abbaubar; die Bühne ist aus recycelbarem Material gebaut. Zuschauer erhalten eine Prämie, wenn sie mit geringem CO2-Ausstoß angereist sind. Das Essen ist bio und zertifiziert; 10 Prozent der Einnahmen gehen an Umwelt-NGOs.

Aber „trotz aller Anstrengungen“, schreiben Coldplay auf ihrer Website, „hinterlässt unsere Tour einen erheblichen CO2-Fußabdruck“. Schon allein die Existenz der Band hat negative Folgen für die Umwelt, denn auch die zu Hause gebliebenen Fans – im Pariser Stade de France kostet ein Tribünenplatz im „Carré Or“ 139 Euro und auf dem Rasen 78,50 Euro – hören ihre Songs über energieintensive Streaming-Plattformen. Industrien verschmutzen eben die Umwelt, und die Musikindustrie – egal ob mit Livemusik oder aus der Konserve – macht da keine Ausnahme.

Aber „Coldplay tun fast alles, was man als Band tun kann“, erklärt Samuel Laval. Der Umweltingenieur ist Forschungsbeauftragter bei Climate Change, einer Organisation aus nichtstaatlichen Akteuren, die gegen die Klima­erhitzung kämpfen, sich allerdings auch mit Finanzpartnern wie BNP Paribas, Michelin und Schneider Electric einlässt. Laval ist außerdem Mitglied der französischen Sektion von Music Declares Emergency (MDE) und ist der Auffassung, dass Welttourneen und Großfestivals „mit dem 2-Grad-Ziel nicht vereinbar sind“.

Die 2019 in Großbritannien gegründete Organisation MDE vereinigt eine ganze Reihe sehr aktiver kleiner Musik­labels (Warp, Ninja Tune) und auch einige weniger aktive Majorlabels (Warner, Sony, Universal). Um die Staaten dazu zu bringen, den „Klimanotstand“ auszurufen, stützt sich MDE vor allem auf berühmte Mu­si­ke­r:in­nen wie Billie Eilish, Brian Eno, Radiohead et cetera.

In Frankreich trugen Emily Loi­zeau, Fakear, Rone und Manu le Malin T-Shirts mit dem Slogan „No music on a dead planet“ (Keine Musik auf einem toten Planeten), die in La Rochelle aus Biobaumwolle produziert worden waren. MDE unterstützt den Music Climate Pact, eine im Dezember 2021 von den genannten Major- und den großen Labels unterschriebene Ini­tia­tive, die die Musikbranche bis 2050 CO2-neu­tral machen will.

Die TripHop-Band Massive Attack aus Bristol hat sich mit dem Tyndall Centre for Climate Change Research, einer Vereinigung aus Wissenschaftlerinnen und Ökonomen, zusammengetan, um einen Plan für mehr Nachhaltigkeit in der Branche zu erarbeiten. Der sieht zum Beispiel die Anreise im Elektrofahrzeug vor und den Verzicht auf Privatjets und Dieselgeneratoren bei Festivals.1

Der französische Jazzmusiker Paul Jarret sagte sogar seine Indien-Tour ab: „Ich frage mich immer häufiger, ob es legitim ist, unseren ökologischen Fußabdruck so stark zu vergrößern, um am anderen Ende der Welt unsere Musik zu spielen“, schrieb er im September 2021 auf Facebook. Ebenfalls auf Face­book hatte Leïla Martial die Gruppe „Pour une écologie de la musique vivante“ (Für eine Ökologie der lebendigen Musik) gegründet.

In ihrem Manifest vom Juni 2020 brachte die Gruppe das Dilemma auf den Punkt: „So wie es heute im globalisierten Kulturbetrieb läuft, versinkt man mit jeder Sprosse, die man auf der Erfolgsleiter nach oben klettert, tiefer in einem energiefressenden Wettlauf. Wer seine Mobilität aus Umweltschutzgründen einschränkt, riskiert sich beruflich unsichtbar zu machen.“ Zurzeit befindet sich das Kollektiv allerdings im Stand-by-Modus, weil die Mitglieder von ihrer künstlerischen Arbeit in Beschlag genommen werden.

In der Branche existieren noch zahlreiche weitere Initiativen, etwa die Plattform Cadence Rompue. Sie wird von tausenden vornehmlich aus der Klassik kommenden Un­ter­zeich­ne­r:in­nen getragen und setzt sich dafür ein, dass die umweltschädlichen Konzert- oder Lesereisen reduziert und mehr lokale Projekte realisiert werden.

Denkt man die Logik dieser Initiativen zu Ende, dürfte in Zukunft kein Musiker mehr von weit her anreisen, um eine Sängerin zu begleiten; Proben müssten vorzugsweise über Zoom stattfinden und Konzerte nur noch über Streaming-Plattformen. Darüber hinaus ist sehr zu bezweifeln, dass alle Ak­teu­r:in­nen die gleiche Motivation und die gleichen Möglichkeiten haben, sich zu engagieren. Die Interessen sind sehr verschieden und mitunter gegensätzlich, je nachdem, ob es sich um einen Kleinkünstler handelt, der pro Veranstaltung bezahlt wird, oder um einen internationalen Popstar, um ein Konzert in einem Café oder in einem Stadion, ein Independent- oder ein Majorlabel.

Zudem ist es für viele Künstlerinnen, Produzenten und Technikerinnen, die durch die Coronakrise in eine prekäre Lage geraten sind, erst einmal das Wichtigste, überhaupt wieder zu arbeiten. Für eine Musikerin, die von einer kleinen Tournee leben muss, oder den Betreiber eines Konzertsaals, der in den vergangenen zwei Jahren kaum Veranstaltungen durchführen konnte, sind solche Klimaschutzerwägungen nicht gerade vordringlich.

Die Spannungen, Widersprüche und Grenzen des Projekts „Nachhaltige Musikindustrie“ zeigen sich besonders im Festivalbereich, der häufig verdächtigt wird, Greenwashing zu betreiben. Das Festival „We Love Green“ in Paris – 2019 kamen 80 000 Zuschauer und die diesjährige Ausgabe wurde von zwei auf drei Tage verlängert – brüstet sich damit, zu 100 Prozent erneuerbare Energien zu nutzen.

Der Müll wird recycelt, Einwegplastik ist tabu, für den Bühnenbau werden nur wiederverwendbare Materialien verwendet, und man setzt auf umweltfreundliche Verkehrsmittel. Das Publikum ist eingeladen, an den Konferenzen des festivaleigenen Thinktanks teilzunehmen. Allerdings wird die Veranstaltung nicht nur von staatlichen Einrichtungen bezuschusst, sondern auch von privaten Geldgebern wie Crédit Mutuel, Back Market, Uber Green, Tinder oder Levi’s. Hinzu kommen die „großen Mäzene“, der Luxuskonzern Kering und das Versicherungsunternehmen Malakoff Humanis.

Es fällt auf, dass sich die großen Festivals, die zwei Jahre nicht stattfinden konnten, 2022 mit ihren Programmen überbieten (mehr internationale Künstler, mehr Festivaltage), was sich kaum mit der geforderten ökologischen Verantwortung verträgt. „Das ist die Schizophrenie der Veranstalter, die die Umweltbelastungen reduzieren möchten, aber gleichzeitig ihr Angebot erweitern wollen, um auf dem Markt bestehen zu können“, sagt Jean Perrissin, der Nachhaltigkeitsbeauftragte des Festivals „Cabaret Vert“. Das Festival in Charleville-Mézières unweit der belgischen Grenze zählte 2019 rund 100 000 Besucher. Das diesjährige Programm wurde von vier auf fünf Tage verlängert.

„Cabaret Vert“ war das erste Festival in Frankreich, das sich den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben hat. Es beschränkt sein Engagement nicht auf die Verwendung von Mehrwegbechern (deren ökologischer Effekt ohnehin vernachlässigbar ist, weil die Trinkbecher lediglich 2 Prozent des Abfalls auf einem Festival ausmachen). Das Bier ist lokal und das Essen zur Hälfte vegan. Aber die größte Herausforderung, die Frage, wie Künstlerinnen und Gäste anreisen, liegt nicht in den Händen der Veranstalter, sondern der politischen Entscheidungsträger (Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, Fahrradwege, grüner Kraftstoff et cetera).

Die französische Denkfabrik The Shift Project, die von dem Klima- und Energieexperten Jean-Marc Jancovici mitbegründete wurde, legt den Fokus ebenfalls auf die Fahrtwege. Das Projekt, das unter anderem von der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF, der vorwiegend staatlichen Elektrizitätsgesellschaft EDF und Großunternehmen wie Bouygues, Vinci, Thalys, Enedis finanziert wird, veröffentlichte im Mai 2021 einem Bericht unter dem Titel „Décarbonons la culture!“ (Dekarbonisieren wir die Kultur!). Darin rechnen die Experten vor, dass bei einem Festival wie „Les Vieilles Charrues“ mit 280 000 Besuchern an vier Tagen rund 13 000 Tonnen CO2 produziert werden. 62,5 Prozent davon entfallen allein auf die 3 Prozent der Besucher, die mit dem Flugzeug anreisen.

Der Bericht kritisiert zudem, dass die Stars in der Musikbranche häufig vertraglich verpflichtet sind, nicht mehrmals in zeitlich enger Folge in derselben Region aufzutreten. Die Lösungen von The Shift Project lauten: Relokalisierung, Verlangsamung, Bündelung der Tourneen, kleinere Events und Beschränkung der zu Werbezwecken online gestellten Datenmengen.

Auch beim staatlichen Centre national de la musique (CNM), das dem Kulturministerium unterstellt ist, hat man sich mit dem Thema beschäftigt und Arbeitsgruppen eingerichtet, in denen über die Nachhaltigkeit bei Veranstaltungen, in der Produktion und im Vertrieb von Tonträgern sinniert wurde. In ihrem Fazit erklärten sie sich „ratlos angesichts der widersprüchlichen Forderungen an die Musikindustrie: einerseits ihre Praktiken zu verändern und sich andererseits in einem globalen Wettbewerbssystem wirtschaftlich zu entwickeln“.

Im Dezember 2021 legte das französische Kulturministerium schließlich eine Charta für nachhaltige Entwicklung im Festivalsektor vor. Zudem knüpfte es 10 Millionen Euro zusätzliche Finanzmittel an die Einhaltung ökologischer Standards. Auch soll sich die Musikindustrie zu einem „besseren Zusammenzuleben“ verpflichten – was immer das heißen mag – und den Künstlern „eine angemessene Vergütung“ zahlen.

Dringende Beschränkungen erfordert offensichtlich auch das Streaming, das in den letzten zehn Jahren explodiert ist.2 „Es ist die Quadratur des Kreises“, sagt Cécile Bernier, die Leiterin des Musikverlags Budde Music France: „Das Streaming schien eine umweltverträgliche Lösung für den Überkonsum in der physischen Welt zu sein, aber es zeigt sich, dass es auch hier Probleme gibt.“

Studien zufolge hat die Plattenindustrie in den USA 1977, auf dem Höhepunkt des Vinylzeitalters, 58 000 Tonnen Plastik verschlungen, 2016 waren es nur 8000. Bei der CO2-Bilanz sieht es jedoch anders aus: Streamt man ein Album fünf Stunden oder länger, ist die Klimabilanz schlechter, als wenn man die Musik von CD abspielt (bei einer Vinylplatte sind es 17 Stunden).3 Zwischen Januar und November 2021 sollen die Streams des Hits „Drivers Licence“ von Olivia Rodrigo auf Spotify 4180 Tonnen CO2 emittiert haben. Zum Vergleich: In Frankreich werden pro Person um die 10 Tonnen pro Jahr ausgestoßen.

An der Beteuerung guter Absichten fehlt es nicht. In einer Branche, in der die Kreativität seit den 1960er Jahren immer mehr der Logik des Profits unterworfen ist, häufen sich allerdings auch die Widersprüche. Ein schönes Beispiel ist der größte internationale Konzertveranstalter Live Nation: Im April 2021 verkündete das börsennotierte Unternehmen ein Programm, die Umweltbelastungen bei Konzerten zu reduzieren. Gleichzeitig betonte man seinen hegemonialen Anspruch in der Branche – pro Saison wolle man 40 000 Konzerte und an die 100 Festivals veranstalten.

1 „Super-Low Carbon Live Music. A roadmap for the UK live music sector to play its part in tackling the climate crisis“, Tyndall Centre for Climate Change Research, Juni 2021.

2 Laut der Studie „Music Engagement 2021“ der IFPI (Fédération internationale de l’industrie phonographique) machen der Verkauf von CDs, Vinylplatten, DVDs und Downloads 9 Prozent des weltweiten Musikkonsums aus, Streaming-Abos (Spotify, Apple Music, Deezer etc.) 23 Prozent und Videostreaming (Youtube) 22 Prozent.

3 Vgl. Matt Brennan und Kyle Devine, „The cost of music“, in: Popular Music, 2020; sowie Ellen Peirson-Hagger und Katharine Swindells, „How environmentally damaging is music streaming?“, The New Statesman, 5. November 2021.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Éric Delhaye ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Éric Delhaye