11.06.2020

Zwei Wege in den Kapitalismus

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Zwei Wege in den Kapitalismus

Polen, Slowenien und die Marktwirtschaft

von Julien Vercueil

Audun Alvestad, Love Triangle, 2018, Acryl auf Leinwand, 160 x 140 cm
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Auf den ersten Blick ist der ökonomische Erfolg unbestreitbar, den die beiden so ungleichen EU-Länder – jedenfalls bis zur Coronakrise – verzeichnen können. Das Durchschnittseinkommen in Polen ist seit 1989 kaufkraftbereinigt auf das Zweieinhalbfache gestiegen, in Slowenien hat es sich seit 1992 verdoppelt. Für den Wandel in Mittel- und ­Osteuropa, der auf den Fall der Berliner Mauer folgte, spielte die Europäische Union zunächst als politisches Vorbild, später als wirtschaftlicher und juristischer Schirmherr eine entscheidende Rolle.

Damit stellt sich die Frage, ob und wie weit die unterschiedlichen Wege, die Polen und Slowenien nach dem EU-Beitritt eingeschlagen haben, dazu beigetragen haben, die beiden peripheren Länder voll in das europäische Wirtschafts- und Handelssystems zu integrieren. Kann man also aus Sicht der Bevölkerung von einem ähnlichen Erfolg sprechen, wie ihn Italien, Spanien und Portugal in den 1970er und 1980er Jahren und danach auch Irland erlebt haben?

Um den Kurs nach dem Zerfall des Ostblocks zu verstehen, muss man ihn in das geistige und gesellschaftliche Klima jener Zeit einordnen. Die Ablehnung des „real existierenden Sozialismus“ wurde erst durch den Umbau (Perestroika) ermöglicht und gefördert, den Michail Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU von 1986 bis 1991, eingeleitet hatte. Der große sowjetische Bruder war weder bereit noch in der Lage, den Mitgliedern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), also des ökonomischen Ostblocks, gewaltsam seinen Willen aufzuzwingen.

Das ökonomische Scheitern der Perestroika gab allenthalben auch der Forderung nach weitgehendem Wandel Auftrieb, insofern den Menschen vor Augen geführt wurde, dass nur halbherzige Reformen katastrophale Folgen haben und die wirtschaftliche und soziale Situation nur verschlimmern. Hinzu kamen finanzielle Probleme: Mit Ausnahme von Rumänien waren die Staaten Mittel- und Osteuropas gegenüber dem Ausland hoch verschuldet, und zwar in Dollar. Die Regierungen waren also auf Dollarhilfen angewiesen und entsprechend empfänglich für die Argumente der westlichen Geldgeber und Berater.

Die Ökonomen, die damals beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei den westlichen Politikern hohes Ansehen genossen (die bekanntesten waren Olivier Blanchard und Jeffrey Sachs), ließen sich von den Strukturanpassungsprogrammen inspirieren, die IWF und Weltbank für Lateinamerika und Afrika entwickelt hatten. An der Übertragbarkeit dieser Konzepte hatten sie keine Zweifel: „Die Essenz des Standardpakets lässt sich ebenso auf Osteuropa anwenden.“1

Das „Standardpaket“ bestand aus drei Elementen: „Liberalisierung“ der Unternehmertätigkeit, der Preise und des Außenhandels; Stabilisierung der Staatsfinanzen, der Währung und des Wechselkurses; Umstrukturierung des Staates, der sozialen Sicherungssysteme und der Dienstleistungen mittels Privatisierung. Die entscheidende Frage lautete allerdings, auf welche Weise und in welcher Kombination die einzelnen Transformationsschritte umzusetzen seien.

In dieser Frage gab es bei den Experten zwei Lager: einerseits die „Gradualisten“, die auf einer bestimmten Abfolge und einer schrittweisen Umsetzung der Reformen bestanden, und zwar in Regie des Staats; andererseits die Radikalen, die an allen Fronten gleichzeitig und so schnell wie möglich vorangehen wollten.

In Polen setzte sich sehr schnell die „Schocktherapie“ durch. Ihre Anhänger forderten eine synchrone Transformation auf allen Ebenen, mit der Begründung, dass sich die Reformen wechselseitig bedingen. Hinzu kam ein politisches Argument: Man müsse die Enttäuschung über das frühere System ausnutzen und die Transformation in der kurzen Zeit, in dem die Bevölkerung radikale Reformen verlangen, so schnell und so weit wie möglich vorantreiben, bevor die allgemeine Unzufriedenheit einsetze. Eine radikale Umsetzungsstrategie sei auch für den Erfolg der anstehenden Demokratisierung entscheidend, denn nur sofortige Resultate könnten dafür sorgen, dass die direkten Nutznießer (neue Aktionäre, Geschäftsleute, Unternehmer, Angestellte im Privatsektor) schnell und auf Dauer zu einer Wählermehrheit würden.

In Slowenien hingegen entschied sich die Regierung nach der Unabhängigkeit 1991 für einen graduellen Ansatz. Die Wirtschaftspolitik konnte an das besondere institutionelle Erbe eines dezentralisierten Sozialismus anknüpfen, der in Ex-Jugoslawien durch die Kombination aus Arbeiterselbstverwaltung und Marktwirtschaft geprägt war. Man konnte also auf Reformen aufbauen, die man bereits Anfang der 1980er Jahre eingeleitet hatte.

Der Erhalt eines bedeutenden staatlichen Sektors sollte den innergesellschaftlichen Konsens absichern und das Lebensniveau aufrechterhalten, das damals bereits das höchste von allen Transformationsländern war. Diese Strategie sollte auch den Anstieg der Arbeitslosigkeit eindämmen und verhindern, dass staatliche Vermögenswerte an ausländische Unternehmen verschleudert werden. Bestärkt wurden die Slowenen durch die ersten Auswirkungen der Schocktherapie, die in Polen zu beobachten waren.2

1990 wurde Polen, das vom IWF bereits 1989 gute Noten erhalten hatte, ein einzigartiges Privileg gewährt: Der Pariser Club, der die größten staatlichen Gläubiger vereint, strich dem Land die Hälfte seiner Auslandsschulden. 1994 beschloss auch der Londoner Club, in dem die privaten Gläubiger zusammengeschlossen sind, einen „haircut“ der polnischen Schulden um 50 Prozent.

Slowenien hatte zwar bessere Ausgangsbedingungen als Polen, befolgte aber nicht blindlings die westlichen Rezepte. Vielmehr schlug man einen vorsichtigen Kurs ein, der vor allem die soziale und ökonomische Stabilität sichern sollte. Im Zeitraum 1993 bis 1999 wuchs die Wirtschaft nicht so schnell wie in Polen (4,6 Prozent gegenüber 5,6 Prozent im Jahresdurchschnitt), aber dafür lag die Arbeitslosigkeit nur halb so hoch.

Bei der Umsetzung der Reformen waren zwar beide Länder zur Einhaltung der EU-Beitrittskriterien verpflichtet, behielten aber einen gewissen Handlungsspielraum. So hat man in Warschau wie in Ljubljana einen Teil der Privatisierungen aufgeschoben, teils aus Angst vor einem Totalausverkauf der Staatsbetriebe, teils wegen des Drucks der Gewerkschaften. Das brachte beiden Ländern die Schelte des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission ein.

In Polen hatte Finanzminister Leszek Balcerowicz seine Schocktherapie 1990 und 1991 mit der Inbrunst eines Konvertiten durchgezogen. Doch als die Arbeitslosenzahlen explodierten und die Armut dramatisch zunahm, während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) einbrach, servierten die Wähler die Ultraliberalen ab. Die Parlamentswahlen vom September 1993 brachten eine Koalition aus postkommunistischen Sozialdemokraten und der postkommunistischen Bauernpartei an die Macht. Zwischen 1994 und 1997 vollzog der neue Finanzminister Grzegorz Ko­łod­ko einen deutlichen Richtungswechsel, der die polnische Transformationsstrategie „gradualistischer“ machte. Er suspendierte die orthodoxe Haushaltsdisziplin und brachte die Wirtschaft trotz der Streichung der IWF-Zuschüsse auf Wachstumskurs. Dadurch kam der Wirtschaftsaufschwung in Polen früher und stärker als anderswo.3

Slowenien setzte derweil seine vorsichtige Transformationspolitik fort und hielt an seinen Vorbehalten gegenüber dem IWF und seinen fiskalischen Empfehlungen fest. Das galt auch für einige „Strukturreformen“ etwa in Sachen Arbeitslosenhilfe, Einführung der Mehrwertsteuer oder Öffnung für ausländisches Kapital. So konnten westliche Banken erst Ende der 1990er Jahre in Slowenien Fuß fassen, nachdem die EU Druck gemacht hatte. Und der Privatsektor erwirtschaftete 1998 nur 55 Prozent des slowenischen BIPs, was im regionalen Vergleich wenig war.

In Reaktion auf die Beitrittswünsche in Mittel- und Osteuropa konnte die EU die Reichweite ihres „acquis communautaire“ nach Osten ausdehnen: Nur wenn die Kandidatenländer die im „gemeinschaftlichen Besitzstand“ festgeschriebenen Kriterien erfüllten, gab es die begehrten Finanzhilfen aus Brüssel. Zum 1. Mai 2004 wurden Polen und Slowenien in die EU aufgenommen, zusammen mit Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Zypern, Malta und den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.

Nach dem Beitritt stiegen die EU-Transferleistungen. Polen erhielt in den ersten drei Jahren Gelder in Höhe von 1,24 Prozent seines BIPs, von 2007 bis 2013 sogar in Höhe von 2 Prozent. Slowenien erhielt jährlich 1,2 Prozent des BIPs. Polen bezog insgesamt 66,7 Milliarden Euro, Slowenien mit einer weit geringeren Bevölkerung und einem höheren Durchschnittseinkommen 4 Milliarden Euro.

Diese beträchtlichen ­Subventionen konnten die sozialen Folgen der massiven Umstrukturierung jedoch nur abmildern. Polen verlor zwischen 1991 und 2003 1,5 Millionen und damit 23 Prozent seiner industriellen Arbeitsplätze. In Polen, aber auch im Norden Sloweniens wurden zahlreiche Kombinate stillgelegt oder umgerüstet. Die berühmten Werften in Gdansk hatten 1989 18 000 Mitarbeiter. Heute sind es noch 200.

Ab der zweiten Hälfte der 2000er Jahre legte das Wirtschaftswachstum dank der EU-Förderung zu. Polen und Slowenien blieben die Galionsfiguren der EU-Erweiterung. Aber das Umfeld änderte sich. Unter dem Druck des Westens brachen die Dämme gegen das Eindringen von ausländischem Kapital. Der Banken- und der Produktionssektor gerieten unter die Dominanz westlicher Unternehmen. Die internationale Finanzkrise von 2008 war ein Wendepunkt. Die kleinere und offenere Wirtschaft Sloweniens wurde durch den Rückgang des internationalen Handels härter getroffen. Das Pro-Kopf-Einkommen von 2008 wurde erst 2017 wieder erreicht. Da Slowenien 2007 auch der Eurozone beigetreten war, ließ sich die Krise nicht mehr mit Hilfe des Wechselkurses abfedern. Polen dagegen vertagte die Euroeinführung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag und ließ den Złoty abstürzen. Auch deshalb hat die europaweite Rezession das polnische Wachstum weit weniger verlangsamt.

Die Finanzmarktkrise hat offenbar gemacht, wie verwundbar die einzelnen Volkswirtschaften durch die internationalen Kapitalbewegungen sind. Ein wesentlicher Grund dafür waren fehlende private Ersparnisse. Die Einkommen in Mittel- und Osteuropa waren ungefähr halb so hoch wie im westeuropäischen Durchschnitt. Deshalb fehlte es den Ländern an inländischem Kapital, um den gewaltigen Investitionsbedarf in Infrastrukturen und Produktionsanlagen zu finanzieren. Um ausländische Investoren anzuziehen, boten sie höhere Zinsen als der Westen, froren die Lohnkosten auf Niedrigstniveau ein und setzten zugleich auf ein starkes Wirtschaftswachstum. Das sollte hohe Profite garantieren, von denen ein Teil in die Länder der Investoren zurückfloss.

Damit entbrannte zwischen den Ländern und einzelnen Regionen ein Wettbewerb um westliches Kapital. Der ständig wachsende Anteil westlicher multinationaler Unternehmen bedeutete die Transformation dieser mittel- und osteuropäischen Länder in „abhängige Marktwirtschaften“.4 Der Begriff beschreibt eine Realität, in der die regionalen Tochterunternehmen großer Konzerne an strategischen Entscheidungen nicht beteiligt sind, ein Technologietransfer kaum stattfindet, das Ausbildungsniveau der Belegschaft niedrig bleibt und die meisten Tätigkeiten mit hoher Wertschöpfung an den westlichen Standorten verbleiben.

Die Unzufriedenheit und die neue Abhängigkeit vom Westen, der Anweisungen (und Lektionen) erteilte, wurden zum Nährboden für politischen Paternalismus, ausländerfeindliche Auswüchse und Euroskepsis. Die ärmeren Schichten wandten sich umso schneller von den wirtschaftsliberalen Bewegungen ab, als die konservativen Parteien auf die Karte der Sozialpolitik setzten. In Polen konnte die Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) ihre Basis konsolidieren, indem sie sich um die Ärmsten der Gesellschaft kümmert. Ein großzügiges Kindergeld und das Versprechen einer Mindestlohnerhöhung verhalfen der PiS zu ihrem Wahlerfolg im Oktober 2019.

Polen ist das Land, das die meisten EU-Hilfen erhalten hat (86 Mil­liar­den Euro zwischen 2014 und 2020), aber ­zugleich verstößt die polnische Regierung laufend gegen Prinzipien der ­Union wie die Gewaltenteilung oder den Schutz von Minderheiten. Sie scheut sich auch nicht, in geo- oder umweltpolitischen Fragen eher die USA als die EU zu unterstützen.

In Slowenien ist der Nationalismus zwar nicht so tief verwurzelt, aber auch hier bekommt die rechtskonservative Slowenische Demokratische Partei (SDS) immer mehr Zulauf. Das zeigte sich bei den Parlamentswahlen von 2018 und bei der Europawahl von 2019, als SDS-Chef Janez Janša seine Partei mit der Übernahme der ausländerfeindlichen Rhetorik seines ungarischen Freundes Viktor Orbán zur stärksten Kraft machen konnte. Am 13. März 2020 wurde Janša mit Hilfe kleinerer Koalitionspartner zum dritten Mal slowenischer Ministerpräsident.

1 Olivier Blanchard, Rudiger Dornbusch, Paul Krugman, Richard Layard und Lawrence Summers, „Reform in Eastern Europe“, Cambridge (MIT Press) 1991.

2 Siehe Mojmir Mrak, Matija Rojec und Carlos Silva-Jáuregui, „Slovenia, From Yugoslavia to the European Union“, Weltbank, Washington, D. C., 2004.

3 Siehe die scharfe Kritik am Neoliberalismus in: Grzegorz W. Kolodko, „Truth, Errors and Lies“, New York (Columbia University Press) 2011.

4 So Andreas Nölke und Arjan Vliegenthart, „Enlarging the varieties of capitalism: The emergence of dependent market economies in east central Europe“, World Politics, Bd. 61, Nr. 4, Cambridge (University Press), Oktober 2009. Siehe auch Ana Podvršic und Lukas Schmidt, „From crisis to crisis. Behind the scenes of peripherisation and europeanisation of Slovenia“, Revue de la régulation, Nr. 24, Paris, Herbst 2018.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Julien Vercueil ist Professor für Wirtschaftswissenschaften, Vizepräsident des Institut national des langues et civilisations orientales und stellvertretender Chef­redakteur der Revue de la régulation.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Julien Vercueil