13.06.2019

Die Unverdrossenen

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Die Unverdrossenen

Kurze Geschichte der Demokratischen

von Bhaskar Sunkara

Sozialisten von Amerika

von Bhaskar Sunkara

Der Sozialist Eugene Debs spricht vor Eisenbahnarbeitern Heritage Images/Historica Graphica Collection/akg
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Wann eigentlich sind alle Sozialisten geworden?“, fragte kürzlich eine Titelzeile der Zeitschrift New York. Offenbar finden es viele junge US-Amerikaner „total sexy“, sich Sozialisten zu nennen.1 Seltsam ist das schon. In den letzten fünfzig Jahren musste man in den Vereinigten Staaten schon Masochist sein, ums sich als Sozialist auszugeben. Man erntete bestenfalls Hohn und Spott und war automatisch politischer Außenseiter.

Ich selbst schloss mich 2007 als Teenager den Democratic Socialists of America (DSA) an. Damals waren sie die größte derartige Organisation im Land. Sie gehörte seit 1982 zur Sozialistischen Internationale, die sie 2017 verließ, weil sie deren sozialdemokratische Orientierung nicht teilte.

Im mächtigsten kapitalistischen Land der Welt mit einer Bevölkerung von über 300 Millionen hatte unsere sozialistische „Bewegung“ dürftige 5000 Mitglieder. Zu den Treffen auf lokaler Ebene, in Privatwohnungen oder in von den Kommunen überlassenen Räumen, kamen meistens nicht einmal ein Dutzend Leute. Manche jung wie ich, die meisten über sechzig. Die Generation dazwischen: Fehlanzeige.

Wir lernten die „Internationale“ singen und lauschten den Erzählungen von Altlinken und Veteranen der Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre.2 Kurzum, wir hielten die alte Sprache und den alten Kampf am Leben, aber politisch waren wir irrelevant. Als ich eines Sommers in der New Yorker Parteizentrale arbeitete, hatten wir nicht einmal das Geld für einen Wasserspender. Mit unseren Bechern schlichen wir an schicken, im selben Gebäude arbeitenden Büromenschen vorbei zu einer Toilette, um uns lauwarmes New Yorker Leitungswasser zu holen.

Die wenigen demokratischen So­zia­lis­ten in den USA waren Überlebende; ein Zustand, der auch uns nicht neu war. Die DSA war aus den zersplitterten Restbeständen der einst mächtigen Socialist Party of America (SPA) entstanden, deren berühmtester Repräsentant Eugene Debs (1855-1926) war. Anfang der 1970er hatte die SPA nur noch wenige hundert Mitglieder und war in Fragen des Verhältnisses zur Neuen Linken, der Mitarbeit in der Demokratischen Partei und der Haltung zum Vietnamkrieg völlig zerstritten.

1972 spaltete sich die SPA in drei Gruppierungen. Aus dem rechten Flügel gingen die Social Democrats hervor, ihr erster Vorsitzender war Bayard Rustin, ein Bürgerrechtsaktivist und ehemaliger Berater von Martin Luther King. Die Partei fuhr rasch auf einen aggressiven Antikommunismus ab und war nie mehr als eine unbedeutende Kungelgruppe innerhalb der etablierten Gewerkschaft.

Der linke Flügel der SPA beteiligte sich in der Tradition von Debs als unabhängige Gruppe an Wahlen. Ein edles Unterfangen, mit magerem Erfolg: 1976 kam die SPA-Linke auf 6038 Stimmen; 2012 waren es nur noch 4430.

Die „Mitte“ der SPA gründete das Democratic Socialist Organizing Committee (DSOC). An seiner Spitze stand Michael Harrington, der die Teilnahme einer dritten Partei (neben Demokraten und Republikanern) an Wahlkämpfen wegen der antidemokratischen amerikanischen Wahlgesetze und anderer Hindernisse für sinnlos hielt. Sein ganzes Bestreben ging dahin, soziale Bewegungen (Studentengruppen, Vereinigungen), Gewerkschaften und Funktionäre der Demokratischen Partei zusammenzubringen. Daraus sollte eine Sozialdemokratie im europäischen Sinne entstehen, obwohl dieser Begriff damals in den USA völlig unbekannt war.

1983 fusionierte das DSOC mit einer Organisation in der Nachfolge der Neuen Linken, dem New American Movement, zur DSA. Der Zeitpunkt war jedoch verfehlt. Die Democratic Socialists of America propagierten zwar ein Gesetz zur Vollbeschäftigung, engagierten sich in Antiapartheidkampagnen und bejubelten die Wahlsiege von Mitterand in Frankreich und Papandreou in Griechenland. Doch ihr Einfluss auf die Demokratische Partei blieb gleich null. Die vollzog in den 1980er Jahren einen scharfen Rechtsruck und erteilte dem Ausbau des Sozialstaats im Geiste des New Deal eine Absage.

Willy Brandt meinte damals, Harrington hätte in Europa Staatsoberhaupt werden können. Der konservative Journalist William F. Buckley hingegen spöttelte, der prominenteste Sozialist in den USA sei so etwas wie „das höchste Gebäude in Topeka, Kansas“.3

Als Harrington 1989 wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer starb, waren der Sozialismus und selbst die Sozialdemokratie von der politischen Landkarte der USA so gut wie verschwunden. Doch die Demokratischen Sozialisten überlebten auch ohne ihre Galionsfigur und ohne neue Mitglieder, gerade so eben.

Ein paar hundert Meilen nördlich von unserem New Yorker Minibüro überlebten auch ein paar andere Unentwegte. Die politische Vita von Bernie Sanders begann wie die von Harrington in den winzigen Zirkeln, die von der SPA übrig geblieben waren. Als Student kämpfte er in den1960er Jahren in New York für Arbeitnehmer- und Bürgerrechte, zog dann aber von Brooklyn, wo er aufgewachsen war, ins ländliche Vermont. Dort kandidierte er 1972 bei einer Nachwahl zum Senat zum ersten Mal für ein politisches Amt. Sein Stimmenanteil von 2,2 Prozent war ein für die US-Linke typisches Ergebnis.

Doch Sanders war zäh und seine Botschaft simpel. Unermüdlich wetterte er gegen „die Welt Richard Nixons und der Millionäre und Milliardäre, die er repräsentiert“. Das sei die Welt, erklärte er schon damals, „in der 2 Prozent der Bevölkerung über mehr als ein Drittel des privaten Reichtums im Land verfügen“.4

Solche klaren Worte kamen durchaus an. Nachdem er anfangs serienweise Niederlagen erlitten hatte, wurde er 1981 als „unabhängiger Sozialist“ zum Bürgermeister von Burlington, der größten Stadt im Bundesstaat Vermont gewählt. In den folgenden 30 Jahren blieb sein politischen Credo im Kern unverändert: Die Ungleichheit in den USA ist eine Kluft, die nur von einer Koalition der arbeitenden Bevölkerung beseitigt werden kann.

Diese Botschaft Sanders’ machte ihn in Vermont zum beliebtesten Politiker – und brachte ihn schließlich nach Washington, D. C. Dort vertrat er seinen Staat von 1991 bis 2007 im Repräsentantenhaus und ab 2007 im Senat. Aber auf nationaler Ebene blieb er weitgehend unbekannt, bis er in den Vorwahlen der Demokraten für die Präsidentschaftskandidatur 2016 gegen Hillary Clinton antrat.

Jetzt konkretisierte Sanders seinen Kampf gegen die Ungleichheit durch Forderungen nach einer allgemeinen Krankenversicherung, nach Abschaffung von Studiengebühren und nach einem nationalen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde. Damit gewann er die Unterstützung von Millionen ­Amerikanern. Obwohl die meisten noch nie etwas von Sozialismus gehört hatten, begrüßten sie eine Politik, die ihre Bedürfnisse an die erste Stelle ­setzte.

Sanders verlor zwar die Vorwahlen, gewann aber 11 Millionen Stimmen. In nur wenigen Monaten hatte er dem Sozialismus in den USA neues Leben eingehaucht, indem er an die Wurzeln zurückkehrte, zu Klassenkampf und zur Klassenbasis. Entscheidend für diese Renaissance waren jedoch die gesellschaftlichen Umstände.

Seit Beginn der Finanzkrise 2008 wuchs die Wut über die Macht der Großkonzerne und darüber, dass die Löhne und Gehälter stagnierten. In Wisconsin kam es zu einem ersten langen Streik der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, seit 2011 war die Occupy-Wall-Street-Bewegung aktiv.

Publikationen wie der Jacobin halfen, eine kohärente Politik links der Demokratischen Partei zu formulieren. Die Abozahl der Zeitschrift verdreifachte sich im Lauf der Wahlkampagne von Sanders auf 15 000. Die meisten neuen Leser gehörten zur Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren. Viele waren deklassierte Kinder von höherem Angestellten oder Freiberuflern, und sie waren voller Zorn. Die frisch konvertierten Sozialisten waren permanent online unterwegs und attackierten – mit dem Emblem des Rosen-Emoji als Erkennungszeichen – die Demokratische Partei und die Mainstream-Medien.

Das bekam Hillary Clinton zu spüren, nachdem sie die Vorwahlen gegen Bernie Sanders gewonnen hatte. Dutzende DSA-Mitglieder rückten am 4. November 2016, vier Tage vor dem Duell mit Donald Trump, von der Kandidatin ab.

In der Erklärung, die auch meine Unterschrift trug, lehnten wir es ab, die Wähler zu täuschen. Denn Clinton und ihre Partei würden wahrscheinlich keines ihrer Versprechen einlösen, also den Finanzsektor regulieren, weitere schlechte Freihandelsabkommen ablehnen, den Mindestlohn auf 15 Dollar pro Stunde anheben, die Sozialversicherungssysteme stabilisieren und ausweiten.

Wir argumentierten, die DSA dürften eine solche Kandidatur nicht unterstützen. Wir würden unsere Basis verlieren, und am Ende sei niemand mehr da, der die Demokraten zur Verantwortung ziehen würde.5 Unsere Position wurde in der Linken heiß diskutiert. Dabei vertrat die KP der USA den Standpunkt, dass die Linke Clinton unterstützen müsse, der Kampf gegen Trump müsse Vorrang habe.

Die Stimmung nach der Wahl war dann eine Überraschung. Unsere Befürchtung, man werde den DSA die Schuld an der Niederlage Clintons in die Schuhe schieben, erwies sich als unbegründet. Vielmehr wurden wir von Beitrittswilligen geradezu überrannt. Bald hatten wir 50 000 Mitglieder, und die Zahl der Abonnenten des Jacobin stieg in zwei Monaten von 17 000 auf 36 000. In den Medien erschienen zahlreiche Artikel und Features über die DSA, und viele unserer Mitglieder waren in den sozialen Medien aktiv.

So wurden die Democratic Socialists of America zum Sammelbecken für Anarchisten, Kommunisten und Sanders-Anhänger. Die lockere Organisationsstruktur bedeutete, dass die Ortsverbände autonom waren. Das erlaubte die unterschiedlichsten Arten von Engagement: DSA-Leute unterstützten die Bildung von Mietervereinen, halfen ärmeren Bewohnern in Stadtvierteln, ihre Autos instandzuhalten, oder initiierten große Kampagnen, etwa für eine „staatliche Krankenversicherung für alle“.

Die demokratischen Sozialisten erwiesen sich auch als echte Wahlalternative. In Chicago stellen sie heute sechs der fünfzig Stadtverordneten. Auch in den Bundesstaaten Virginia und New York sind sie vertreten. Auf nationaler Ebene trugen die DSA-Mitglieder dazu bei, dass 2018 bei den Midterm-Wahlen eine neue Generation linker Demokraten gewählt wurde.

So zog Alexandria Ocasio-Cortez in das Repräsentantenhaus ein. Sie ist mit der Demokratischen Partei zwar enger verbunden als die meisten anderen DSA-Mitglieder, doch sie tritt für ihre sozialistischen Überzeugungen ein und hat großes Geschick, die sozialen Me­dien als politische Bühne zu nutzen.

Auf diesem Weg sind seit Sanders’ Wahlkampagne von 2016 Millionen Menschen auf sozialistische Ideen aufmerksam geworden. Viele von ihnen haben mittlerweile begriffen, dass tiefgreifende Veränderungen nötig sind.

1 Simon van Zuylen-Wood, New York, 4. März 2019.

2 Diese wurden als „red diaper babies“, Kinder alter Kommunisten und Sozialisten, bezeichnet.

3 Das höchste Gebäude in der Hauptstadt des Bundesstaats Kansas ist 117 Meter hoch.

4 Radioansprache am 16. Oktober 1973, zitiert in: Michael Kruse, „Bernie Sanders has a secret“, Politico Magazine, 9. Juli 2016.

5 „The left is under no obligation to support Hillary Clinton“, In These Times, 4. November 2016, www.inthesetimes.com/.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Bhaskar Sunkara war früher stellvertretender Vorsitzender der Demokratischen Sozialisten von Amerika und ist Gründer und heute Chefredakteur der Zeitschrift Jacobin. Er ist Autor von „The Socialist Manifesto: The Case for Radical Politics in an Era of Extreme Inequality“, New York (Basic Books) 2019.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Bhaskar Sunkara