13.09.2018

Blauhelme außer Kontrolle

zurück

Blauhelme außer Kontrolle

In der Zentralafrikanischen Republik häufen sich die Skandale in den Reihen der UN-Truppen, die eigentlich für den Schutz der Zivilbevölkerung sorgen sollen. Gleichzeitig droht eine erneute Eskalation des seit 2012 schwelenden Bürgerkriegs zwischen der Regierung in Bangui und lokalen Rebellengruppen.

von Juan Branco

Blauhelme, die Brunnen bauen MICHAEL ZUMSTEIN/VU/laif
Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 10. April 2018 machte in Bangui das Gerücht die Runde, eine bewaffnete Gruppe hätte eine Mutter und ihre Tochter entführt. Der Tatort lag an der Grenze zum Stadtteil PK5, einer muslimischen Enklave mit mehreren tausend Einwohnern mitten in der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Re­pu­blik.

Seit dem Sturz von Präsident François Bozizé im März 2013 sind bei Auseinandersetzungen zwischen Anti-Balaka-Milizen (Christen und Animisten, die vorwiegend hinter dem abgesetzten Staatschef stehen) und der Rebellenallianz Séléka (ein bunt zusammengewürfeltes, mehrheitlich muslimisches Bündnis) Tausende Menschen ums Leben gekommen, Hunderttausende wurden vertrieben.

Im Dezember 2013 startete Frankreich, gestützt auf ein UN-Mandat, die Mission „Sangaris“, die seit April 2014 mit der UN-Mission Minusca kooperierte (Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in der Zentralafrikanischen Republik) und 2016 auslief. Im Januar 2015, als im Verlauf des Konflikts bereits 6000 Menschen umgekommen waren, warfen die UN beiden Konfliktparteien „ethnische Säuberungen“ vor. Ungeachtet eines im Juni 2017 unterzeichneten Friedensvertrags geht der Konflikt weiter. Die 2016 ins Amt gewählte Regierung von Präsident Faustin Archange Touadéra kontrolliert gerade einmal 20 Prozent des Staatsgebiets.

Seit Anfang April 2018 sorgt eine Minusca-Militäroperation namens „Sukula“ für Unruhe in der Hauptstadt. Mit täglichen Razzien versuchen die Blauhelme die Kontrolle über das in die Hände der Milizen gefallene Viertel PK5 zurückzugewinnen. Die Minusca-Razzien richten sich vor allem gegen Nimery Matar Djamous alias „Force“, der als Führer einer Selbstverteidigungsmiliz einen Teil des muslimischen Stadtteils beherrscht.

Sexuelle Übergriffe, Waffenhandel, Raubmorde

Djamous, der einst aus der zentralafrikanischen Armee desertierte, befehligt eine rund hundertköpfige Truppe arbeitsloser Jugendlicher. Er ist ein enger Verbündeter der Rebellenchefs im Norden und Osten des Landes – ehemalige Séléka, die 2013 mehrere Monate lang die Hauptstadt beherrscht haben und regelmäßig damit drohen, sich wieder nach Bangui aufzumachen.

Ohne Djamous’ Zustimmung hat in PK5 niemand Zutritt. Die humanitären Organisationen haben ihre Koffer gepackt. Für den Präsidenten Touadéra hat der Milizenführer nur Spott übrig. Zudem untergräbt er die Glaubwürdigkeit der ohnehin inzwischen verhassten internationalen Truppen. Für die Muslime von Bangui ist PK5 einer der letzten Zufluchtsorte, wo sie sich sicher fühlen. Und trotz aller Bemühungen ist es der Minusca bisher nicht gelungen, den Stadtteil wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Am 10. April umstellte eine aufgebrachte Menge die Polizeiwache von PK5, in der sich die zentralafrikanische Regierungsarmee (Faca) einquartiert hat. Schnell eskalierte die Situation und die von der EU ausgebildete Truppe, verstärkt durch Söldner der privaten russischen Sicherheitsfirma Wagner, geriet in Panik: 20 Blauhelmsoldaten aus Ruanda, die mit zwei Fahrzeugen vor Ort waren, eröffneten das Feuer. Zahlreiche Demonstranten starben. Die Milizionäre schossen zurück und beschädigten einen Panzerwagen. Die Soldaten mussten zu Fuß flüchten; dabei wurde ein Blauhelmsoldat getötet.

Am Tag darauf legten Demons­tran­ten in einem Schweigemarsch, weiße Tücher schwenkend, 17 Leichen vor dem Hauptquartier der Minusca ab, darunter lokale Sportgrößen aus dem Viertel sowie Frauen und Kinder. Der stellvertretende UN-General­sekretär Jean-Pierre Lacroix, zuständig für Blauhelmeinsätze, machte bei einem Besuch in Bangui für „die Vorfälle“ die Milizionäre verantwortlich, von denen „die jungen Menschen manipuliert“ worden seien.

Allein für den 10. April meldete das zentralafrikanische Rote Kreuz 32 Todesopfer und 145 Verletzte, die meisten waren Zivilisten. Die Minusca leitete offiziell vier Ermittlungsverfahren zu den Geschehnissen in PK5 ein. Doch es gab

weder Schuldeingeständnisse noch wurden Strafen verhängt. Keiner der Kommandeure musste seinen Hut nehmen. Alle Berichte kamen zu dem Ergebnis, die Gewaltanwendung sei „verhältnismäßig“ gewesen und die Einsatzvorschriften seien eingehalten worden.

Durch neue Anschuldigungen nahm der Druck allerdings derart zu, dass der stellvertretende Generalsekretär einen weiteren Bericht an die Menschenrechtsabteilung der Minusca anordnete. Am 11. Juli 2018 schloss Minusca-Chef Parfait Onanga-Anyanga in einem „streng vertraulichen“ drei­sei­tigen Bericht abermals jedes Fehlverhalten aus.

Die Aussagen von Augenzeugen, die Journalisten und Experten vor Ort sammelten, verschwanden ebenso in der Schublade wie der unzweideutige Bericht des Kommandos der Spezialeinheiten. Dieser Bericht trägt die Unterschrift des stellvertretenden Einsatzleiters Ikram Ul Haque und des ruandischen Oberstleutnant Jean Paul Ruhorahoza, die für den Einsatz verantwortlich waren. In dem Bericht heißt es, die Blauhelme hätten zuerst das Feuer eröffnet und auf eine un­bewaffnete Menschenmenge geschossen; Milizionäre hätten sich in den ­hinteren Reihen der Menge aufgehalten, seien jedoch nicht aktiv geworden.

Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch die Berichte der zivilen UN-Polizei (Unpol), der UN-Abteilung für Friedenseinsätze und eines gemeinsamen Ermittlerteams von Minusca und der nationalen Militärpolizei. Sie bestätigten, dass es sich um einen gewaltsamen Einsatz gehandelt habe, bei dem die ruandischen Soldaten zu Fuß flüchten mussten. Dabei hätten sie an jeder Straßenkreuzung des dicht bewohnten Stadtteils aus Angst vor Vergeltungsschlägen blindlings um sich geschossen.

Die Zentralafrikanische Republik, die an den Tschad und die Demokratische Republik Kongo grenzt, ist zwar klein, nimmt aber eine Schlüsselstellung ein. Lange war sie der Eckpfeiler der französischen Kolonialstrategie in Subsahara-Afrika und ein Spielball im Einflussgerangel der Großmächte, unter dem die Region bis heute leidet. Das Land wird nur zu einem sehr kleinen Teil landwirtschaftlich genutzt und krankt daran, dass Wirtschaft und Handel sich in der Hauptstadtregion konzentrieren.

In den Jahren von 1966 bis 1979 war das Land Jean-Bedel Bokassa und seinen Launen ausgeliefert. Der ehemalige Offizier der französischen Armee krönte sich 1977 in einer Zeremonie, die ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes verschlang, selbst zum Kaiser. Es folgte Enttäuschung auf Enttäuschung. Trotz ihrer Bodenschätze – vor allem Diamanten und Coltan – leidet die Zentralafrikanische Republik unter dem wachsenden Desinteresse ihrer ehemaligen Kolonialmacht.

Ab 2007 leitete der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy eine militärische Neuordnung ein, durch die dieser Tummelplatz für Geheimagenten und Neokolonialisten den letzten Rest seiner Bedeutung verlor. Die Militärbasen in Bouar und Béal wurden geschlossen, offiziell aus finan­ziel­len Gründe, und die französischen Truppen wurden in den benachbarten Tschad verlegt – nach N’Djamena, ­Abéché und Faya-Largeau.

Nach und nach zogen sich die wenigen noch verbliebenen französischen Unternehmer zurück, die mit Zucker, Holz und Baumwolle gehandelt hatten, und auch die französischen Uran- und Ölkonzerne Areva und Total gaben ihre Standorte in Bakouma und Birao auf.1 Stattdessen kamen libanesische Diamantenhändler, russische und chinesische Ölkonzerne und Goldhändler aus der Sahelzone ins Land.

Der Bürgerkrieg von 2013 markierte einen Wendepunkt. Nach dem Sturz von Präsident François Bozizé im März 2013 errichtete der Séléka-Rebellenführer Michel Djotodia eine Übergangs­regierung. Doch er scheiterte kläglich, die Zentralafrikanische Republik versank im Chaos: Es wurden nicht einmal mehr Präfekten ernannt, und Schritt für Schritt übernahmen Rebellengruppen die Kontrolle über den größten Teil des Landes.

Auch private Söldnertruppen mischen mit

Der einst gern gesehene, überbezahlte „Ausländer“ (mangiu) gilt heute als Plünderer, der die Bevölkerung ausnimmt und sie ihrer Souveränität beraubt. Die Menschen in der Zentralafrikanischen Republik leben im Schnitt von 0,89 Euro pro Kopf und Tag, während ein ausländischer Angestellter mindestens das Hundertfache verdient. Das jährliche Bruttoinlandsprodukt beträgt 382 Dollar pro Kopf. Alle 5 Millionen Zentralafrikaner zusammen erwirtschaften in einem Jahr weniger als der Ölkonzern Total.

Den geballten Hass zieht die UN-Mission Minusca auf sich, denn sie gilt als Symbol für die parasitäre Präsenz des Auslands. Die UN-Truppe – 14 787 Soldaten und Mitarbeiter aus mehr als zehn Ländern – produziert einen Skandal nach dem anderen. In offiziellen Berichten werden ihr „Unzulänglichkeiten“ vorgeworfen: Die Kontingente seien mangelhaft ausgebildet und nicht in der Lage, den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.2

Im Juni 2017 wurden 629 kongolesische Blauhelme wegen sexueller Übergriffe in ihre Heimat zurückgeschickt. Zuvor hatten bereits die Tschader abziehen müssen, nachdem ihnen vorgeworfen wurde, sie seien parteiisch und unterstützten die militanten Muslime im Land. Im Mai 2018 wurde nach langen Verhandlungen unter anderem mit dem französischen Außenministerium der angekündigte Abzug des gabunischen Kontingents im letzten Moment gestoppt, obwohl auch Soldaten aus Gabun sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde. Der Wunsch, die Zen­tral­afrikanische Republik zu stabilisierenen, hatte Priorität.

Zuvor waren bereits Soldaten aus Nepal, Uruguay und Marokko wegen Waffenhandel, Vergewaltigung und als Unfälle getarnter Raubmorde aus dem Verkehr gezogen worden. Seitdem die französische Mission „Sangaris“ im Dezember 2016 mit Vorwürfen der organisierten Pädophilie ein unrühmliches Ende nahm, sind bereits 73 Minusca-Blauhelme gefallen.

Unterdessen mehren sich die Missionen aller Art, die den quasi inexistenten nationalen Institutionen den Rücken stärken sollen. Die von der UN-Zentrale entsandten Experten geben sich in Bangui die Klinke in die Hand. Für einen Tagessatz von 500 US-Dollar schreiben sie über ein Land, das sie nicht bereist haben, und liefern stereotype Berichte ab, die niemand liest. Das Geld der multilateralen Hilfsfonds hätte man weitaus besser zur Linderung humanitärer Notlagen nutzen können. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist zwar von 44 Jahren (2002) auf 52 Jahre (2016) gestiegen, bleibt laut Weltbank aber eine der niedrigsten weltweit.

Die Regierungsarmee ist von ebenjenen Kräften unterwandert, die sie bekämpfen soll: Am 8. und 10. April verrieten sie Dajamous’ Milizionären Einzelheiten über einen bevorstehenden Minusca-Einsatz im PK5-Viertel, und das Drama nahm seinen Lauf. Als Reaktion auf das Massaker rief die Front populaire pour la renaissance de la Centrafrique (FPRC) – einst das Rückrat der Séléka – zur Vereinigung der Rebellen auf, um Bangui zurückzuerobern. Frankreichs im Tschad stationierte Mirage-Kampfflugzeuge versuchten mit Tiefflügen, die Rebellen zu verschrecken und somit das Schlimmste zu verhindern.

Aber was wäre eigentlich das Schlimmste? Die Ersetzung einer Marionettenregierung durch eine andere? Oder die Neuauflage des Debakels von 2013, als ein verärgertes Frankreich seinen Verbündeten Bozizé fallen ließ zugunsten einer bunt zusammengewürfelten Truppe von Séléka? Die Rebellen, die darauf gar nicht gefasst gewesen waren, wunderten sich, wie mühelos sie die Hauptstadt einnehmen konnten. Doch kaum in Bangui angekommen, brach die Truppe auseinander. Es kam zu Plünderungen, Anarchie und Gewalt.

Damals ließ Frankreich den Dingen ihren Lauf. Und während sich die Rebellen unter der Ägide ihres Verbündeten Idriss Déby im Tschad bereits sammeln, verspricht Paris, sich auch diesmal nicht einzuschalten. Das bestätigt auch der französische Botschafter in Bangui. Auf einer neuen Karte zeigt uns sein Berater, wo die Waldschutz-NGOs aktiv sind, die von der CIA kontrolliert werden, um den wachsenden Einfluss der russischen Söldner und chinesischen Unternehmen einzudämmen.

Frankreich, das im UN-Sicherheitsrat bei allen zentralafrikanischen Fragen das Heft in der Hand hat, gewährte Russland verblüffenderweise eine Ausnahme von dem seit dem Bürgerkrieg geltenden Waffenembargo. Aus Russland kamen daraufhin 175 Ausbilder und tausende Waffen ins Land. Mittlerweile ist die über lange Zeit sorgsam bewahrte französische Einflusssphäre dahin. Die russische Präsenz ist nicht zu übersehen – ob bei Schürfrechten oder in den Straßen der Hauptstadt. Die russischen Söldner, die zum größten Teil für das Privatunternehmen Wagner arbeiten, sind ebenfalls in Skandale verwickelt: Sie werden als Drahtzieher des brutalen Mordes an drei investigativen Journalisten aus Russland verdächtigt, die vor Ort recherchieren wollten.

Die Leibgarde von Präsident Toua­déra, die von einem gewissen Waleri Sacharow geleitet wird, könnte schon bald durch französische Spezialtruppen ersetzt werden, die ins Land gekommen sind, um die Rebellion im Norden zu unterstützen. Ob es dazu kommt, wird davon abhängen, wie Paris weiter vorgeht und wie viel Druck der US-amerikanische Sicherheitsapparat auf seinen Verbündeten ausübt. Unterdessen bietet so mancher Bauernfänger preisgünstig seine Vermittlerdienste an, und im einzigen Luxus­hotel der Stadt gehen die Angestellten von Erik Prince, dem Gründer des Söldnerunternehmens Blackwater, ein und aus.

Im April 2015 beschloss das Übergangsparlament die Schaffung eines Sondertribunals, das der Straffreiheit ein Ende setzen soll. Der Aufbau dieses Hybridgebildes aus zentralafrikanischem und internationalem Recht zog sich drei Jahre hin. Mittlerweile wurde die operative Verwaltung und der Schutz des Gerichts der Minusca anvertraut. Sein Chefankläger, der Kongolese Toussaint Muntazini, machte sich dadurch einen Namen, dass er als Mitglied der Militärstaatsanwaltschaft in der Demokratischen Republik Kongo für die Auslieferung des jungen Mili­zio­närs Germain Katanga an den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sorgte. Nach neun Prozessjahren mussten die Haager Richter feststellen, dass Katanga nur ein kleiner Fisch war, und verurteilten ihn zu einer Rest­strafe.

Muntazini stehen zwar ein Dutzend Kriminalbeamte und internationale Untersuchungsrichter zur Seite, aber seit seiner Ernennung 2017 hat er kein einziges Ermittlungsverfahren eingeleitet – und das in einem Land, in dem die ersten Kriegsverbrecherprozesse der nationalen Justiz im Januar 2018 für großes Aufsehen gesorgt haben.

1 Juan Branco, „Das große Uran-Komplott“, LMd, November 2016.

2 Bericht 2018/125 des Generalsekretärs über die Zentralafrikanische Republik und die Tätigkeit der Minusca, New York, 15. Februar 2018.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Juan Branco ist Journalist, promovierter Jurist und Autor von: „D’après une image de Daech“, Paris (Nouvelles Éditions Lignes) 2017.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2018, von Juan Branco