15.01.1999

Das belgische Modell einer präventiven Ausländerfeindlichkeit

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Das belgische Modell einer präventiven Ausländerfeindlichkeit

Von LAURENCE VANPAESCHEN *

AM 22. September 1998 starb die zwanzigjährige Nigerianerin Semira Adamu, weil sie sich in Belgien um Asyl bemüht hatte. Beim sechsten Abschiebungsversuch wurde sie in Handschellen in ein Flugzeug verfrachtet, wo ein Polizist ihr fünfzehn Minuten lang ein Kissen aufs Gesicht drückte. Dann war sie erstickt. Das war keine Panne, es war Methode. Bei der Vollstreckung von Abschiebungsbescheiden ist die „Kissentechnik“ offiziell zugelassen.1 Demnach hatte sich Semira zwar „illegal“ im Land aufgehalten, erstickte aber an einer „legalen“ Behandlungsmethode.

Die drei Innenminister, die sich in den letzten Monaten die Klinke in die Hand gaben (Johan Vande Lanotte trat im April 1998 nach der Flucht von Marc Dutroux zurück; Louis Tobback demissionierte nach Semiras Tod; der jetzige Minister ist Luc Van Den Bossche; alle drei gehören der SP, also den flämischen Sozialisten an), machten die Abschiebung der „Illegalen“ zur Speerspitze einer „realistischen“ Politik, die sie als Wunderwaffe gegen den Vormarsch der extremen Rechten verkauften. Das hinderte sie allerdings nicht, dem Vlaams Blok2 seinen Parteitag im November in Brüssel zu genehmigen.

Semiras Tod hat eine Tradition des Totschweigens durchbrochen: das Schweigen über Menschen, die keine Rechte haben und die von Rechts wegen gar nicht existieren. Der belgische Staat wurde ein weiteres Mal bloßgestellt. Die beschlossenen bzw. geplanten Gesetzesänderungen setzen eindeutig und einseitig auf innere Sicherheit und Repression. Ob es um das Ausländergesetz oder die Kontrolle der Arbeitslosen geht, um die Polizeireform oder den Gesetzentwurf zur Bekämpfung der „organisierten Kriminalität“: das „präventive Tätigwerden“ wird zur Regel. Schon der Verdacht auf vorsätzliche Täuschung oder Mißbrauch reicht aus, um eine strafrechtliche Verfolgung auszulösen. Diese Regelung verletzt das von allen „zivilisierten Völkern“ akzeptierte allgemeine Rechtsprinzip, wonach beim Vorwurf der Täuschung die Beweislast beim Kläger liegt.

Von den Abgeordneten zu seiner Reform des Ausländergesetzes befragt, hat sich der ehemalige Innenminister Vande Lanotte so gerechtfertigt: „Die Ausländerpolitik zeichnet sich durch Wirklichkeitsnähe und Vorbeugung aus – vorbeugen ist besser als heilen. Das schafft man nur, indem man zeigt, daß sich illegale Einwanderung nicht lohnt. Das wirkt zwar repressiv gegenüber der betroffenen Person, aber präventiv gegenüber allen anderen, die ähnliche Absichten haben. In diesem Sinn hat unsere Politik abschreckenden Charakter. Jede repressive Maßnahme dient der Vorbeugung.“3

Die juristische Situation von Ausländern hatte in Belgien zunächst auf dem „Fremdenpolizei-Gesetz“ von 1952 beruht, ergänzt durch einige königliche Erlasse und allgemeine Durchführungsbestimmungen. 1980 hat man dann ein Gesetz verabschiedet, das das – lobenswerte – Ziel verfolgte, Ausländern einen eigenen, wenn auch restriktiv formulierten Status zu verschaffen. Der Initiator dieses Gesetzes, der sozialistische Abgeordnete Serge Moureaux, erinnerte kürzlich daran, die große Innovation sei die gewesen, „daß Ausländern ein rechtlicher Status verliehen wurde, ohne zugleich einer unkontrollierten Einwanderung Tür und Tor zu öffnen“.

Seitdem hat sich beim Rechtsstatus von Ausländern und bei ihrer Behandlung durch die Behörden eine beängstigende Entwicklung vollzogen, die in der letzten Gesetzesänderung vom Juli 1996 gipfelt (dem sogenannten Gesetz Vande Lanotte, das die Anpassung an das Schengener Abkommen vollzieht). Das Gesetz von 1980 wurde bis 1996 dutzendfach abgeändert. Dabei wurde es von Mal zu Mal restriktiver, vor allem was die Asylanträge betrifft.4 Einer der wichtigsten Punkte ist, daß den Asylbewerbern der Zugang zu den Rechtspflegeorganen verweigert wird, weil sie sich nur noch an Verwaltungsinstanzen – und in letzter Instanz an den Staatsrat – wenden können.

Diese Entwicklung entspricht sowohl der Logik des polizeilichen Denkens als auch der des Einsperrens. Die polizeiliche Logik unterstellt jedem Asylwerber, mithin jedem Ausländer, eine Täuschungsabsicht, und zwar noch bevor er belgisches Staatsgebiet betritt. Daraus begründet sich eine Visapolitik, die nur sehr wenige Anträge (mitunter nach monatelanger Wartezeit) bewilligt und den Rest ablehnt, ohne daß dem Antragsteller dies mitgeteilt, geschweige denn eine Begründung gegeben wird. Für die Erteilung eines Visums stellt die „Bürgschaft“ eine handfeste Barriere sozialer Diskriminierung dar: Jeder Antragsteller muß einen Bürgen im Gastland finden, der (nach behördlichem Ermessen) „ausreichende“ Einkünfte nachweisen kann und zwei Jahre lang – unabhängig von der Dauer des geplanten Aufenthaltes – für die vom Antragsteller verursachten Kosten (Schulden, medizinische Versorgung, Abschiebung) aufkommen muß. Die gleiche Methode finden wir heute in Frankreich, wo man das belgische Vorbild kopiert hat.

Solidarität als strafrechtliches Delikt

DIE mit der Kontrolle der Ausweisdokumente befaßten Polizeibeamten am Flughafen können jeder Person den Zutritt zum belgischen Territorium verwehren, von der sie „vermuten“, sie könnte die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gefährden oder sie verfüge über keine ausreichenden finanziellen Mittel; das Gesetz sieht dafür keinen Mindestbetrag vor, doch in der Regel werden 2000 belgische Franc (ca. 100 Mark) pro Tag angesetzt.

Die belgische Regierung bekundete nach dem Tod von Semira ihre Absicht, „nach dem Vorbild anderer europäischer Länder ein Mitglied der Polizeikräfte als Migrationsbeamten abzustellen“, der „an einigen problematischen Abflugorten“ die Personaldokumente in Kooperation mit dem Personal der belgischen Fluglinie Sabena kontrolliert. Was genau unter „problematischen Abflugorten“ zu verstehen ist, bleibt dem Gutdünken des Innenministers überlassen, der allein für die Ausländerpolitik zuständig ist.

Die Abschiebung von Personen am Flughafen liegt weitgehend in der Verantwortung der Polizei; Johan Vande Lanotte räumte bei der Befragung vor einem Senatsausschuß zu den Vorwürfen über Mißhandlungen bzw. rassistisches Verhalten auf dem Flughafen implizit ein, daß gewisse Verstöße vorgekommen sind: „Die meisten Klagen entbehren jeder Grundlage. Wenn sie sich aber häufen, wechseln wir die Mannschaft aus. Das garantiert die strukturellen Voraussetzungen für eine demokratische Kontrolle.“5

Derselbe Minister sprach nach Unruhen in einem Brüsseler Ausländerviertel, bei denen ein junger nordafrikanischer Drogenhändler von der Polizei erschossen wurde, von einem „endemischen Rassismus“ im Polizeiapparat: „Die Ordnungskräfte haben nie Kontakt mit Ausländern, die sich anpassen und integrieren, sondern immer nur mit solchen, die gegen die Gesetze verstoßen. Deshalb gibt es [in der Polizei] stets eine rassistische Einstellung, das hängt leider strukturell mit ihrer Arbeit zusammen. Wir können diesen Rassismus nur bekämpfen, indem wir Personen ausländischer Herkunft in den Polizeidienst aufnehmen.“6

1987 wurde den Flüchtlingen die rechtliche Möglichkeit der Berufung genommen.7 Die Behandlung von Asylanträgen wurde Behörden übertragen, die immer wieder für ihre Willkür kritisiert werden. Die mit der Prüfung der Zulässigkeit von Asylanträgen befaßte Äusländerbehörde, die zumeist Abschiebungen anordnet und dann deren Vollstreckung koordiniert, untersteht einem ehemaligen Mitglied der Sicherheitspolizei, der als „Beauftragter“ des Innenministers fungiert.

Das Generalkommissariat für Flüchtlinge und Staatenlose, das über die Anerkennung als Flüchtling befindet, und die permanente Berufungskommission, eine Art Verwaltungsgericht, sind offiziell vom Innenminister und seinem Beauftragten unabhängig. Von Anwälten der Asylbewerber wird ihnen jedoch häufig ein abgekartetes Spiel vorgeworfen.

Der Argwohn des Staates gilt auch allen Personen, die Asylwerbern und „illegalen“ Ausländern Hilfe leisten. Artikel 77 des Ausländergesetzes definiert das „Delikt der Solidarität“. Danach wurde 1997 eine Frau in erster Instanz zu einer Strafe von 340000 Franc (etwa 17000 Mark) verurteilt, weil sie ihren Lebensgefährten, einen illegal eingewanderten Inder, der einen Asylantrag gestellt hatte, beherbergt und verköstigt hatte. Das Amtsgericht Brügge befand in seiner Urteilsbegründung, daß Liebe oder Freundschaft nicht über dem Gesetz stehen und nicht unter die Kategorie „humanitärer Zweck“ falle, die als einzige Ausnahme anerkannt wird.

Ins Fadenkreuz der Behörden geriet vor allem die Vereinigung „Collectif contre les expulsions“, die gewaltlose Aktionen zur Verhinderung von „Deportationen“ organisiert (wie Abschiebungen offiziell genannt werden). Häufig werden ihre Mitglieder am Flughafen festgenommen, wenn sie dort Informationskampagnen durchführen; Telefonüberwachung, Wohnungsdurchsuchungen und Beschlagnahme von Dokumenten sind bei dem Verein ohnehin an der Tagesordnung. Zwei Personen, die einen Gefängniswagen mit Eiern bewarfen, als er eine zur Abschiebung vorgesehene Frau zum Flughafen transportierte, wanderten wegen „böswilliger Verkehrsbehinderung“ für fünf Tage hinter Gitter. Weitere sieben Personen wurden nach Artikel 77 angeklagt, weil sie vor dem Polizeigefängnis demonstriert hatten, wo Semira in Abschiebungshaft saß. Dabei kam es zu einer Rebellion, in deren Verlauf etwa dreißig Insassen flüchten konnten. Derzeit sind mehrere Personen des „bewaffneten Aufstandes“ angeklagt, weil sie im Oktober 1998 gegen das neue Abschiebungsgefängnis von Vottem (Lüttich) demonstriert und Polizisten mit Pflastersteinen und Erdbrocken beworfen hatten.

Artikel 18b des Gesetzes von 1991 besagt, daß „der König auf Vorschlag des Ministers (...) Ausländern aus Staaten, die nicht zur EU gehören oder mit ihr assoziiert sind, (...) untersagen kann, sich in bestimmten Gemeinden aufzuhalten oder niederzulassen, wenn er der Meinung ist, daß der Ausländeranteil in diesen Kommunen dem öffentlichen Interesse entgegensteht“. Unter Berufung auf diesen Artikel beschlossen sechs Brüsseler Gemeinden, keine Asylanträge mehr anzunehmen (wobei der Artikel nur eine bereits geübte Praxis nachträglich legalisierte). Daraufhin weigerten sich auch andere Kommunen, Asylanträge zu überprüfen, wobei sie auf finanzielle Schwierigkeiten und die ungleiche Behandlung der Kommunen bei der Zuweisung von Asylbewerbern verwiesen.

Das Gesetz Vande Lanotte von 1996 markiert eine weitere Etappe in der Einschränkung von Freiheiten. Nach ihm kann man Flüchtlingen bis zur Bearbeitung ihres Asylantrages „ein vom Staat geführtes oder anerkanntes Zentrum als verbindlichen Ort der Antragstellung vorschreiben“. Dabei handelt es sich um „offene Zentren“, die vom Staat oder vom Roten Kreuz verwaltet werden. Tatsächlich wird dem Ausländer damit ein Aufenthaltsort zugeteilt, denn wer sich nicht in dieses Auffangzentrum begeben will, büßt jeden Anspruch auf Sozialhilfe ein.

Die geschlossenen Zentren sind für den belgischen Staat das wirksamste Instrument zur Kontrolle der Bewegungsfreiheit von Ausländern. Die angestrebten Ziele sind Abschiebung und Abschreckung (wobei man auf 15000 Abschiebungen pro Jahr kommen will). Derzeit gibt es in Belgien fünf solcher Zentren, die alle im flämischen Teil liegen. Ein sechstes – im wallonischen Teil – soll im Januar 1999 die ersten Abschiebehäftlinge aufnehmen.8

Alle diese Zentren haben eindeutig die Merkmale eines Gefängnisses: doppelt vergitterte, zuweilen mit Stacheldraht gesicherte Fenster, Überwachungskameras, ständige Wärter, streng beschränkter, kontrollierter Zugang; die Anstaltsordnung sieht Strafmaßnahmen vor, die vom Entzug der Schreib- oder Besuchserlaubnis bis zum Anlegen von Hand- und Fußschellen wie von Zwangsjacken und zur Unterbringung in Isolierzellen (etwa nach einem Selbstmordversuch) reichen.

Mamadou Diouk, der Sprecher der überregionalen Koordinationsstelle der sans-papiers in Frankreich, traf vor kurzem in Brüssel die folgende Prognose: „Der zunehmende Eifer, mit dem die einzelnen europäischen Regierungen die Ausländer schikanieren, ist ein Vorgeschmack auf das ,soziale Europa‘, auf das sie hinarbeiten. Wer glaubt, unser Kampf habe nichts mit ihm zu tun, weil er die richtigen Papiere hat, ist im Irrtum. Er verkennt, daß gegenwärtig an den sans- papiers eingeübt wird, wie man die schwächsten Bürger im europäischen Raum zum Verstummen bringen kann.“

dt. Andrea Marenzeller

* Journalistin, Lüttich. Verfasserin von „Eux parmi nous“ (Luc Pire, Brüssel 1998) und Mitautorin von „Barbelés de la honte“ (Luc Pire 1998), einer Sammlung von Zeugenberichten der sans-papiers (illegale Einwanderer ohne Papiere), die in Steenokkerzeel in Abschiebungshaft genommen wurden, darunter auch ein Bericht von Semira Adamu.

Fußnoten: 1 So die Direktiven der Sonderabteilung des Sicherheitsdienstes (Flughafen, Sektion Grenzkontrolle) vom 17. November 1997. 2 Der Vlaams Blok, eine neofaschistische flämische Partei, erzielte bei den letzten Parlamentswahlen in Antwerpen 28 Prozent, in ganz Flandern 12,2 Prozent und in ganz Belgien 7,8 Prozent der Stimmen. 3 Aussage vor der Commission de l'intérieur du Senat (Senatskommission für innere Angelegenheiten), die sich mit der Evaluierung des Ausländergesetzes vom 10. bis 15. Juli 1996, des sogenannten Vande-Lanotte-Gesetzes, befaßte. 4 1997 wurden nach Angaben des Office des étrangers 1850 von 11500 Asylanträgen bewilligt. Die Zahl der illegalen Einwanderer wird auf 30000 bis 40000 geschätzt. 5 Siehe Anmerkung 3. 6 Le Soir (Bruxelles), vom 14. November 1997. 7 Unter Justizminister Jean Gol, in dessen Kompetenz damals die Ausländerpolitik fiel. 8 Eines der heutigen „offenen Zentren“ hatte zur Zeit der deutschen Okkupation einem ähnlichen Zweck gedient: als Gefängnis für die italienischen Zwangsarbeiter, die sich weigerten, in den Kohlengruben zu arbeiten. Und im geschlossenen Zentrum von Merksplas (in der Nähe von Turnhout) waren vor sechzig Jahren die sogenannten „illegalen“ ausländischen Juden festgesetzt.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von LAURENCE VANPAESCHEN