14.05.1999

Das Leichenbegängnis eines Kronprinzen

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Das Leichenbegängnis eines Kronprinzen

MIT den im nächsten Jahr vorgesehenen Präsidentschaftswahlen ist die Elfenbeinküste auf dem Weg, ein neues Kapitel in ihrer Geschichte aufzuschlagen. Die Begräbnisfeierlichkeiten für Philippe Yacé, der eine Zeitlang als Nachfolger des verstorbenen Präsidenten und „Vaters der Unabhängigkeit“, Félix Houphouät-Boigny, galt, bieten die Gelegenheit einer analytischen Betrachtung von Geschichte und Zukunft dieses Landes, das die Geschicke des französischsprachigen Westafrika exemplarisch erhellt. Es wid sich erst erweisen müssen, ob die pluralistische, repräsentative Demokratie für dieses Land eine praktikable Lösung darstellt oder ob das lokale, partikularistische Bezugssystem weiterhin den republikanischen Prinzipien im Wege steht.

Von unserem Korrespondenten MARC AUGÉ *

Westlich von Abidjan, der wirtschaftlichen Hauptstadt der Elfenbeinküste, erstreckt sich zwischen Meer und Lagune eine rund einhundert Kilometer lange Landzunge, deren Name sich von der Ethnie der Alladian ableitet, die vor einigen Jahrhunderten als erste diese Gegend bevölkert hat. Die sandige Halbinsel, im Osten durch den Vridi-Kanal, im Westen durch die trichterförmige Mündung des Bandama vom Festland getrennt, ist von Palmenplantagen bedeckt, unterbrochen von einigen Sümpfen und Restwaldbeständen. Ihre Blütezeit erlebte sie im 19. Jahrhundert mit der wachsenden europäischen Nachfrage nach Palmöl, die den alladianischen Zwischenhändlern unverhofften Reichtum brachte. Einige „Paläste“ aus Stein an der dem Meer zugewandten Seite zeugen noch heute von ihrer vergangenen Herrlichkeit.

Wegen ihrer „modernen“ Einstellung und der alten, bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Handelsbeziehungen mit Europa war diese Notabelnschicht bei der Kolonialmacht im allgemeinen wohlangesehen. Viele junge Menschen erhielten daher schon frühzeitig eine Schulbildung, und die heutige Bedeutung der Alladian im politischen und geistigen Leben der Elfenbeinküste steht in keinem Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl, die sich auf wenig mehr als 10000 Personen beläuft. Dieses Mißverhältnis gilt mehr oder weniger auch für die anderen Bevölkerungsgruppen im Lagunengebiet, die gegenüber den großen Bevölkerungsgruppen im Inland die Rolle einer aufgeklärten und unabhängigen Minderheit spielen.

Zu dieser Elite gehörte auch Philippe Yacé, geboren im Januar 1920 in Jacqueville. Ich habe dieses Dorf in den sechziger Jahren kennengelernt, in einer Zeit, als die Menschen noch in Bambushütten lebten, durch deren Wände nach Sonnenuntergang das flackernde Licht der Sturmlampen schien. Nachts vernahm ich das donnernde Geräusch der gefährlichen Brandung, die unablässig an der Küste nagt. Ich kann also immerhin versuchen, mir seine Kindheitseindrücke auszumalen.

Letzte Inszenierung des Ancien régime

DER Sohn eines Zollbeamten ging in der Küstenstadt Grand-Bassam zur Schule und absolvierte 1937 das Abitur. Das dreijährige Studium an der École Normale William Ponty in Dakar schloß er mit einem Pädagogik-Diplom ab. Nach seiner Rückkehr in die Elfenbeinküste war er bis zum Ausbruch des Krieges als Lehrer tätig; anschließend kämpfte er als „assimilierter Staatsbürger“ Frankreichs von 1943 bis 1945 in Nordafrika, Italien, Frankreich und Deutschland. 1947 wurde er in den höheren Schuldienst Französisch-Westafrikas aufgenommen und bekleidete daraufhin das Amt eines Schuldirektors und Grundschulinspektors. In dieser Zeit gründete er mit einigen Mitstreitern die Lehrergewerkschaft Syndicat national des enseignants de Côte d'Ivoire, die er von 1949 bis 1954 leitete. Ebenfalls in diesen Jahren begegnete er Félix Houphouät-Boigny, der 1944 eine afrikanische Bauerngewerkschaft gegründet hatte, und trat der „Demokratischen Partei der Elfenbeinküste – Afrikanische Demokratische Sammlungsbewegung“ (PDCI- RDA) bei, in der er rasch an Einfluß gewann und aufstieg.1

Ich habe Philippe Yacé 1965 kennengelernt, als ich an der Alladian-Küste meine ersten Gehversuche als Ethnologe machte. Niemand konnte damals Feldforschungen betreiben, ohne die Genehmigung des Präsidenten der Nationalversammlung, des zweiten Mannes im Staat, einzuholen, der kurz zuvor zum Generalsekretär der Einheitspartei PDCI gewählt worden war. Die sogenannte „Zeit der Komplotte“ war gerade zu Ende gegangen: die fetischistisch angehauchte Zeit der „schwarzen Katze“ im Jahr 1959, kurz vor der Unabhängigkeit, die „Zeit der Jungen oder Intellektuellen“ Anfang 1963, die mit einem Prozeß endete, schließlich die ebenfalls mit einem Prozeß endende „Zeit der Alten“ im September 1963.

Philippe Yacé agierte in all diesen Ereignissen als der „Mann fürs Grobe“ des Präsidenten Houphouät-Boigny. Das erste Komplott nutzte er, um Jean-Baptiste Mockey de facto von der Parteispitze zu verdrängen, noch bevor er offiziell seinen Posten übernahm. Im Prozeß von 1963 fungierte er als Regierungskommissar: „Wenn ich nicht verurteilen würde, würde ich selbst verurteilt werden“, vertraute er Freunden an. Auf einer riesigen Versammlung in Abidjan, bei der er als Hauptredner auftrat, behauptete er, die innerparteilichen „Verräter“ hätten sich bereits 1950 formiert, als sich die RDA von der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) lossagte.2 Und auch im Prozeß vom Dezember 1964 übernahm er die Rolle des Chefanklägers. Wie wenig relevant seine damaligen „Beweisführungen“ waren, wurde spätestens 1971 offenbar, als Präsident Félix Houphouät-Boigny höchstpersönlich einräumte: „Es hat in der Elfenbeinküste nie ein Komplott gegeben.“

Philippe Yacé starb am 29. November 1998 und wurde am 14. Januar dieses Jahres im Rahmen eines Staatsbegräbnisses in seiner Gruft in Jacqueville beigesetzt. Böse Zungen behaupten, er habe das Versprechen dieser postumen Anerkennung dem derzeitigen Präsidenten der Republik, Henri Konan Bédié, abgerungen – einem Mann, den er mit gutem Grund nicht gerade ins Herz geschlossen hatte –, und dieses Ziel erkläre auch, weshalb er alles daransetzte, seinen Einfluß zu behalten, ohne in diesen letzten Jahren noch politisch aktiv zu sein.

Tagelang defilierten Abordnungen aus allen Landesteilen, um der Familie des Verstorbenen ihr Beileid zu bekunden und als Geschenk Rinder, Schafe und Geld zu überreichen. In Biétry, seiner Residenz in Abidjan, wie auch in Jacqueville, wo er sich einen prunkvollen Palast hatte errichten lassen, riß der Besucherstrom nicht ab. Bei der Totenwache am 11. Januar in Biétry war die gesamte politische und religiöse Führung der Elfenbeinküste zugegen, einschließlich des Präsidenten Henri Konan Bédié. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich tags darauf in der Saint-Paul- Kathedrale von Abidjan sowie zwei Tage später bei der Beisetzung des Politikers in Jacqueville. Die spektakuläre Anlage des im Innern seiner Residenz gelegenen Grabgewölbes zeugt vom Willen des einst mächtigen Politikers, sein Lebenswerk durch seinen Tod zu vollenden.

Dem Beispiel seines Lehrmeisters folgend, obgleich mit minderer Legitimität ausgestattet, suchte Philippe Yacé durch die Prachtentfaltung, die sein Begräbnis begleitete, seinem Image als traditionelles Stammesoberhaupt den letzten Schliff zu geben. Schon beim Tod seines Onkels väterlicherseits hatte er von diesem den Titel des „geistigen Führers der 3 A“ geerbt, den er selbst ihm zuvor hatte verleihen lassen – eine aus aktuellem Anlaß geschaffene Eigenkreation, denn die drei Gruppen der Alladian, Aizi und Akuri, auf die sich der Titel bezieht, besaßen zu keiner Zeit eine gemeinsame religiöse und politische Vertretung. Grund und Zweck derartiger Neuschöpfungen von „Traditionen“ sind stets im aktuellen Tagesgeschehen zu suchen.

Doch wie leicht verfängt man sich in seinem eigenen Spiel, und wie leicht verwandelt sich das ursprünglich als politische Strategie Gemeinte in ein persönliches Phantasma! Als Félix Houphouät- Boigny die Stadt Yamoussoukro zur Hauptstadt der Elfenbeinküste erklärte, mußte er wissen, daß er sich bei der Bevölkerung dadurch des Stammespartikularismus zugunsten der Baule verdächtig machte; und wenn man der ironischen Kritik der Oppositionspresse Glauben schenken darf, schreckt auch der derzeitige Staatspräsident nicht davor zurück, sein Herkunftsdorf Daoukro mit großem Aufwand zu modernisieren. Die Regel des „kantonalen Existentialismus“ ist in der Elfenbeinküste noch immer in Kraft: Ohne lokale Existenz und Verankerung kann sich hier niemand als nationale Persönlichkeit durchzusetzen.

Im Grunde war es also das nationale Format Philippe Yacés, das durch die langsame Überführung des Sargs von Abidjan nach Jacqueville noch einmal bekräftigt werden sollte. Auf einem Schnellboot überquerten seine sterblichen Überreste die Lagune, denn der erste Mann der Alladian hatte es trotz all seiner Bemühungen nicht geschafft, die von ihm bereits in den sechziger Jahren angekündigte Brücke bauen zu lassen.

Anschließend machte der Trauerzug im Dorf Abréby Halt, von wo aus die Alladian, die nach eigenem Bekunden aus den östlich gelegenen Gebieten des heutigen Ghana und dem Land der Aschanti eingewandert sind, die Landzunge bevölkerten. Die nächst folgende längere Zwischenstation war Akrou, der Geburtsort von Yacés Vater. Dort nahm der von einigen Männern getragene Sarg die Entschuldigung eines nahen Verwandten entgegen, der an Yacé vor kurzem noch heftige Kritik geübt hatte, und erbat – und erhielt – die Erlaubnis, seinen Weg nach Jacqueville fortzusetzen, dem Herkunftsdorf von Yacés Familie mütterlicherseits.3 Die „Tradition“ war demnach vor Ort, der Staatspräsident auch, und beide stützten sie das Bild eines in seiner Heimatgegend fest verankerten Gründers der Nation, dem die trauernden Hinterbliebenen und das einige Volk der Elfenbeinküste das letzte Geleit gaben.

Mit welchen Tricks oder Illusionen dieses Bild auch immer arbeiten mochte, so ist es an sich weder vulgär noch unehrenhaft. Für den Beobachter waren die Begräbnisfeierlichkeiten vielmehr insofern interessant, als sie den unvollendeten Charakter dieses Bildes zeigten – die Mißerfolge, die das politische Leben von Philippe Yacé seit 1980 begleiteten, seine zögerliche, widersprüchliche Handlungsweise, seine Wankelmütigkeit und Unentschlossenheit.

Sein Tod markiere, so ist vielfach zu hören, das Ende einer Epoche – die Zeit des Kampfs für die Unabhängigkeit und des Aufbaus eines unabhängigen Staates, aber auch die Zeit der Einheitspartei, des Personenkults, der Alleinherrschaft und der intriganten Machenschaften zur Machterhaltung. Doch ist diese Epoche wirklich abgeschlossen? Die machthabende PDCI und der Staatspräsident möchten dies gerne glauben machen, doch manche Regierungsgegner hegen den Verdacht, daß die Partei ihre Vormachtstellung aufrechterhalten will und daß der Präsident versucht, die seinem Vorgänger angelastete Vereinnahmung des Staats durch die Baule beziehungsweise durch die zur Akan-Familie gehörigen Gruppen fortzuschreiben.

Der Tod von Philippe Yacé bietet die Gelegenheit, diese Problematik erneut zu erörtern und den bisherigen Führungsstil in Frage zu stellen. Die Widersprüchlichkeit seiner Person und sein Werdegang als Politiker liefern das Material für eine solche Analyse; das aktuelle Tagesgeschehen macht sie dringend erforderlich. Bis 1980 hatte Philippe Yacé alle wichtigen Führungspositionen inne. Den Höhepunkt seiner Machtentfaltung erreichte er im Jahr 1977. Artikel 11 der 1975 ausgearbeiteten Verfassung sah vor, daß der Präsident der Nationalversammlung automatisch zum rechtmäßigen Staatspräsidenten aufrückt, sobald das Amt vakant ist. Und Henri Konan Bédié, ein naher Verwandter von Houphouät-Boigny, schien aus dem Weg geräumt (er wurde nach Washington abgeschoben, weil er angeblich in einen Finanzskandal verwickelt war).

Als zweiter Mann im Staat und getreues Ausführungsorgan des Präsidenten konnte sich Philippe Yacé also mit gutem Grund Hoffnungen machen, dereinst die Nachfolge von Houphouät-Boigny antreten und die Staatsführung übernehmen zu können. Doch nur wenig später kam er mit einem Schlag zu Fall, als derselbe, dem er stets treu zu Diensten war, ihn unvermittelt ins Visier nahm. Vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen und sozialen Krise wurde das Amt des PDCI-Generalsekretärs im September 1980 abgeschafft und Yacé aus dem Exekutivkomitee ausgeschlossen. Im November wurde Henri Konan Bédié aus Washington zurückberufen und zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt. Yacé suchte in Jacqueville Zuflucht und trat, wie die lokale Presse formuliert, seine sechs Jahre dauernde „Durchquerung der Wüste“ an. So fiel er einer Machtkonzeption zum Opfer, deren willfähriges Werkzeug er lange Zeit selbst war, jener „gbré“ genannten gefährlichen Mischung aus List und Stärke, die an die Gangart des Panthers erinnert.

Indes verstand Yacé es nicht, seinen Fall zum politischen Ereignis zu wenden. Obwohl er die Klagen der Opposition aufmerksam verfolgte, schreckte er in seiner Isolation zweimal davor zurück, den Rubikon zu überschreiten. Als ihn Staatspräsident Houphouät-Boigny 1986 mit seiner in solchen Fällen üblichen Erklärung zurückzugewinnen suchte, er sei von übelgesinnten Leuten getäuscht worden, und ihm den Vorsitz im Wirtschafts- und Sozialrat anbot – der durch den Tod von Mainadou Coulilaby freigeworden war –, akzeptierte er den Posten; dies wohl nur aus Vorsicht, denn gegenüber seinen früheren Funktionen bedeutete dies eine deutliche Herabstufung. Der Wirtschafts- und Sozialrat, nach Ansicht der Presse eine „moribunde“ Institution, nimmt in der nationalen Machthierarchie, nach der Nationalversammlung und dem Obersten Gerichtshof, nur Platz drei ein. Immerhin entwickelte Yacé in seiner Eigenschaft als Ratsvorsitzender eine moderate, vernünftige Rhetorik und Argumentation, stets um das Wohl des Landes besorgt, was ihm zumal in den Reihen der Opposition gewisse Sympathien einbrachte.

Lokale Verankerung und moderne Demokratie

IM Dezember 1993 starb Félix Houphouät-Boigny. Der von ihm eingesetzte Premierminister, der die öffentlichen Finanzen in Ordnung bringen sollte, war der Modernist Alassane Dramane Ouattara, im Volk kurz „ADO“ genannt. Ouattara widersetzte sich der Präsidentschaft von Henri Konan Bédié. Einen Augenblick lang schien Philippe Yacé versucht, einzugreifen: „Das Haus steht in Flammen, und ihr streitet euch um die Wohnzimmersessel“, verkündete er theatralisch. Doch PDCI-Generalsekretär Laurent Fologo verwies ihn trocken auf die Buchstaben der Verfassung. Trotz seiner alten Abneigung gegen Henri Konan Bédié beugte sich Yacé abermals und mußte verbittert miterleben, wie dieser in Anwendung von Artikel 11 am 7. Dezember 1993 zum Staatspräsidenten aufrückte. Die Angebote der 1994 aus einer Spaltung der PDCI hervorgegangenen „Sammlungsbewegung der Republikaner“ (RDR) lehnte er höflich ab, er begleitete den neuen Staatschef sogar auf einigen seiner Rundreisen durchs Land und predigte die Aussöhnung aller Bevölkerungsgruppen der Elfenbeinküste.

Anläßlich der Begräbnisfeierlichkeiten rief die Tagespresse diese Fakten in Erinnerung und kommentierte sie je nach politischer Ausrichtung.4 Der regierungsnahe Fraternité-Matin verschwieg nicht, welche „Proben“ Philippe Yacé zu bestehen hatte, unterstrich jedoch seine Treue zur PDCI und seine wiederholten Appelle an die nationale Einheit aller Bevölkerungsgruppen. Die Tageszeitung der RDR, Le Libéral, sah in Philippe Yacé „ein Opfer des PDCI-Systems“, erinnerte an die Versuche der Neuerer, Yacé für sich zu gewinnen, und hob hervor, mit welchen Aufmerksamkeiten Alassane Ouattara die Familie Yacé bedachte. Notre Voie, die eher linksgerichtete Zeitung der „Volksfront der Elfenbeinküste“ (FPI), zeigte weniger Interesse an dem Ereignis, betonte aber immer wieder die Gegnerschaft von Yacé und Bédié. Das Blatt behauptete, Yacés Tod lasse die Öffentlichkeit gleichgültig, und das sei „Beweis genug, daß Yacé vor seinem physischen Tod politisch schon lange tot war“.

Zum Teil erklären sich diese Stellungnahmen aus der aktuellen politischen Konjunktur: den einander widersprechenden, in gewissem Sinn aber auch ergänzenden Strategien von PDCI und FPI, dem Aufstieg der RDR und der Perspektive der Präsidentschafts- und anschließenden Parlamentswahlen im Jahr 2000. Dann wird sich zeigen, ob die pluralistische, repräsentative Demokratie für dieses Land eine praktikable Lösung ist oder ob das derzeitige, mit parlamentarischen Scheindiskussionen bemäntelte System der Einheitspartei und der Präsidentschaft auf Lebenszeit eine unvermeidliche Antwort auf unlösbare Probleme darstellt, wie manche französische Politiker mitunter gerne behaupten. Und es wird sich zeigen, ob die Demokratie in der Elfenbeinküste inzwischen ohne lokale und partikularistische Bezüge auskommt und allein auf Grundlage der republikanischen Prinzipien funktionsfähig ist.

Die politische Auseinandersetzung und die Diskussion unter den Intellektuellen geben in dieser Hinsicht zwar Anlaß zu Optimismus, doch wäre es aufschlußreich zu wissen, inwieweit die Debatten der Eliten auch in den ländlichen Gebieten Niederschlag finden, wo der Alltag der Menschen in den letzten Jahren zunehmend mühsam geworden ist. Gegenüber den derzeitigen Machthabern, die sich nach außen hin um ein respektables Erscheinungsbild bemühen, sucht sich die Volksfront-Partei, vor allem mit Unterstützung der französischen Sozialisten, als „verantwortungsbewußte“ und regierungsfähige Opposition zu profilieren.

Das Ende eines flottierenden Signifikanten

VOR einigen Monaten hat sich Henri Konan Bédié mit einer Delegation der FPI zu Beratungen über den Wahl- oder Nominierungsmodus für den künftigen Senat getroffen. Die Schaffung einer zweiten Parlamentskammer wird sowohl von der Regierung als auch von der Opposition befürwortet, so daß der Wirtschafts- und Sozialrat möglicherweise bald abgeschafft wird, gemäß den Wünschen der FPI. Die regierungsnahe Presse hat diese Gespräche ausführlich kommentiert und als beiderseitige Annäherung oder zumindest als Ausdruck eines „Minimalkonsenses“ gewertet. Wenn auch aus diametral entgegengesetzten Gründen, haben beide Seiten ein Interesse daran, ihr Image als moderne demokratische Parteien zu pflegen.

Die RDR, deren Führung ebenfalls zu Gesprächen mit dem Staatspräsidenten zusammentreten wird, hat Henriette Diabaté Ende Januar zur neuen Generalsekretärin gewählt. Die Universitätslehrerin, eine Alladian, ist über ihren Vater mit Yacé verwandt, während ihr Mann Lamine Diabaté, der seinerzeit den „Komplotten“ von Houphouät-Boigny zum Opfer fiel, aus dem nördlichen Landesteil stammt. Damit erlangt sie, die im allgemeinen als Vertreterin von Alassane Ouattara gilt, durch Herkunft und Heirat eine breitere Repräsentation auf nationaler Ebene. Die RDR stört die FPI in gewisser Hinsicht ebensosehr wie die PDCI. Die republikanische Front aus FPI und RDR hat bei den letzten Parlamentswahlen, mit unterschiedlichem Erfolg, zwar funktioniert, doch manche FPI-Politiker äußern Zweifel am Oppositionscharakter der RDR und fragen sich, wie weit die wirtschaftsliberalen Vorstellungen der RDR eigentlich gehen und welche Folgen eine entsprechende Politik haben könnte: Alassane Ouattara ist bis Juni 1999 stellvertretender IWF-Generaldirektor, und „weniger Staat“ in einem Land, in dem der Staat und seine Beamten schon heute mangelhaft arbeiten, könnte verhängnisvolle Folgen haben.

Von einer eindeutigen Parteienkonstellation kann also keine Rede sein. Die PDCI sähe es lieber, wenn es mit der FPI von Laurent Gbagbo nur eine Oppositionspartei gäbe, und mißtraut der RDR, obwohl diese Gruppierung ehemalige Minister, Überläufer aus den eigenen Reihen und einige Persönlichkeiten zählt, die ideologisch nicht sehr weit von ihr entfernt sind. PDCI und FPI liegen wohl nicht falsch, wenn sie die RDR in erster Linie als eine Wahlkampfmaschine im Dienst von Alassane Dramane Ouattara betrachten, der die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr durchaus gewinnen könnte, wären da nicht jene „maßgeschneiderten“ Verfassungsbestimmungen zur nationalen Herkunft der Eltern eines Kandidaten, die seine Kandidatur einstweilen verhindern.

Andererseits weiß die FPI sehr genau, daß sie bei den Parlamentswahlen nur gemeinsam mit der RDR größere Erfolge erzielen kann, obwohl die Einteilung der Wahlbezirke und eventuelle Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung jede Prognose zum Hasardspiel machen. Was die RDR betrifft, die unzweifelhaft den Wind im Rücken hat und große Popularität genießt, besteht Grund zu der Befürchtung, daß sie nur eine „Absahner- Partei“ ohne klare politische Linie ist. Die kommenden Monate werden dieser Partei vielleicht Gelegenheit geben, ihr Verhältnis zum Wirtschaftsliberalismus und zur Sozialpolitik zu klären. Wie der IWF ist auch Alassane Ouattara dabei, seine Position zu überdenken und zu mäßigen.

Man kann dem verstorbenen Staatspräsidenten Félix Houphouät-Boigny eines zugute halten: Er hat, abgesehen von seiner unerbittlichen Haltung gegenüber allen mutmaßlichen separatistischen Bestrebungen, dafür gesorgt, daß sämtliche Landesteile in den staatlichen Führungsinstanzen repräsentiert sind, und der Republik Elfenbeinküste damit zu institutioneller Wirklichkeit verholfen. Gleichwohl werden die Probleme die Landes heute wie gestern zumeist durch die regionalistische Brille wahrgenommen. Die Bezugnahme auf den Norden, das Zentrum, den Osten und den Westen ist ein ständig wiederkehrender Gemeinplatz, und sei es in Zusammenhängen, in denen die Legitimität oder Opportunität solcher Bezüge bestritten wird. Selbst wenn die Einheit des Landes dadurch nicht in Frage gestellt wird, kommt der allgemeine staatsbürgerliche Standpunkt zu kurz. Hier zeigt sich wieder die Bedeutung lokaler Verankerung im politischen Leben der Elfenbeinküste. Lokale Verankerung vermittelt den Politikern das Gefühl, konkreten Kontakt zum wirklichen Leben des Landes zu halten. Allerdings birgt dies die Gefahr, daß Fragen von nationaler Tragweite mit nur lokal angemessenen Maßnahmen begegnet wird, obwohl die Politiker diese Beschränktheit von sich weisen und zunehmend Zeichen setzen, die auf eine „Delokalisierung“ der Politik hinweisen. Im Bewußtsein dieser Problematik regen manche Oppositionspolitiker eine künftige Kohabitation zwischen Henri Konan Bédié als wiedergewähltem Präsidenten und einer von der „Republikanischen Front“ dominierten Nationalversammlung an.

So waren die Begräbnisfeierlichkeiten für Philippe Yacé trotz oder gerade wegen der Schwächen des Politikers ein Symbol für die ungewisse Zukunft der Elfenbeinküste. Als Komplize und Opfer der von Félix Houphouät-Boigny verkörperten autokratischen Machtkonzeption war er der Opposition zugeneigt, gab der Versuchung jedoch nicht nach. Er war dem derzeitigen Präsidenten feindlich gesinnt, doch er respektierte sein Amt, und so ähnelte er einem Phänomen, das die Linguisten und Ethnologen einen „flottierenden Signifikanten“ oder eine „Null“ nennen. Man kann hineininterpretieren, was man will, und sich je nach Bedarf auf die eine oder andere seiner Verhaltensweisen berufen.

Indes beschränkt sich diese Verfügbarkeit nicht auf seine Person. Als anläßlich der Begräbnisfeierlichkeiten die gesamte politische Klasse, einschließlich der Opposition, „auf die Bühne stieg“, wie Georges Balandier formulierte, trat sie in so mancher Hinsicht in einer vieldeutigen Konstellation auf. In der Saint-Paul- Kathedrale erinnerte Kardinal Agrey an die Jahre der Not, die der Verstorbene durchlebte, doch er tat dies im Beisein des derzeitigen Staatspräsidenten, der mit Houphouät-Boigny federführend dafür verantwortlich war. Die ebenfalls anwesende Witwe von Houphouät-Boigny saß nicht weit von Madame Ouattara entfernt. Harris Memel-Fôte, einer der Vordenker der FPI und wichtigster Berater von Gbagbo, nahm ebenso wie Henriette Diabaté an der Totenmesse in Jacqueville teil, doch die Schlußrede der Zeremonie hielt der PDCI-Ideologe Laurent Fologo. Kurz, jeder setzte sein Zeichen. Der Sinngehalt ihrer Anwesenheit, ihrer Reden und ihres Schweigens hängt jedoch vom künftigen Verlauf der Geschichte ab. Sie wird zeigen, ob wir mit den Begräbnisfeierlichkeiten im Januar 1999 wirklich die letzte Inszenierung der alten Ordnung erlebt haben.

dt. Bodo Schulze

* Ethnologe, Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (Paris), auf deutsch lieferbar ist u.a. „Der Geist des Heidentums“, aus d. Franz. v. Michael Kilisch-Horn, München (Klaus Boer) 1995.

Fußnoten: 1 Die PDCI wurde noch während der Kolonialzeit von Félix Houphouät-Boigny gegründet, der im französischen Parlament der RDA vorstand. Anders als in der Verfassung vorgesehen, die nach der Unabhängigkeit am 7. August 1960 beschlossen wurde, war die PDCI-RDA bis 1990 die einzige legal zugelassene politische Partei der Elfenbeinküste. 2 Diese Lossagung erfolgte auf Druck des damaligen französischen Kolonialministers François Mitterrand. Zu dieser Episode sowie zu den „Komplotts“ von Houphouät-Boigny vgl. Samba Diara, „Les faux complots d'Houphouät-Boigny“, Paris (Karthalla) 1997. 3 Diese Bitte um Erlaubnis war durchaus notwendig, da die gesellschaftlichen Verhältnisse der Elfenbeinküste, wo das Erbe einst in mütterlicher Linie übertragen wurde, noch immer durch starke Spannungen zwischen der Familie des Vaters und der Familie der Mutter geprägt sind. Jede Partei hat ihre besonderen Rechte, und für die Männer gilt die Regel, daß sie nicht bei der Mutter, sondern beim Vater beerdigt werden (die Ehefrau soll ihrem Mann eigentlich in den Tod folgen, wie sie ihm im Leben folgte). 4 Seit die Elfenbeinküste vor einigen Jahren zum Mehrparteiensystem überging, entstand eine ganze Reihe kleinerer politischer Gruppierungen, die mehr oder weniger um die beiden großen Oppositionsparteien kreisen. Entsprechend hat auch die Presse an Vielfalt gewonnen und deckt nun fast die gesamte politische Bandbreite ab.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von MARC AUGÉ