14.05.1999

Die Alchemie des Milosevic-Regimes

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Die Alchemie des Milosevic-Regimes

Slobodan Milosevic hat die Erbschaft eines sozialistischen Systems sowjetischen Typs angetreten, abgewandelt um den titoistischen Sonderweg. Es ist der Inbegriff einer autoritären Staatsmacht, die sich im Besitz einer mafiösen Oligarchie befindet. Die Staatsideologie ist ein Cocktail aus Sozialdemagogie und Hypernationalismus.

Von JEAN-YVES POTEL *

DAS von Slobodan Milosevic in Serbien errichtete Regime ist aus dem Zusammenbruch des titoistischen Systems hervorgegangen. Nicht jeder politische „Übergang“ führt zwangsläufig zu einer strahlenden Demokratie: Er kann zu anderen Lösungen führen, und deren Endform ist das serbische Regime.

Man kann ein solches Regime nicht einfach auf die „Degeneration“ eines besonders virulenten balkanischen Nationalismus reduzieren. Und auch nicht auf die Diktatur eines Wahnsinnigen, der im Interesse der Machterhaltung opportunistischerweise auf die alte xenophobe Kostümierung und die üblichen Methoden der „ethnischen Säuberung“ zurückgreift. Nein, hier handelt es sich vielmehr um ein besonderes Regime, von dem sich einzelne Komponenten auch in diversen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks wiederfinden. Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren und das politische Geschick eines einzigen Mannes sind derart miteinander verschmolzen, daß dieses serbische Regime die gesamte Region zu destabilisieren vermochte. Mittlerweile stellt es die Hauptgefahr für die Sicherheit Europas dar.

In anderen Ländern hat sich die alchemistische Verbindung (noch) nicht hergestellt. Doch ein militärischer Sieg Milosevic oder auch eine nur halbe Niederlage würde zweifellos seinen Nachahmern in der gesamten Region Auftrieb geben. Man denke nur an die jüngeren Ereignisse in der Slowakei bzw. in Rumänien (um Weißrußland, Rußland oder die Ukraine beiseite zu lassen). In der Slowakei konnte Vladimir Meciar im Verein mit der extremen Rechten in fünf Jahren Regierung die gesamte Macht an sich reißen und sogar die Wahl eines neuen Staatspräsidenten hintertreiben, ehe er bei den Parlamentswahlen 1998 aus dem Amt gedrängt wurde. In Rumänien machte der Marsch der Bergarbeiter aus dem Schiltal im Januar 1999 zwar ein reales gesellschaftliches Unbehagen und eine Notlage sichtbar, doch die Aktion wurde maßgeblich organisiert und unterstützt durch die Großrumänische Partei von Vadim Tudor, der die Regierung stürzen wollte. Es war der Versuch eines regelrechten Staatsstreichs, der vorübergehend auch von der Partei des ehemaligen Staatspräsidenten Ion Iliescu unterstützt wurde – eine politische Option, die nach Meinungsumfragen nur 20 bis 30 Prozent der Rumänenen befürworteten.1

Ob man diese Art von Regime als „Diktatur der Braun-Roten“ qualifizieren will oder als „Neototalitarismus“, „Nationalkommunismus“ oder „Ethnopopulismus“ sei der Diplomatie und den Medien überlassen. Und sollen hier nur seine drei Hauptmerkmale interessieren.

Erstens handelt es sich offensichtlich um ein autoritäres, antidemokratisches System, das die Strukturen und Einflußsphären seines Vorgängerregimes bruchlos fortsetzt. Milosevic selbst entstammt der titoistischen Nomenklatura: Fünfundzwanzig Jahre lang bewegte er sich im Schatten des Tito-Vertrauten Ivan Stambolic, der 1986 Präsident Serbiens wurde: In der Führung des petrochemischen Großkombinats „Technogas“ verdiente er sich 1973 seine ersten Sporen, bevor er 1978 zum Direktor der „Beogradska- Banka“, der größten Bank des Landes wurde. 1984 rückte Milosevic in die Spitze der Einheitspartei „Bund der serbischen Kommunisten“ auf, verbündete sich mit dem Schriftsteller Dobra Cosic und schaltete seinen Mentor Stambolic aus. Als unangefochtener Parteiführer ernannte er die Kader und kontrollierte den Apparat (vor allem im Kosovo und in der Vojvodina).

Die heutige Sozialistische Partei Serbiens (SPS) steht also in der bürokratischen Kontinuität der ehemaligen Einheitspartei; dasselbe gilt für die von Milosevic' Frau Mirijana Markovic gegründete und geführte Partei der Vereinigten jugoslawischen Linken (JUL).

Gewiß muß man berücksichtigen, welch entscheidende Rolle das Kosovo bei den Massenversammlungen spielte, die das Regime zum Zwecke seiner Stabilisierung inszenierte, aber insgesamt war die „antibürokratische Revolution“, die Milosevic Ende der achtziger Jahre initiierte, eine halbherzige Sache. Sie artikulierte verschiedene Themen, die im Grunde alle auf dasselbe hinausliefen: „die Abkehr von der Modernisierung“, wie es die Belgrader Politologin Latinka Petrovic formulierte2 . „Destrukturierung der Gesellschaft, Auflösung des Staates und Entpersönlichung des Individuums“, so der Essayist Nebojsa Popov, „sind die drei immanenten Merkmale unseres Antimodernismus.“ In dem Moment, wo sich eine Möglichkeit zur Demokratisierung ergab, „führte die Ablehnung der Modernisierung zu einem Ausbruch gewalttätiger und totalitärer Kräfte.“

Milosevic rühmte seinerzeit die Errungenschaften eines prosperierenden Sozialismus und verurteilte „die neue, durchgängig imperialistische Weltordnung.“ 1989 erwiderte er den Befürwortern einer Europäisierung Jugoslawiens: „Wir werden uns nicht in dieses Europa integrieren wie Lakaien, die ihm schmeicheln, indem sie den eigenen Staat, seine Institutionen und selbst seine Armee ins Lächerliche ziehen, [sondern] auf unsere Weise, das heißt jugoslawisch und sozialistisch.“ Außerdem hatte er gewarnt: „Die Entscheidung zwischen einer bürgerlichen und einer sozialistischen Gesellschaft ist noch nie ohne Blutvergießen abgegangen.“

Die soziale Demagogie dieser Massenversammlungen nährte sich aus den katastrophalen Folgen des Wirtschaftschaos der achtziger Jahre, aber auch aus der Unsicherheit, die sich unter den Menschen ausbreitete, die von den liberalen Wirtschaftsreformen benachteiligt wurden. „Gegen den auf der westeuropäischen Kultur basierenden Individualismus“, schreibt Latinka Petrovic, „setzte die serbische Elite die Inthronisierung des Volkes als einziges politisches und gesellschaftliches Subjekt... Die Stimme des Volkes war vor allem dort zu vernehmen, wo sie sich als Stimme des serbischen Volkes äußerte, [und] die anderer Völker wurden sehr schnell zu Stimmen von Feinden und Gegnern.“ Mit diesem Sozialpopulismus wurde, in Verbindung mit einem großserbischen Jakobinismus, ein uniformes institutionelles Gefüge legitimiert, das die „verhängnisvolle Verfassung von 1974“ und das von Tito ersonnene fragile Gleichgewicht zwischen den Nationalitäten zerstörte.

Was die Opposition betrifft, so wurden ihr nie die elementaren Garantieen demokratischer Teilhabe gewährt, sondern einzig das Recht, sich um das Regime zu scharen oder von ihm deskreditiert zu werden. Auch betrieb Milosevic, wie weiland die Cäsaren, ein Wechselspiel der Allianzen, das sogar nach Pluralismus aussah: Mal regierte er mit den Ultras eines Vojislav Seselj (1992), dann brach er mit ihnen, dann wieder beugte er sich dem Druck der Straße (1997), bevor er alle um einen Mythos scharte, den ohnehin niemand in Zweifel stellte (Kosovo 1998).

So führte das serbische System – und das ist sein zweites Merkmal – in den Krieg. Die Belgrader Politologin Marija Obradovic schreibt: „Aufgrund des Krieges konnten die populistische Mobilisierung und die Gleichschaltung der Massen hervorragend gelingen. Der Krieg war das wirksamste Instrument, um das Legitimitätsdefizit der politischen Oligarchie des alten Systems wettzumachen. Der Frieden aber ist der größte Feind solcher Regime.“

Der Krieg, den Milosevic selbst ankündigte, bevor er ihn als politisches Mittel einsetzte, begann 1991 in Slowenien und hat seither die Region fortlaufend destabilisiert. Wie immer die aktuelle Propagandalosung heißt – „Vereinigung des serbischen Volkes“ oder „Rettung der Wiege der serbischen Zivilisation“: Ziel ist immer nur die „Reinhaltung“ serbischen Territoriums durch „ethnische Säuberungen“. Der großserbische Jakobinismus ist zum Ethnokratismus geworden.

Ethnische Säuberungen sind längst keine Randerscheinung mehr, als radikales Vorgehen irgendwelcher Milizen oder unkontrollierbarer Banden, sie sind zum Wesensmerkmal der Kriegsführung selbst geworden. Unbestreitbar gilt dies jedenfalls im Kosovo, wo die reguläre Armee systematische Säuberungen betreibt. „Kehrt nie wieder in den Kosovo zurück, das ist serbisches Land!“ brüllte Anfang April 1999 ein Soldat der jugoslawischen Armee die „albanischen Hunde“ an, als er ganze Familien aus ihrer Heimat vertrieb.3

Ein Virtuose der Doppelzüngigkeit

DAS hatte freilich bereits für Bosnien gegolten, wo über zwei Millionen Menschen den Vertreibungen zum Opfer fielen. Nach einem 1995 veröffentlichten UN-Bericht waren zwar auch Kroaten und Bosniaken für Vertreibungen verantwortlich, doch es gibt „keinerlei faktenmäßige Basis für die Behauptung, die kriegführenden Parteien hätten sich in gleichem Maße“ schuldig gemacht: 90 Prozent der Opfer im ehemaligen Jugoslawien waren bosnische Muslime, während 80 Prozent der Täter Serben waren.4

Wenn vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Reihe von Verantwortlichen für die ethnische Säuberung wegen „Kriegsverbrechen“, „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschheit“ angeklagt wurden, so wird damit eine Kontinuität hergestellt zwischen den Massakern, Vergewaltigungen, Vertreibungs- und willkürlichen Umsiedlungsmaßnahmen im ehemaligen Jugoslawien und jenen Taten, die in den Prozessen von Nürnberg und Tokio abgeurteilt wurden. Erstmals seit 1945 behandelt ein Tribunal, das unter UNO-Ägide eingerichtet wurde, die mutmaßlichen Verbrechen von ethnischen „Säuberern“ auf derselben Ebene wie die der Nazis und der japanischen Militaristen.

Das ist ein entscheidender Schritt: Die Kriegspraktiken der serbischen Armee im Kosovo werden für illegal und eine schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts erklärt. Die Vertreibungsmaßnahmen wurden Monate zuvor geplant und vorbereitet, und es war eine reguläre Armee, die sie systematisch umsetzte – Dorf um Dorf, und Viertel um Viertel.

Schließlich verfolgt das Milosevic-Regime – und das ist sein drittes Merkmal – durchaus wirtschaftliche Ziele. Auch wenn das Volk, für das es zu sprechen vorgibt, letztlich ruiniert wird, profitieren doch einige von der Lage.5 Statistiken sind in diesem Zusammenhang bedeutungslos. Offiziell ist das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik Jugoslawien seit 1989 um die Hälfte geschrumpft, die Industrie hat über 70 Prozent ihrer Kapazitäten eingebüßt, und die – in der Vergangenheit bereits private – Landwirtschaft dient nur noch der Selbstversorgung. Die Bevölkerung lebt in teilweise dramatischer Armut. Doch der Machtapparat und der Krieg schaffen neue Finanzoligarchien, die über den Gesetzen stehen, häufig als „mafiös“ eingestuft werden und sich in den immer noch bestehenden bürokratischen Monopolen gewisser höchst lukrativer Aktivitäten einnisten (die Großunternehmen sind nicht privatisiert).

So haben sich die Familie Milosevic und die wichtigsten Repräsentanten des Regimes die ehemaligen Staatsunternehmen – Energieversorgung, Nahrungsmittel- Alkohol- und Tabakindustrie, Banken, Fernsehsender, Import-Export – buchstäblich unter den Nagel gerissen. Als Direktoren und Manager dieser Firmen veruntreuen sie die Gewinne. Untersuchungen schweizerischer und russischer Gutachter über die rechtlich-finanzielle Architektur bestimmter Firmen haben ein umfassendes Interessengeflecht zwischen dem Kreml und Belgrad aufgezeigt. Die Verbindungen, die in der kommunistischen Ära innerhalb des Wirtschafts- und Polizeiapparats geknüpft wurden, blieben intakt oder wurden durch hochprofitable betrügerische Praktiken zwischen Banken und großen Import-Export-Firmen sogar noch ausgebaut. Über diese Netze fließen enorme Summen außer Landes und in internationale Spekulationsgeschäfte.6

Das aus dem postkommunistischen Jugoslawien hervorgegangene Serbien ist also in der Hand eines verbrecherischen Regimes. Die Stärke von Milosevic ist sein verdecktes Vorgehen, sein Geschick, die total kontrollierten Medien brillant zu manipulieren. Er ist ein wahrer Virtuose jener Doppelzüngigkeit, die im real existierenden Sozialismus traurige Tradition hatte. So beutet er immer wieder mehrdeutige Referenzen und doppelsinnige Symbole aus: die franko-serbische Freundschaft, den Antiamerikanismus, den Antiliberalismus und und die Globalisierung, slawische und orthodoxe Solidarität usw.

Als geschickter Manipulator nationalistischer Leidenschaften war er der erste (und der beste), der weltweite Unordnung seit 1989 auszunutzen verstand. Dabei kalkulierte er mit den Stärken wie mit der Zerrissenheit seiner Gegner. So gesehen ist er auch ein Produkt der „internationalen Gemeinschaft“, die ihn in Dayton zum Vermittler machte, obwohl seine Verantwortung für die serbischen Verbrechen längst erwiesen war.

Regime dieses Typs haben eine ungewisse Zukunft, doch auf internationaler Ebene muß man sie als ganz gewöhnliche Diktaturen behandeln. Sie setzen mitten in Europa die unheilvolle Tradition totalitärer Regime fort. Das Milosevic-Regime setzt seine Säuberungsaktionen fort und stellt damit sein Volk in ganz Europa an den Pranger. Ein solches Regime kann also weitere Katastrophen provozieren oder vorbereiten, die wir auf gar keinen Fall hinnehmen dürfen.

dt. Matthias Wolf

*Dozent am Institut für europäische Studien an der Universität Paris-VIII, Autor von „Les Cent portes de l'Europe centrale et orientale“, Paris (Atelier) 1998.

Fußnoten: 1 Siehe Damien Roustel, „Ein Pyrrhussieg in Rumänien“, Le Monde diplomatique, Februar 1999. 2 Nebojsa Popov (Hrsg.), „Radiographie d'un nationalisme, les racines serbes du conflit yougoslave“, Paris (Atelier) 1998. Die folgenden Zitate wurden dieser Publikation entnommen. 3 Le Monde, 3. April 1999. 4 Le Monde, 21. Juni 1995. 5 Siehe Thomas Hofnung, „Mythen und Devisen“, Le Monde diplomatique, April 1999. 6 Siehe hierzu den Bericht von Sophie Shihab, Le Monde, 8. April 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von JEAN-YVES POTEL