08.08.2008

Der emsige Onliner

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Der emsige Onliner

Seitdem das Internet mehr und mehr Teil unseres Alltags wird, also seit ungefähr 10 Jahren, wird es in regelmäßigen Abständen als heilbringender Segen gepriesen oder als der Untergang des Abendlands verteufelt. Während die Gründer der Videoplattform YouTube oder der Communitysite MySpace durch das Internet zu irrsinnigem Reichtum gelangten, müssen die Musik- und Filmindustrie entsetzt mitansehen, wie die vielen legalen und illegalen Downloads ihre alten Gewinnmodelle pulverisieren.

Auch das Zeitungsgeschäft muss in Deutschland seit geraumer Zeit hohe Einbußen hinnehmen. Den Tageszeitungen sterben die Abonnenten weg, und die Jugend will kein Print-Abo, sondern surft lieber im Netz. Deshalb wollen die Zeitungsverlage mit den Nachrichten im Netz Geld verdienen. Das aber erweist sich als schwer. Alle Ansätze, für das Zeitungsangebot im Netz einen Abopreis durchzusetzen, sind bis auf wenige Ausnahmen fehlgeschlagen: Die Leser wünschen sich ihre Onlinemedien kostenlos.

Deshalb muss das Geld im Internet mit Anzeigen verdient werden. Der Onlineanzeigenmarkt wächst zwar, aber die Nettowerbeeinnahmen von Onlinediensten erreichten im vergangenen Jahr gerade mal 3 Prozent Marktanteil – während Tageszeitungen bei etwa 22 Prozent liegen. Deshalb sind die Onlineauftritte für die meisten Verlage noch ein Verlustgeschäft.

Viele Zeitungsunternehmen täuschen darum ihren Onlineauftritt nur vor, wie es der Medienwissenschaftler Robin Meyer-Lucht nennt. Gerade kleinere Tageszeitungen füllen ihren Onlineauftritt zu weiten Teilen mit den Inhalten aus der Zeitung – und führen damit das Medium – aus Kostengründen – ad absurdum. Denn die Nachrichten von gestern erhält der Leser in der Zeitung, die Nachrichten von heute sucht er im Netz, und zwar dann, wenn sie passieren, nicht bei Redaktionsschluss. Die Texte der Printredakteure und Edelfedern ersetzen am Ende des Redaktionstags die Meldungen der Onlineredaktion, die diese unter Zeitdruck zusammengeschustert hat.

Dabei zieren sich viele Printredakteure, den Onlinekollegen ihre Texte zu überlassen, da sie den Kannibalisierungseffekt fürchten. Unterschwellig werden die großen Onlineredaktionen von Verlagshäusern wie Stiefkinder behandelt. Man bemüht sich zwar, sie genauso zu lieben wie die Printabteilungen, aber man schafft es nicht. Die 2006 in vielen deutschen Verlagshäusern ausgerufene Onlineinitiative beruhte selten auf Überzeugung, sondern bediente nur die Wünsche von Großaktionären und anderen Teilhabern.

Dabei sitzen auch in den Onlineredaktionen der Tageszeitungen gut ausgebildete Journalisten. Doch die müssen mehr als nur ihr Spezialgebiet abdecken und können aus Personalmangel auch nicht lange recherchieren. Zusätzlich müssen sie auch noch Fotos zuschneiden und Leserbriefe beantworten, und bei alledem dürfen sie die Nachrichtenticker und die einschlägigen ausländischen Sites und Blogs nicht aus dem Auge lassen.

Der Onliner soll dem Leser eine bunte Mischung an aktuellen Informationen anbieten. Dass er dabei auf die Klicks schaut, versteht sich von selbst. Das heißt aber nicht, dass deshalb nur die beliebten Boulevardthemen auf einer Nachrichtensite auftauchen. Es gibt Themen, die zum Profil der Zeitung gehören, Themen des Tages und auch Unterhaltung. Onlineartikel fallen häufig kurz aus, weil etwa lange Reportagen am Bildschirm ungern gelesen werden, Das wissen die Onliner, weil sie im Gegensatz zu Printredakteuren die Reaktionen der Leser anhand der Klickzahlen ständig überprüfen können.

Während die meisten deutschen Tageszeitungen enttäuscht sind, dass die Onlineleser – die sie für ihren „Trash“-Geschmack heimlich verachten – ihren halbherzigen Onlineauftritten nicht die gewünschten Klickzahlen bescheren, sieht es bei den Netzauftritten der Wochenzeitschriften schon anders aus. Spiegel Online ist es in Deutschland in den letzten Jahren gelungen, sich mit einem ständig weiterentwickelten Angebot und einem klaren Bekenntnis zum Medium durchzusetzen und Geld zu verdienen. Dass man allen anderen Onlinezeitungen weit voraus ist, resultiert vor allem daraus, dass Spiegel Online als Netzangebot unabhängig vom Printprodukt funktioniert.

Es ist sicher kein Zufall, dass drei der fünf erfolgreichsten Nachrichten-Sites in Deutschland ein Magazin und keine Tageszeitung im Rücken haben. Auf Spiegel Online folgen Stern.de, Focus Online und Welt Online. Ganz vorn liegt mittlerweile allerdings Bild.de. Während sich Spiegel Online im Juni 2008 nach Angaben der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) auf 540 Millionen PIs (Page Impressions) bzw. Klicks steigern konnte, zählte die IVW für die Website des Boulevardblatts von Springer im Juni 2008 bereits über 800 Millionen PIs. Damit dürfte Bild.de noch in diesem Jahr die Milliardengrenze überschreiten.

Die Klickzahlen sind die „Währung“ im Netz. Wie die Einschaltquote im Fernsehen dienen sie als Basis für die Anzeigenpreise. Wegen dieser ökonomischen Funktion der Klicks spielt auch die normale Google-Suche sowie die spezielle Nachrichtensuche mit Google News eine wichtige Rolle. Deshalb produziert man Websites heute suchmaschinenoptimiert, damit die einzelnen Artikel bei Google News dem nach einem Stichwort suchenden Leser möglichst „weit vorn“ angeboten werden. Dafür bedarf es neben der technischen Optimierung der Website auch einer Artikelüberschrift, die nicht kryptisch ist, sondern prägnante Schlagworte enthält, die von potenziellen Lesern für die Suche eingegeben werden.

Zur Klicksteigerung werden auf Websites besonders gern Bildergalerien angeboten, zuweilen zu häufig grotesk-banalen Themen wie: „Welches Dekolleté gehört zu welchem Filmstar?“ Hier soll sich der gefällige Betrachter also mit 200 Klicks durch die Bildergalerie klicken. Auch mit anderen Angeboten wird der Rahmen, den die überholten Regeln der IVW zur Zählung von PIs vorgibt, bis an die Grenze des Absurden ausgenutzt: Welt Online bietet ein Kreuzworträtsel an, bei dem jeder Eintrag eines einzelnen Buchstaben als Seitenaufruf gezählt wird.

Videos sind ebenfalls sehr beliebt, bringen aber auch nur einen Klick, obwohl der Leser womöglich lange auf der Seite verweilt. Umgekehrt ist es bei sozialen Netzwerken wie StudiVZ, auf deren Seiten man sich laufend weiterklicken muss. So kommt StudiVZ auf mehr als 5 Milliarden Klicks im Monat, obwohl Spiegel Online mehr Benutzer hat. Deshalb wird seit einiger Zeit diskutiert, ob statt PIs nicht in Zukunft die „Unique Users“ gezählt werden sollen, die über einen bestimmten Zeitraum auf der Website verweilen – oder die „Visits“, den Aufruf einer Seite, ungeachtet der einzelnen Aktivitäten des Nutzers.

Das Schielen auf die Klickstatistik kennt jeder, der Inhalte im Netz veröffentlicht. Ob ein Artikel 20 oder 200 Leser in einer Viertelstunde hat, hängt oft genug vom leserfreundlichen Aufbereiten der Inhalte ab. Hier liegt deshalb die Hauptaufgabe des Onlinejournalisten. Aber wichtig ist auch, dass ein bemerkenswerter Artikel im Netz gut verlinkt wird. Das kann einer Seite sehr viel mehr Klicks bringen als viele Kurzmeldungen. Zudem kommen viele Leser auf eine Seite zurück, auf der sie etwas Gutes gelesen haben. Denn die Leser schätzen auch im Internet fundiert aufbereitete Inhalte und die professionelle meinungsbildende Einschätzung der Zeitung ihres Vertrauens. Banalitäten finden sich im Netz ausreichend und regelmäßig jenseits der Nachrichtensites.

Ablehnung und Akzeptanz des Internets bei den Medienunternehmen lösten sich bislang wellenförmig ab. In Deutschland steht die Branche wieder an einem kritischen Punkt. Da spektakuläre Gewinne nach der Web-2.0-Euphorie ausgeblieben sind, muss sich erst noch zeigen, wer langfristig auf das Onlinemedium setzt und wer nicht.

Julia Niemann

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.08.2008, von Julia Niemann