14.11.2008

Brief aus New York

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Brief aus New York

von Catherine Tice

13. Oktober 2008: Die Vereinigten Staaten scheinen gerade das zu erleben, was der große Historiker Edward Gibbon als Schicksal des alten Rom in dessen unheilvollsten Augenblicken beschrieben hat: Am Ende bekommt jeder sein Fett. „Carthaginem esse delendam“, sagte bekanntlich Cato (und öfter als nötig), und wir haben ungefähr dasselbe über das Hussein-Regime gesagt: Der Irak muss zerstört werden. Man sieht ja, wohin uns das gebracht hat: Wir haben mindestens eine Billion Dollar Schulden und stecken in einer Außenpolitik fest, für die sich der Durchschnittsamerikaner nur schämen kann. Bei Auslandsreisen tun wir so, als seien wir Kanadier. Die Barbaren sind jetzt wir.

Die „Bush-Doktrin“, das Symbol des moralischen Bankrotts der USA, war der blinzelnden Hockeymom aus Alaska bis vor kurzem gar kein Begriff. Dass Sarah Palin irgendwann US-Präsidentin sein könnte, zeigt, die Vandalen sind zurück, nur haben sie jetzt Gewehre, schießen die Wölfe vom Hubschrauber aus und winken unseren russischen Nachbarn über das schmelzende Packeis zu. Übrigens: Die Leute in New York haben sowieso den Eindruck, dass im Rest des Landes lauter Vandalen leben. Und die finden ihrerseits, dass wir in Sodom wohnen und dass sie auf gar keinen Fall in einer Stadt aufwachen wollen, die niemals schläft.

14. Oktober: Ich male mir aus, wie ich in klobigen, schweren Wanderschuhen die 350 Meilen nach Delaware County gehe, eine leeren Gegend mit ein paar Milchfarmen. Vor vielen steht „For sale“, einige haben auf dem Rasen vor dem Haus Werbung für McCain & Palin. Ich würde mit meiner Schubkarre voll Geld ankommen, mir ein Stück Land anschaffen und Kartoffeln anbauen. Nie mehr würde ich etwas kaufen, das mein großbürgerliches Alter Ego schick findet, und ich würde nie mehr essen gehen. Das klingt nach Gefängnis. Ich würde mich mit meiner Kartoffelbauernexistenz zufriedengeben und – umgeben von bibeldreschenden, fingerhakelnden Republikanern – mittelmäßige Epigramme schreiben. So mittelmäßig wären die vielleicht gar nicht, dank der Inspiration durch Kargheit, eintöniges Essen und viel frische Luft.

Mal im Ernst – die Leute reden schon davon, dass sie Banken stürmen, ihr ganzes Geld abheben und zu Hause verstecken wollen. Ich habe 500 Dollar abgehoben und im Bücherregal versteckt, in dem Buch „The Importance of Being Earnest“. Dann begann ich das Geld auszugeben. Ich hoffe, mein Mann findet nicht raus, dass es einen Ansturm auf das Geheimfach gegeben hat, es sind nur noch 100 Dollar übrig. Es war seine Idee, wie auch das Versteck, aber er weiß nicht, dass ich Eiskrem und Öko-Glühbirnen dafür gekauft habe.

20. Oktober: Obama hat sich gegen den Vorwurf gewehrt, er sei Sozialist: McCain würde ihn schon als Sozialisten bezeichnen, wenn herauskäme, dass er als Kind sein Erdnussbutter-Sandwich mit einem Schulkameraden geteilt hat. Worum es eigentlich geht: Obama will die Steuern für die Reichen erhöhen, für Leute, die mehr als 250 000 Dollar im Jahr verdienen.

McCain meint anscheinend, dass niemand höhere Steuern zahlen soll, er will die von Bush gewährten Steuererleichterungen für immer festschreiben. Obamas Konzept läuft darauf hinaus, dass die Superreichen 39 statt 36 Prozent Einkommensteuer zahlen. Aber die Superreichen hängen an ihrem Geld. Sie würden nie auf den Gedanken kommen, ihr Erdnussbutter-Sandwich mit jemandem zu teilen, schon gar nicht, wenn sie dann mehr Steuern zahlen. Nicht zu fassen, diese Gier. Und für solche Leute, die sieben Häuser haben und die 3 Prozent für sich behalten wollen und alle Erdnussbutter-Sandwiches dazu, macht McCain sich stark.

27. Oktober: Ich muss zugeben, dass ich es nicht über mich gebracht habe, mir die halbstündige Obama-Show anzuschauen, die auf drei Fernsehkanälen lief. Sie war offenbar sehr raffiniert gemacht, auch bernsteinfarben wogende Weizenfelder kamen vor – Weizenfelder wie bei Reagan, damals 1984, oder war das 1980? Jedenfalls hat auch Kennedy sowas Ähnliches gemacht, in einem alten Schwarzweiß-Fernsehspot von 1960, den ich im Internet gefunden habe. Er besucht eine typische weiße Mittelklassefamilie und „interviewt“ sie. Eine blonde Frau mit perfekter Frisur blickt in die Kamera und erzählt davon, dass alles viel teurer geworden ist. Der Mann sagt, er weiß nicht, ob er Geld fürs College seiner Kinder zurücklegen kann, und schlägt dann umständlich die Beine übereinander. Dann spricht der künftige Präsident Kennedy in diesem entsetzlich monotonen Tonfall des jungen Fernsehens.

Ich kann Obama keinen Vorwurf daraus machen, dass er solche Info-Propaganda produziert. Aber es irritiert mich, dass er dafür so viel Geld ausgibt. Andererseits, vielleicht musste er es machen – dieses „Schlusswort“ an das amerikanische Volk richten. McCain hat einen Auftritt in „Saturday Night Live“, der TV-Show, in der Tina Fey mit ihrer Sarah-Palin-Parodie die besten Szenen dieses Wahlkampfs liefert. Da witzelt McCain, dass er kein Infomercial bezahlen kann; er könne sich ja kaum die Spots beim QVC-Kabelsender leisten. Das ist der Shopping-Kanal für Leute, die am liebsten von zu Hause aus einkaufen, wobei sie im Bett Nachos und Twinkies knabbern.

4. November: In der Schlange vor dem Wahllokal. Es ist ein Kindermuseum in SoHo. Ich habe mein Handy vergessen. Es ist Viertel nach sieben, ich will früh wählen und dann wieder nach Hause, um meinen Sohn für die Schule fertig zu machen. Die fünfzig Leute vor mir wollen das auch. Aus irgendwelchen Gründen ist die Schlange 90 Minuten lang. Ich stehe zwischen zwei Leuten, die im selben Haus wohnen. Die Stimmung ist eine Mischung aus Optimismus und Angst. Allen fehlt ihr Morgenkaffee. Die Frau vor mir ist mit einem Psychologen verheiratet; der junge Mann hinter mir kennt viele Leute, die letzten Monat ihren Job an der Wall Street verloren haben. Sie hätten ein „Polster“, meint er, und könnten ihre irrsinnigen Manhattan-Mieten weiter bezahlen, wenn sie etwas bescheidener leben, und irgendwann würde es ja wieder bergauf gehen.

Unsere Schlange windet sich langsam voran, wir sind jetzt auf einem Aluminiumsteg an der Eingangstür. Warum dauert das so lange? Ich hole mir das Blatt mit den Vorschriften über die Erklärung, die man abgeben muss, falls man aus irgendeinem Grund nicht in der Wahlkabine abstimmen darf. Es liegt auf Englisch, Chinesisch, Spanisch und Koreanisch aus.

Drinnen erklärt uns ein Polizist, dass nur eine der beiden Wahlkabinen benutzt werden könne. Die zweite würde zwar auch funktionieren, aber der Wahlausschuss habe nur einen technischen Helfer geschickt. „Ich hab sofort da angerufen!“ Der Polizist entschuldigt sich. Alle hatten mit einer hohen Wahlbeteiligung gerechnet, aber die Stadt entlässt wahrscheinlich schon Personal, einschließlich Wahlhelfer.

In der Schlange stehen lauter weiße Berufstätige und zwei Kinder, die sich beschweren, weil sie zu spät in die Schule kommen. Ein Dokumentarfilmer, den ich kenne, kommt vorbei. Er und seine Frau haben schon abgestimmt, sie grinsen über beide Ohren.

Unsere Schlange kriecht über die Schwelle des Museums. An der Wand hängt der Stimmzettel, den wir in der Wahlkabine vorfinden werden. Democratic – Republican – Working Families – Socialist Workers – Socialists – Green Party. Eine grüne Partei? Ja, die haben wir auch. Ihre Kandidatin heißt Cynthia McKinney. Warum hat man sie nicht in die Fernsehshows eingeladen? Sie ist schließlich die erste schwarze Frau, die als Grüne ins Weiße Haus ziehen will.

Nicht zu fassen, ich bin ganz vorn in der Schlange. Vor mir sitzt eine Dame, die sehr langsam Namen auf Wählerausweise schreibt; eine andere Dame sucht meinen Namen in der Liste und studiert meinen Führerschein, alles mit der Gemächlichkeit eines Gletschers. Sie wird ständig abgelenkt, denn unsere Schlange drängt und schiebt ungeduldig. Diese Frau ist so beschäftigt damit, einen großen historischen Moment zu erleben, dass sie meinen Namen zweimal übersieht. Sie macht das nicht absichtlich, sie ist einfach aufgeregt. Sie ist die Kaiserin des Wahllokals.

Rechts von mir ist die Wahlkabine. So habe ich mir immer eine sowjetische Gemeinschaftsdusche vorgestellt: der alte Typ von Kabine mit schweren, grauen Kunststoffvorhängen. Und dann der große Metallhebel. Zuerst bewegst du ihn nach rechts, rums. Dann drückst du alle Schalter für deine Kandidaten, dann bewegst du den Hebel nach links, rums, und der Vorhang geht wieder auf, und der Nächste ist dran. Obama – zum achten Mal stimme ich bei einer Präsidentenwahl für einen Demokraten.

Wie soll ich diesen Tag durchhalten? Kein Mensch kann abschalten. Wir haben alle Angst, immer noch sitzt uns die Hängepartie von 2000 im Nacken und die reale Möglichkeit, dass Obama Ohio nicht gewinnt. Ich tröste mich mit dem Kauf von großen Mengen europäischem Edelkäse. Ganz benommen hetze ich nach Hause, schnappe meinen Sohn, hetze wieder los und lande in der Küche meiner Freundin Mia, wo alle möglichen Leute versammelt sind. Ich beginne zu essen, kubanische Hühnchen, schwarze Bohnen mit Reis, europäischen Edelkäse und dann alles noch mal. Ich fühle mich krank. Warum esse ich, als wäre es meine letzte Chance? Der Fernseher plärrt, CNN, MSNBC, die Experten näseln immer stärker. New Hampshire Yes. South Carolina No. Jetzt schließen die Wahllokale in Kalifornien. Die Proposition Eight, die das Recht auf Eheschließung von gleichgeschlechtlichen Paaren wieder abschaffen will, ist angenommen. Meine schwulen Freunde werden todunglücklich sein.

5. November: Ich gehe über die Hudson Street Richtung Büro. Der Himmel ist bedeckt, die Luft lau. Ob das am Klimawandel liegt, dass sich dieser Herbsttag nach Frühling anfühlt? Wenn jetzt Frühling wäre, können wir nicht das 21. Jahrhundert heute beginnen lassen? Die letzten acht Jahre gehörten noch zum 20. Jahrhundert. Heute aber sollten wir den Beginn eines zivilisierten, auf Kenntnissen und Respekt beruhenden Umgangs mit dem Rest der Welt feiern. Dieses Wahlergebnis bringt unser globales Gewissen zum Ausdruck, und nicht nur unsere Selbsterhaltungsreflexe. Jetzt sind wir erleichtert, dass wir vielleicht all das Unrecht wiedergutmachen können, das in den letzten acht Jahren im Namen der Demokratie angerichtet wurde. Wenn die Welt uns Bush verzeihen kann – mitsamt den Menschenrechtsverletzungen von Guantánamo bis zu all den geheimen CIA-Flügen – kann sie uns auch fast eine Dekade moralischer Verwerflichkeit verzeihen? In den USA ist moralische Verwerflichkeit, wie ich bei Wikipedia lese, der juristische Begriff für ein Verhalten, das gegen die „allgemeinen Auffassungen von Gerechtigkeit, Ehrbarkeit und Anstand“ verstößt. Meine Wiki-Moral ist wieder gefestigt. Es fühlt sich gut an, zu wissen, dass unser neuer Präsident moralisch sensibel ist.

Auf dem Bürgersteig liegen zermatschte, faulig riechende Gingko-Früchte. Der Geruch von feuchten Gingko-Blättern wird erst mit dem ersten Frost verschwinden.

Catherine Tice ist Associate Publisher bei der New York Review of Books. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 14.11.2008, von Catherine Tice