08.04.2004

Getanzt wird erst im Juni

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Getanzt wird erst im Juni

AM 25. April 1974 erklang im portugiesischen Rundfunk das Lied „Grandola villa morena“. Es war das Signal zum Losschlagen für die Offiziere von der „Bewegung der Streitkräfte“ gegen die faschistische Diktatur. Fast ohne Blutvergießen ging die Herrschaft Salazars zu Ende. Doch für die portugiesischen Kolonien war der Tag der Befreiung noch nicht gekommen. Es vergingen noch fünf Monate bis zum Ende des Kriegs, bis zur endgültigen Unabhängigkeit dauerte es noch über ein Jahr .

Von MIA COUTO *

Den 25. April 1974 erlebte Mosambik mit einer Mischung aus Furcht und Freude. Und auch die Freude war recht unterschiedlich. Da gab es die reine Freude derer, die unter Faschismus und Kolonialismus gelitten hatten. Andere schienen weniger aufrichtig: Auch koloniale Organisationen begrüßten die Nelkenrevolution. Fünf Monate später versuchten dieselben ultrarechten Kolonialherren in Lourenço Marques – dem späteren Maputo – einen Putsch gegen das von Mário Soares und Samora Machel unterzeichnete Friedensabkommen zwischen Portugal und Mosambik.

Was war das für eine historische Situation, die eine so dehnbare Freude auslöste –bei durchaus gegensätzlichen Zielen und Interessen? Das faschistische Kolonialregime war für fast alle politischen Gruppierungen, von der Linken bis zur extremen Rechten, zur Belastung geworden. Folglich war es mit der Nelkenrevolution wie mit dem Ei eines Krokodils: Was herauskommt – Männchen oder Weibchen – hängt von der Außentemperatur ab.

So vielfältig wie die Freude war die Furcht. Erstens, weil einige Mitglieder der umstürzlerischen „Junta zur Nationalen Rettung“ als Generäle gegen die Befreiungsbewegungen in Afrika gekämpft hatten. Was nicht unbedingt die beste Visitenkarte war. Manche, wie Galvão de Melo, waren geradezu finstere Figuren des Militärapparats. Andere, wie General Spínola, vertraten eine reformierte Kolonialpolitik, d. h. sie waren nicht gegen die koloniale Herschaft an sich, sondern gegen die taktischen Mittel, mit denen die portugiesische Präsenz aufrechterhalten werden sollte.

Die ersten Verlautbarungen der „Junta zur nationalen Rettung“ verrieten eine bemerkenswert zwiespältige Haltung gegenüber der Kolonialfrage. Am 29. April erklärte General Spínola auf einer Pressekonferenz: „Wir beabsichtigen die Entwicklung in Übersee dergestalt zu beschleunigen, dass es zu einer Selbstbestimmung der afrikanischen Völker unter portugiesischer Fahne kommt.“ Selbst General Costa Gomes, eindeutig weiter links stehend als Spínola, stellte fest: „Wir sind entschlossen, die Guerilla zu bekämpfen […], bis sie auf unser Angebot eingehen, die Waffen niederlegen und sich als politische Partei präsentieren wird.“ Die revolutionären Offiziere von der „Bewegung der Streitkräfte“ (MFA) mussten einen erbitterten Kampf führen, um jede Art der Fortsetzung der Kolonialpolitik im Ansatz zu verhindern. Das dauerte lange.

In den portugiesischen Städten gingen die Menschen nach der Nelkenrevolution zu tausenden auf die Straße und riefen: „Nicht einen Soldaten mehr für die Kolonien!“ In Mosambik gingen hunderte von jungen Leuten heimlich über die Grenze und schlossen sich der Guerilla an. Die einen wollten nicht Soldaten werden. Die anderen träumten von der Guerilla.

Die Frelimo (Front zur Befreiung von Mosambik) beschloss, den militärischen Kampf auch nach dem 25. April fortzusetzen. „Wir kämpfen nicht nur, um den Faschismus in Portugal zu besiegen, sondern vor allem, um den Kolonialismus in Mosambik zu beenden“, verkündete die nationalistische Guerilla.

Gleichwohl, der Sturz des faschistischen Kolonialregimes wurde von der Frelimo begrüßt, ebenso von allen anderen Befreiungsbewegungen in den damaligen portugiesischen Kolonien Angola, São Tomé, den Kapverden und Guinea-Bissau. Schließlich hatten sie mit ihrem Kampf zum Sturz beigetragen, und ganz so überraschend dürfte er für sie nicht gewesen sein.

Die Führungsspitze der Frelimo war durch klandestine Sympathisanten in Portugal über Revolutionspläne innerhalb der Streitkräfte seit langem informiert. Zu diesen Sympathisanten gehörte auch der Schriftsteller und Journalist Leite de Vasconcelos, der als Rundfunkmoderator das Lied „Grândola Vila Morena“ in den Äther schickte und damit das Zeichen für den Beginn der Revolution gab. Joaquim Chissano, heute Staatspräsident von Mosambik, war 1974 Chef der Sicherheitsdienste der Frelimo: „Wir wussten von der Bewegung der Offiziere und beobachteten, wie die Unzufriedenheit innerhalb der portugiesischen Streitkräfte wuchs. Wir hatten Kontakt zu Informanten aus ihrer Mitte.“

Als Einzige der Befreiungsbewegungen in den portugiesischen Kolonien erteilte das Exekutivkomitee der Frelimo am 27. April dem vorgeschlagenen Weg zu „Demokratie im Mutterland und demokratischem Kolonialismus in den Staaten in Übersee“ eine eindeutige Absage. Weiter hieß es: „Ebenso wie das portugiesische Volk ein Recht auf Unabhängigkeit und Demokratie hat, können diese Rechte dem Volk von Mosambik nicht verwehrt werden. Für diese Grundrechte kämpfen wir. Das Ziel der Frelimo ist eindeutig: die vollkommene, uneingeschränkte Unabhängigkeit des mosambikanischen Volks, die Beseitigung des portugiesischen Kolonialismus.“

Bis 1974 hatte sich die Frelimo in den ländlichen Gebieten in der Hälfte des Landes, vor allem im Norden und Zentrum von Mosambik, gut verankert. Doch die Bewegung brauchte Zeit, um sich auch in den urbanen Zentren zu organisieren, denn dort waren die kleinen klandestinen Zellen in den 60er-Jahren von der Geheimpolizei Pide-DGS zerschlagen worden. Die Frelimo genoss zwar in den Städten die Sympathie der Intellektuellen, aber ihr fehlte es an einer festen, durchorganisierten Struktur. Dennoch entstand nach dem 25. April kein Vakuum. Junge Leute besetzten Radiosender und Zeitungen, um jeden Versuch, ein neokoloniales Regime einzuführen, im Keim zu ersticken.

Unter uns Studenten aus Lourenço Marques (dem heutigen Maputo) herrschte bereits 1970 eine Proteststimmung. Einige der Siedlerkinder und der Assimilierten wollten lediglich gegen den portugiesischen Faschismus kämpfen. Ihr Ziel war der demokratische Wandel in Portugal, der sich dann, so ihre Hoffnung, auf die so genannten Überseegebiete auswirken sollte, um so das zu beenden, was in ihrer Sprache „Kolonialkrieg“ hieß. Für andere jedoch stand der unmittelbare Kampf gegen den Kolonialismus im Mittelpunkt. Den Begriff „Kolonialkrieg“ kannten sie nicht, für sie hieß es: bewaffneter Befreiungskampf.

Im März 1974 arbeitete ich in Lourenço Marques als Volontär bei einer Nachmittagszeitung. Da ich in klandestinen Gruppen zur Unterstützung der Frelimo aktiv war, hatte man mich gebeten, mein Studium aufzugeben und bei einer Zeitung der Hauptstadt zu arbeiten, um mosambikanische Kader in die Nachrichtenorgane „einzuschleusen“ (wie das damals hieß). Einen Monat nachdem ich mein Volontariat begonnen hatte, kam der 25. April.

Am nächsten Tag gab es in den Schlagzeilen der größten Zeitungen von Lourenço Marques kein einziges Wort von Revolution oder Staatsstreich. Notícias titelte auf der ersten Seite: „General Spínola – Chef der portugiesischen Nation“. Der Staatspräsident und der Premierminister waren schon verhaftet worden, dennoch schrieb die Zeitung: „Nach nicht offiziell bestätigten Informationen soll eine Militärjunta die Macht übernommen haben.“ Die Nachmittagszeitung A Tribuna druckte zwar das Kommuniqué der Junta ab, hob jedoch besonders den folgenden Satz hervor: „Die Junta will das Überleben der Nation als souveränes Vaterland in seiner plurikontinentalen Gesamtheit sichern.“

In den Straßen der Stadt, die noch immer Lourenço Marques hieß, feierten die Menschen, zwar freudig, doch vor allem überrascht und mit gewissen Vorbehalten. Dies war noch nicht das Fest der Mosambikaner. Es war das Fest der Portugiesen. Wir waren nur dazu eingeladen. Unser Fest, unser 25. sollte erst noch kommen. Und er kam tatsächlich, allerdings ein Jahr später, als am 25. Juni 1975 die Unabhängigkeit Mosambiks offiziell proklamiert wurde.

In der Zeit nach der Revolution in Portugal waren bei uns in Mosambik die Fronten unklar. Da die gefürchtete Geheimpolizei Pide-DGS nicht sofort aufgelöst wurde, waren die schlimmsten Repressionsorgane des Regimes weiterhin aktiv, und die Kolonialtruppen blieben im Land. Nur einzelne Kompanien legten die Waffen nieder. Durch direkte Verhandlungen von Soldaten und Offizieren mit den Guerilleros entstanden freie Gebiete – diese Inseln, in denen man der militärischen Gewalt abgeschworen hatte, waren für die Verfechter der „kolonialen Kontinuität“ ein herber Rückschlag. In Mosambik, dem Zentrum des Kolonialkriegs, waren 65 Prozent der portugiesischen Streitkräfte stationiert, davon waren 53 Prozent schwarze Mosambikaner. Nur wenige Soldaten waren bereit, in einem Krieg zu sterben, der nicht der Ihre war.

Eine breite portugiesische Öffentlichkeit, darunter auch Teile der Linken, war der Ansicht, nicht der bewaffnete Kampf der Befreiungsbewegungen habe – zusammen mit dem Kampf des portugiesischen Volkes – zur Nelkenrevolution geführt, sondern Mosambik, Angola, São Tomé, die Kapverden und Guinea-Bissau verdankten ihre Unabhängigkeit dem 25. April. Ihrem Geschichtsverständnis zufolge hatten also die Portugiesen die Afrikaner befreit. So jedenfalls sehen viele Portugiesen den Prozess der „Entkolonisierung“. Wer aber hat hier wen entkolonialisiert? Die Afrikaner haben die Frage chirurgisch gelöst – sie strichen den Begriff aus ihrem Wortschatz.

Erst im September 1974 übernahm eine mehrheitlich mosambikanische Übergangsregierung die Macht. Den allermeisten der 250 000 Portugiesen, die in Mosambik lebten, war das Verständnis für historische Zusammenhänge und für die Unvermeidlichkeit von Veränderungen so weit ausgetrieben worden, dass sie die Übergangsregierung als „Verrat“ ansahen. In den folgenden Monaten führte dieses Unverständnis zu gewalttätigen sozialen Unruhen, die wie durch ein Wunder nicht im Blutbad endeten.

Die meisten dieser Portugiesen richteten ihren Protest gegen die Revolutionäre und fortschrittlichen Kräfte, die in Portugal an der Spitze der antifaschistischen und antikolonialistischen Bewegung standen. Mário Soares und Almeida Santos bekamen ihren Hass besonders zu spüren. „Diese Verräter verkaufen uns an die Schwarzen“: So kommentierten sie die Verhandlungen, die zum Ende des Krieges führten. Das Friedensabkommen wurde erst am 7. September 1974 unterzeichnet, also fünf Monate nach der Nelkenrevolution, neun Monate vor der offiziellen Unabhängigkeit. Eine leidvolle Wartezeit, für beide Seiten.

1994, zum zwanzigsten Jahrestag der Nelkenrevolution, wollte mein portugiesischer Verlag ein Buch herausbringen und bat mich um einen Beitrag. Ich lehnte ab. Und erklärte, warum: Wir feiern unseren 25. nicht im April 1994. Nachdem ich meine Erklärung mehreren Informationsorganen gegenüber wiederholt hatte, musste ich feststellen, dass man mich nicht immer richtig verstand. Die einen reagierten gekränkt, sie glaubten, meine relativ distanzierte Haltung beruhe auf Ressentiment. Was ein Irrtum ist. Aber man kann nicht von den afrikanischen Völkern erwarten, dass sie den 25. April genauso feiern wie die Portugiesen. Auch für uns ist er ein Festtag, richtig. Und wir feiern ihn. Doch mit dem Respekt dessen, der zu Gast ist beim Gastgeber und Jubilar. Wir erwarten ja auch nicht von den Portugiesen, dass sie unsere Unabhängigkeit genauso feiern wie wir.

Fünfundzwanzig heißt auf Portugiesisch „vinte e cinco“. Ich habe ein Buch geschrieben mit dem Titel „Vinte e Zinco“ (dt. wörtlich: Fünf und Wellblech). Leider lässt sich das Wortspiel nicht übertragen. Es spricht von der Distanz zwischen zwei Welten, die dasselbe Ereignis unterschiedlich betrachten. Jene, die in Wellblechhütten lebten, haben am 25. Juni 1975, dem Tag unserer Unabhängigkeit, richtig gefeiert. Am 25. April 1974 haben sie gelacht. Am 25. Juni 1975 haben sie gesungen und getanzt. Auch wenn ihnen dabei der leise Verdacht gekommen sein mag, dass die Befreiung aus Armut und Elend noch mehrere Generationen dauern kann.

dt. v. Karin von Schweder-Schreiner

* Schriftsteller, portugiesischer Einwanderer mosambikanischer Herkunft, u. a. „Unter dem Frangipanibaum“, Roman, deutsch von Karin von Schweder-Schreiner, Berlin (Alexander Fest Verlag) 2000.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von MIA COUTO