16.01.2009

Verblendet in Gaza

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Verblendet in Gaza

von Alain Gresh

Am Samstag, den 27. Dezember, flog die israelische Luftwaffe die ersten Großangriffe auf Ziele in Gaza – nach israelischen Angaben auf Kommandozentralen der Hamas und ihrer Milizen. An dem Tag gab es auf palästinensischer Seite besonders viele Opfer: über 270 Tote und hunderte Verletzte. Die meisten waren Polizeischüler, die ihre Diplome entgegennehmen wollten – also nicht etwa gefährliche Terroristen, sondern normale künftige Polizisten, die den Verkehr regeln oder Revierdienst in den Wohnvierteln leisten sollen.

Die Offensive kam nicht unerwartet, und sie bedeutete auch praktisch das Ende für den von Ägypten zwischen der Hamas und Israel vermittelten Waffenstillstand, der am 19. Dezember ausgelaufen war. Eine Statistik des israelischen Außenministeriums zeigt, dass dieser Waffenstillstand seit seinem Beginn am 19. Juni durchaus beeindruckende Wirkung gehabt hatte: Im Februar 2008 waren 257 Raketen auf israelischem Gebiet eingeschlagen, im Juli war es nur noch eine, im August dann wieder acht, im September eine und im Oktober zwei. Die neuen Feindseligkeiten wurden durch eine israelische Kommandoaktion provoziert, bei der am 5. November in Gaza vier Kämpfer der Hamas getötet wurden. Kurz darauf gingen 124 Raketen auf Israel nieder.

Die ägyptischen Unterhändler hatten den Palästinensern zugesichert, nach Beginn des Waffenstillstands die Grenzübergänge zwischen Israel und Gaza schrittweise wieder zu öffnen. Doch das Gegenteil geschah: Die Bevölkerung des Gazastreifens litt unter einer verschärften Blockade, die den Protest von internationalen Organisationen herausforderte, weil sie auf eine Kollektivbestrafung hinauslief. Am 9. Dezember erklärte Richard Falk, der UN-Berichterstatter über die Einhaltung der Menschenrechte in den Palästinensergebieten, das Vorgehen Israels gegen die Bevölkerung komme einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gleich.

Hat die israelische Armee den Waffenstillstand nur gebrochen, um durch die Ausschaltung der Extremisten endlich den Weg zu einem Frieden freizumachen, den alle fordern? Ist ein Friedensvertrag nach der Vernichtung der Hamas denkbar?

Abgesehen davon, dass die Hamas in den Parlamentswahlen vom Januar 2006 die Mehrheit erlangt hat und einen erheblichen Teil der Palästinenser vertritt, sollte man sich in Erinnerung rufen: Israel hat einst die Friedensgespräche mit Jassir Arafat ebenfalls mit der Begründung abgebrochen, dass dieser kein glaubwürdiger und akzeptabler Verhandlungspartner mehr sei.

Als im Januar 2005 Mahmud Abbas zum Präsidenten gewählt wurde, zeigten sich Israel, die Vereinigten Staaten und die Europäer zufrieden: Endlich ein Gemäßigter. Seitdem sind die Verhandlungen zwischen der palästinensischen Führung und der israelischen Regierung vier Jahre lang ohne Ergebnis geblieben. Und das nicht wegen der Hamas, die an den Verhandlungen gar nicht teilnimmt, sondern weil Israel nicht bereit ist, das Völkerrecht zu achten und sich aus den seit 1967 besetzten arabischen Gebieten zurückzuziehen. In diesem Punkt bleibt Israel hart – auch gegenüber dem einmütigen Friedensangebot der arabischen Staaten, das in der Friedensinitiative des saudischen Königs Abdallah niedergelegt ist.

Am 3. Januar rückten israelische Panzer und Bodentruppen nach Gaza vor. Bis zum 12. Januar waren bereits nahezu 900 Tote zu beklagen. Fast die Hälfte von ihnen sind Kinder und Frauen. Und Israel hat eine Intensivierung seiner Militäroperationen angekündigt. Welche weiteren Zerstörungen diese bringen werden, läßt sich nicht voraussagen. Doch es wird Jahre brauchen, um allein die Infrastruktur wieder aufzubauen. Und noch länger, um die Traumatisierung der Menschen zu überwinden. Nach Meinung von Experten ist die militärische Struktur der Hamas kaum erschüttert worden; ihre Raketen schlagen weiterhin auf israelischem Gebiet ein. Dagegen verliert die Palästinensische Autonomiebehörde in Gaza wie auch im Westjordanland weiter an Glaubwürdigkeit.

Alle Kriege, die Israel in den letzten Jahren geführt hat, kamen am Ende nur den radikalsten Gruppen zugute. Deshalb gilt nach wie vor: Der Hauptgrund für die Instabilität im Nahen Osten ist die israelische Besatzung. Solange sie andauert, wird sie ein Nährboden für Gewalt und Extremismus bleiben.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2009, von Alain Gresh