15.08.2003

Sekten, Clans und Bandenkriege

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Sekten, Clans und Bandenkriege

DIE US-amerikanische Besatzungsmacht setzt im Irak nicht auf den immerhin vorhandenen relativ modernen Laizismus, um sich als Zivilisationsträger zu profilieren. Im Gegenteil, sie beseitigt eher die verbliebenen soziopolitischen Strukturen, sieht dem Chaos tatenlos zu, zerstört die ökonomische Solidarität und unterdrückt jeden Widerstand. Kurz, die Besatzer verhalten sich wie Kolonisatoren, indem sie ihre Herrschaft auf die Demütigung der Einheimischen gründen. Die US-amerikanische Kultur ist auf Aggression und nicht auf gesellschaftlichen Ausgleich ausgerichtet. Seit drei Jahrhunderten in ständigen Kämpfen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen befangen, scheinen die „Vereinigten Staatler“ nicht zu wissen, wie Solidarität untereinander anders als über den Angriff auf Fremde herzustellen wäre.

In „Gangs of New York“, seinem sehr schönen Film über die 1860er-Jahre, zeigt Martin Scorsese, dass die US-amerikanische Gewalt sich nie auf die Eroberung des Wilden Westens beschränkt hat, auch nicht auf einzelne Phasen wie die von Prohibition und Mafiatum geprägten 1920er-Jahre oder die 1960er-Jahre mit ihren Rassenunruhen. Sie äußerte sich sehr früh in der Geschichte des Landes, und für jeden Einwanderer schon unmittelbar in den ersten Minuten nach der Landung. Eine unmittelbare, extreme, endlose Gewalt existiert von Anfang an und für alle Schichten der Gesellschaft. Sie trifft den armen Ankömmling, der in einen grauenvollen Schuppen getrieben wird, wo sich eine schreiende Menschenmenge zusammendrängt. Aber sie gilt auch dem Reichen, dessen Haus beim ersten Krawall in Flammen aufgeht, und den kleinen Leuten, deren Wohnungen die Kanoniere der Regierung Abraham Lincolns(1) als Vergeltung für Straßendemonstrationen bombardierten. Schon damals brachte die nationale und internationale Polizei Bomben gegen die Zivilbevölkerung zum Einsatz.

Diese tödliche Gewalt scheint seit 500 Jahren mit der von Europäern überfallenen Neuen Welt verbunden zu sein und sich auch unablässig zu erneuern, in den Vereinigten Staaten weit mehr als in Kanada oder sogar Lateinamerika. Die Erklärung liegt für den mittlerweile berühmt gewordenen Dokumentarfilmer Michael Moore in seinem beeindruckenden „Bowling for Columbine“(2) weniger in der Unmenge von Waffen, die seine Mitbürger besitzen, als vielmehr in dem von den Medien geschürten Klima der Angst, der Paranoia und des Hasses. Warum aber schaffen die Medien der Vereinigten Staaten (nicht aber die der anderen Länder) ein solches Klima?

Auffallend ist, dass es unmöglich ist, sich selbst als „Vereinigten-Staatler“ zu bezeichnen, so wie man sich als Mexikaner, Kanadier oder als Brasilianer bezeichnet. Könnte es sein, dass die für die Vereinigten Staaten charakteristische Neigung zur Gewalt in all ihren Formen etwas mit dem Fehlen eines gemeinsamen Namens zu tun hat? Denn dieses Fehlen ist keineswegs zufällig oder belanglos. Es beruht auf dem Versuch bestimmter US-Amerikaner, ihre Unabhängigkeit gegenüber den europäischen Vaterländern eher durch die Vielfalt politischer und kultureller Gruppierungen als durch die Suche nach identitätsstiftender Solidarität zu behaupten. Und diesem Willen zur Vielfalt hat die Verfassung von 1786, von wie dauerhafter Gültigkeit sie auch sein mag, nur oberflächlich entgegengewirkt. Sodass sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts unerbittlich die Tendenz fortsetzt, für die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Unterschiede und für möglichst minimale Formen der Solidarität zu kämpfen.

Gestern wie heute ist die „US“-Kultur die Kultur einer ununterbrochenen Schlacht zwischen Individuen, Gruppen, Gemeinden, Kirchen, Staaten, zwischen Bürgerrechten und Konzepten von Bürgerschaft. Das – scheinbar paradoxe – Gegenstück dieses Wettstreits ist stets eine Koalition, d. h. ein Zusammenschluss von Banden, eine korporative Disziplin oder ein militärisches Bündnis unter der Leitung eines Bosses – mit aggressiver oder repressiver Zielsetzung. Wie damals vor 150 Jahren, als sich auf den Hauptstraßen der New Yorker Vorstädte „Gangs“ zusammenschlossen, um auf Leben und Tod um die Vormacht eines Clans zu kämpfen, geht es auch heute noch darum, dem anderen aus einer Position der Stärke entgegenzutreten und mit allen Mitteln die Oberhand zu gewinnen.

Amerikas rachsüchtige Haltung, die dazu führt, die afghanischen (und nichtafghanischen) Gefangenen in Guantánamo unmenschlich zu behandeln oder in Bagdad auf Frauen und Kinder in einer Menschenmenge zu schießen, beruht also nicht auf der Logik einer enthemmten Großmacht, die der Welt um jeden Preis ihr Gesetz aufzwingen will. Sie wurzelt in der Geschichte einer Auffassung vom Leben in Gesellschaft, die geradezu die Negation des Gesellschaftsbegriffs ist.

Wenn in den Vereinigten Staaten jedes Jahr über 10 000 Menschen durch Kugeln sterben (gegenüber einigen dutzend in Kanada, Großbritannien oder Frankreich), dann liegt das nicht nur an den Medien und daran, dass sie die Ängste der Menschen schüren; es rührt auch daher, dass sich in diesem Land nie die eigentliche Substanz einer Gesellschaft herausgebildet hat.

Sicher ist diese Erklärung nicht die ganze Wahrheit, aber sie kann doch als roter Faden dienen, um dem Wesen der Gewalt, wie sie in den Vereinigten Staaten entsteht, auf die Spur zu kommen, einschließlich der tief sitzenden Neigung, internationale Zwistigkeiten durch illegale Aktionen und Massaker an Zivilisten zu regeln.

Auf den ersten Blick scheint zwischen dem Amerika, das der Jurist Thomas Jefferson(3) – ein Republikaner im antiken, griechischen Sinne – sich vorstellte, und den Taten eines gewaltbereiten Souveräns ein krasser Gegensatz zu bestehen.

Wo Jefferson eine friedfertige Nation schaffen wollte, die sich vom „ewig Krieg führenden“ Europa unterscheide, ist ein kriegerisches Gebilde entstanden, das in einem grimmigen Kampf gegen sich selbst (Sezessionskrieg), gegen seine eigenen Zwangseinwanderer (zuerst Sklaven, dann freie Arbeiter) und gegen seine angestammten Ureinwohner (planmäßige Ausrottung vieler Millionen Indianer) antrat. Im Laufe der Zeit haben die Vereinigten Staaten gegenüber den anderen Ländern genau das praktiziert, was Jefferson den Franzosen unter Napoleon vorwarf: Sie haben versucht, „den Nachbarn ihre eigene Auffassung von Freiheit“ aufzuzwingen.(4)

Was freilich die hyperindividualistischen Vereinigten Staaten von den anderen amerikanischen Nationen unterscheidet,(5) die den Ideen gesellschaftlicher Solidarität mehr abgewinnen können, lässt sich bereits an Jeffersons Phobie gegen den Staat erkennen, den er als ein von Natur aus widerwärtiges Ungeheuer betrachtet.

Für Jefferson ist es ständige Pflicht eines jeden Bürgers, sich der „langen Reihe der Missbräuche und Usurpationen“ zu widersetzen, „die unabänderlich dasselbe Ziel verfolgen, nämlich ihn dem absoluten Despotismus zu unterwerfen“. Gewiss, dieser Despotismus ist zunächst der Despotismus der verpönten englischen Kolonialmacht, von dem es sich durch neue Gesetze zu befreien gilt.

Aber Jeffersons Sprache hat einen Tonfall, den ein Psychiater ohne weiteres als wahnhaft bezeichnen könnte. Denn hat nicht diese despotische Regierung, Jefferson zufolge, „ganze Heerscharen von neuen Beamten in dieses Land geschickt […], um seine Substanz auszuhöhlen“, „um das Werk des Todes, des Jammers und der Tyrannei zu vollenden […] mit einer Grausamkeit und Arglist, für die man auch in den barbarischsten Zeiten nur schwerlich ein Beispiel findet“? Hat sie nicht „bewaffnete Truppen in Stellung gebracht, um sie in einer illusorischen Prozedur vor der Strafe für die Morde zu schützen, die sie an den Einwohnern dieser Staaten verübt haben“?

Es sei darauf hingewiesen, dass die US-amerikanischen Führer und Militärs, merkwürdig rückwärts gewandt, Anspruch auf ähnliche Privilegien erheben, wenn sie sich nicht an internationale Gesetze halten und sich weltweiter Rechtsprechung – wie dem Internationalen Gerichtshof – entziehen wollen.

Nicht zu leugnen ist der fortschrittliche Geist der Freiheiten, die der erste Präsident der Vereinigten Staaten der „zerstörerischen“ Autorität des Staates entziehen wollte: die Freiheit des Denkens und der Rede, des Handels, der Religion, das Recht auf Leben und Streben nach Glück, das Recht auf Auswanderung, die Garantie der Nichtrückwirkung von Gesetzen, die Ablehnung der Schuldhaft, die Freiheit von lebenslänglichen Verpflichtungen, das Recht auf ungehinderte Kommunikation zwischen Mandanten und ihren Verteidigern, das Recht, mit benachbarten Staaten Handel zu treiben, das Recht zu arbeiten, um sein Brot zu verdienen, sich gegen Angreifer und Übeltäter zu verteidigen, die Habeas-Corpus-Akte usw. Doch ebenso wenig lässt sich übersehen, dass der grundlegende Hass auf den starken Staat langfristig in Gegensatz geraten muss zur „heiligen Pflicht, allen Leidenschaften zu entsagen, die uns entzweien“.(6)

Niemals hatte Jefferson die Absicht, über die Unabhängigkeit hinaus wirkliche nationale Solidarität auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien zu schaffen. Er besiegelte vielmehr einen Waffenstillstand zwischen den anglophilen Aristokraten im Süden und den Demokraten im Norden, die selbst von den Exilanten des englischen Bürgerkriegs abstammten. Mit der angestammten Bevölkerung hatte sein Projekt erst recht nichts zu tun. Der tolerante Republikaner Jefferson baute seine Karriere auf ein Bündnis – gegen die Bürgerlichen der Ostküste – mit den Siedlern im Landesinnern, die pausenlos Indianer jagten, „diese erbarmungslosen Wilden, deren wohl bekanntes Kriegsziel darin besteht, alles niederzumetzeln, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts und des Ranges“. Von der Mitte des folgenden Jahrhunderts an werden die neuen Bewohner Kaliforniens durch Prämien dazu ermuntert, die Indianer wie Ungeziefer zu erschlagen.

Im Laufe der US-Geschichte haben die immer neuen Wellen von Ankömmlingen am Ende stets versucht, den folgenden die Tür zu verschließen (mittels Quotenregelungen zugunsten ihrer eigenen nationalen Gemeinschaft) oder sie nötigenfalls auszubeuten und dadurch aufzureiben – ein Übergangsritus, der den Hass vom Ursprungsland auf das Gastland überträgt.

Der Strafcharakter liegt auf der Hand: Das Fehlen von Systemen gesellschaftlicher Solidarität im Zusammenhang mit Arbeit hat in den Vereinigten Staaten, im Vergleich mit anderen „zivilisierten“ Ländern, zu allen Zeiten unverhältnismäßig viele Arbeitsunfälle und ein hohes Maß an Verschleißerscheinungen hervorgebracht.

Im Ghetto oder im Country Club

SCHLIESSLICH waren die Vereinigten Staaten noch vor knapp 35 Jahren ein Land mit offizieller Apartheid für alle „Farbigen“ (wie Südafrika). Noch heute bestehen in den meisten Städten, ob großen oder kleinen, strenge Grenzen zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen sowie zwischen ethnischen Gruppen. Von den schwarzen Ghettos zu den jüdischen Vierteln, den Vororten der Hispanics bis hin zu den gated communities (geschlossenen Wohngebieten) und den Milliardären vorbehaltenen country clubs sind die Vereinigten Staaten das Symbol der räumlich-sozialen Aufteilung schlechthin.

Von Woodrow Wilsons(7) Ideal einer Gesellschaft der Nationen bis hin zu Lyndon B. Johnsons Projekt der „Great Society“ haben die politischen Führer „dieser vielfältigen, namenlosen Entität“ immer von solchen Gesellschaftsmodellen geträumt, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit. Wilsons Wunsch, 1920 eine demokratische Weltordnung zu schaffen, ist nicht in Erfüllung gegangen, und einige meinen sogar, dieser Wunsch habe zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beigetragen. Aber letztlich hat er, wie ein Kommentator vermerkt(8) mehr den Zustand des heutigen Europas beeinflusst als den der Vereinigten Staaten.

Seit dem 11. September 2001 sind die USA selbst Opfer einer massiven militärischen und polizeilichen Verhärtung. Für die Befürworter des Irakkriegs steht die heilige Allianz im Dienst der patriotischen Verteidigung des eigenen „Nests“. Für seine Gegner ist der Konflikt nichts weiter als eine fremdenfeindliche Welle, ganz in der Linie des klassischen rassistischen Populismus, der seit jeher im Innern des Landes grassiert. Haben sie Unrecht? In einem Interview mit CNN am 21. März 2003 erklärt ein US-amerikanischer Soldat, er wolle „sich im Irak für die Attentate des 11. September rächen“. Laut Umfragen sind 55 Prozent seiner Mitbürger wie er der Überzeugung, dass Saddam Hussein mit al-Qaida in Verbindung steht und für den Angriff auf das World Trade Center irgendwie verantwortlich war.

Man darf vermuten, dass viele von ihnen ein von Unkenntnis und Ignoranz geprägtes Bild von dem Araber schlechthin haben. Letztlich hat dieses Bild viel Ähnlichkeit mit den verbreiteten Phobien vergangener Zeiten: gegenüber den Indianern Amerikas, den Schwarzen oder den Asiaten.

Solche brutalen rassistischen Entgleisungen verweisen auf eine der schlimmsten – aber beständigsten – unterschwelligen Traditionen der US-amerikanischen Kultur. Wenn es hart auf hart kommt, sehen wir dann auf der einen Seite die „Gang“ der mit den Behörden verbandelten patriotischen Milizen, die an jene Mischung aus hinterhältigem Terror und blutiger polizeilicher Repression anknüpfen, wie sie zur Zeit des McCarthyismus in Blüte stand, und auf der anderen Seite die Clique der „Intellektuellen“, der „Multikultis“ und anderer potenzieller „Verräter“. Und wie Michael Lind schreibt,(9)nimmt dieser Antagonismus in der Geografie der politischen Parteien erneut die Formen der ältesten inneren Bruchlinien an: der koloniale, antifeministische, homophobe, rassistische Süden gegen den puritanischen, säkularisierten, kommunitären, liberalen und universalistischen Norden.

Der Begriff der „Koalition“ scheint in der kriegerischen Sprache eines George W. Bush durchaus das Ideal der loyalen Solidarität zu verkörpern. Aber wie Andres J. Bacevitch(10)eststellt, hält sie nur stand im Rahmen eines „unipolaren“ Strebens nach aufeinander folgenden Siegen über die Welt, wie es die Haupttendenz der US-amerikanischen Diplomatie seit einem halben Jahrhundert bruchlos zeigt. Diese „Unipolarität“ kennzeichnet nicht nur die „einzige Weltmacht“, sondern auch die Gruppe, die den Präsidenten umgibt, sowie all jene, die er um sich geschart hat, indem er die Eigenschaften eines Kriegshäuptlings, eines religiösen Hohepriesters und eines charismatischen Volkstribuns in sich vereint. Damit hat das Amerika der Medien und Satiriker endlich einen Namen gefunden: „Bushland“, das an die Wildnis der Wälder der Kolonialzeit erinnert, die es ohne Gefühlsduselei zu roden gilt. Freilich erkennen sich sehr viele Bürger der Vereinigten Staaten darin nicht wieder: „Bushland“ bezeichnet lediglich einen Clan, der die Kontrolle im Land übernommen hat.

Es ist zu Recht viel gelästert worden über das Sekten- oder Cliquenhafte unter den Bush nahe stehenden Mitarbeitern. Nachdrücklich betonte man den Kreuzzugsfanatismus mehrerer Mitglieder der Bush-Administration sowie Bushs befremdliche Verbindung zum Ölgeschäft. Fast vergessen wurde jedoch, dass diese Merkmale schon seit dreihundert Jahren jeden Gemeinschaftsverband in den Vereinigten Staaten kennzeichnen: dessen kollektive Basis ist nämlich fast immer eine Gruppierung, die in ihrer grimmigen Opposition gegen alles, was sich ihr entgegenstellt, wie ein Trupp von Vasallen zusammenhält. Sie sind ergebene Vertraute, die sich um den „Senior“ scharen, mit ihm zusammenleben und dem Ruhm entgegenstürmen, wobei sie Beute und Territorien anhäufen oder im Laufe des Abenteuers umkommen.

Dramaturgie von Bandenkriegen

GENAU dies ist die Botschaft des Schriftstellers James Ellroy, der die Saga der miteinander konkurrierenden Gruppen an der Spitze der Vereinigten Staaten während der tragischen Ära Kennedy beschreibt. In seinem berühmten Roman „American Tabloid“(11) sehen wir, wie jede „Institution“ (CIA, FBI, Präsidentschaft, Gewerkschaften, ethnische Gruppen, Mafias, Armee, Patriotenvereine, Skandalpresse usw.) mit Hilfe blutrünstiger Helden jeweils für sich selbst und gegen die anderen funktioniert. Die Morde an John, dann an Robert Kennedy, an Jim Hoffa (Chef der mafiosen Gewerkschaft der „Teamsters“), ja sogar der rätselhafte Tod von Marilyn Monroe, die Invasion Kubas im Jahre 1961, der Beginn des Vietnamkriegs usw. werden uns als Ereignisse geschildert, die in einer einzigen Dramaturgie eng miteinander verbunden sind: der des Kriegs zwischen Banden, die durch den sozialen Aufstieg in die Zirkel der Macht geadelt wurden.

Auch wenn die von Ellroy erfundenen Einzelheiten mythischer Natur sind, so ist der soziologische Gehalt seines Berichts von erstaunlicher Zuverlässigkeit: Die Vereinigten Staaten funktionieren, von unten nach oben, wie eine riesige Arena des ständigen Kampfs zwischen familienähnlichen Gruppen, die sich nach einer feudalen, noch von keiner gefestigten zentralen Struktur gezügelten Logik herausgebildet haben und sich gleichwohl identisch reproduzieren können.

Die Personalisierung von Konflikten ist ein unvermeidlicher Wesenszug einer derartigen Vasallisierung des politischen Lebens. Auch hier verläuft alles wie in „Gangs of New York“: Der leader setzt sich durch Stärke und List (siehe beispielsweise die unzähligen Tricks bei den letzten Präsidentschaftswahlen) an die Spitze eines zusammengewürfelten Haufens bewaffneter Banden; dann versucht er, sich bis zum Schluss in der Position des „Alphatiers“ (so der Ausdruck der Primatologen) zu behaupten. Unablässig muss er Drohgebärden gegen die Seinen aufrechterhalten und vor allem ihre abflauende Begeisterung immer wieder neu entfachen, indem er ihnen einen glücklosen Konkurrenten als Beute vorwirft, der zu ebendiesem Zweck dämonisiert wurde.

So mancher Kommentator hat sich von der US-amerikanischen Propagandastrategie blenden lassen und ist nun der irrigen Auffassung, Slobodan Milošević, Ussama Bin Laden oder Saddam Hussein seien aufgrund seriöser Konfliktforschung zu Staatsfeinden Nummer eins erklärt worden. Dabei repräsentierten sie vielmehr die Rolle des notwendigen Kontrahenten, die der stärkste Kandidat im Revier zum Straßenduell herausgefordert hat. Sie ermöglichen es außerdem, über die minutiöse Vorbereitung des Turniers hinwegzutäuschen, in dem der „strategische Konkurrent“ in Wirklichkeit keine Chance hat. Insofern ist der „Schurkenstaat“, der angeblich Massenvernichtungswaffen besitzt, nichts als eine kleine Nation, die für den Mächtigen in seinem Streben nach noch mehr Macht keine ernsthafte Bedrohung darstellen kann. Seit zehn Jahren unaufhörlich bombardiert, von Experten ausspioniert und von einem langen Embargo geschwächt, wird sie der dominierenden Gruppe von ihrem theatralisch unversöhnlichen „Paten“ zum Fraß vorgeworfen.

Da kann ein Beobachter, der vor dem Zorn des „Kriegsgurus“ etwas geschützt ist, nur zu bedenken geben, dass der Begriff „Schurkenstaat“ besser als jeder andere geeignet ist, die Praxis des Anführers der angreifenden Gang zu beschreiben, der den eigenen Staat für seine Herrschaftspläne instrumentalisiert. Die zahlreichen Gegner der Politik von Präsident Bush haben dafür übrigens eine Formulierung gefunden: „Es ist der Krieg des Präsidenten, nicht der des Landes.“

Aber die „Kriegskoalition“ verfolgt nicht nur das Ziel, durch die Demonstration unbestreitbarer und vielfach bewiesener Stärke die Meinungen und Energien auf eine einzige Person zu konzentrieren. Sie zielt auch darauf ab, selbst an die Stelle jedweder Idee wahrer Solidarität zu treten. Auf Kosten der legitimierten Mechanismen der Vereinten Nationen setzt sie ihren Willen durch (indem sie diese, erstaunlich genug, als eine Art Weltstaat erscheinen lässt) und besetzt den imaginären Raum, den die Idee gesellschaftlicher Solidarität hätte ausfüllen sollen.

Nach den furchtbaren Szenen des Krieges konnte man in den Tagen nach dem „Sieg“ im Irak Bilder von sympathischen und edelmütigen multiethnischen US-amerikanischen Patrouillen sehen. George W. Bush hoffte, die Früchte des Erfolgs der „Alliierten“ zu einem Zeitpunkt zu ernten, in dem die soziale und ökonomische Lage der Vereinigten Staaten sich ständig verschlechterte: 3 Millionen weniger Arbeitsplätze seit der (angefochtenen) Präsidentschaftswahl, davon allein 200 000 in der Finanzmetropole New York.

Projekt der systematischen Entsolidarisierung

WÄHREND die martialische Parade weitergeht, hat die Bush-Regierung in keiner Weise versucht, geeignete Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes zu ergreifen. Ganz im Gegenteil. Sie hat die Steuern fast ausschließlich zugunsten der hohen Einkommen gesenkt (43 Prozent der Entlastungen kommen 1 Prozent der Bevölkerung zugute). Sie hat alles abgebaut, was noch irgend an die Veranwortung des Staates für das Wohlergehen der Bürger erinnert. Sie hat das Gesundheitsprogramm, in dem öffentliche und private Krankenhäuser bei der Behandlung von Patienten ohne Krankenversicherung zusammenarbeiten, um 86 Prozent gekürzt. Sie wird bei der Sanierung von Sozialwohnungen 700 Millionen Dollar einsparen, das Wohnungsbauprogramm des Kinderhilfswerks um 60 Millionen kürzen, zudem den Fonds, der es Menschen mit niedrigem Einkommen ermöglicht, ihre Kinder während der Arbeit betreuen zu lassen, um mehrere 100 Millionen Dollar. Sie hat Institutionen der Familienplanung, die Schwangerschaftsabbrüche nicht kategorisch ablehnen, Zuschüsse aus Bundestöpfen verweigert.

Um Bildung und Kultur kümmert sie sich genauso wenig: Sie hat die Mittel für die Weiterqualifizierung von Arbeitslosen um 200 Millionen Dollar gekürzt und das Programm zur Alphabetisierung benachteiligter Familien ganz gestrichen. Sie hat den Zuschuss für die Bundesbibliotheken um 39 Millionen Dollar und den für die Ausbildung von Kinderärzten um 35 Millionen Dollar verringert. Sie hat Führungspositionen in der US-Umweltschutzbehörde mit deren erklärten Gegnern besetzt, z. B. betraute sie mit der Leitung der Environmental Protection Agency (EPA) eine Managerin des Monsanto-Konzerns, die unverzüglich das Budget der Behörde um eine halbe Milliarde Dollar reduzierte. Sie hat Nationalparks für die forstwirtschaftliche Nutzung und für Ölbohrungen freigegeben. Sie hat alle Gesetze abgeschafft, die es dem Bundesstaat gestatten, Verträge mit Firmen abzulehnen, die die Umwelt verschmutzen oder ihre Arbeitnehmer Gefahren aussetzen, und sie hat eine Reihe von Schutzvorschriften aufgehoben. Sie hat die Meeresgründe von Florida zur Disposition gestellt, geschützte Gebiete in Alaska freigegeben, das Budget zur Erforschung erneuerbarer Energien um 50 Prozent und das zur Entwicklung schadstoffarmer Fahrzeuge um 28 Prozent gekürzt.

Dieselbe Ablehnung jeglicher Solidarität auch auf internationaler Ebene: So weigerte sich die US-Regierung, das Kioto-Protokoll zur Verminderung des Treibhauseffekts zu unterzeichnen, sie brach ihr Versprechen, den CO2-Ausstoß zu regulieren, und hat die Vereinbarung zur Reduzierung des „akzeptablen“ Arsengehalts im Trinkwasser abgelehnt. Auch kündigte sie ihre Verpflichtung auf, jährlich 100 Millionen Dollar in den Schutz der Tropenwälder zu investieren.

Kurz, die amerikanische Hegemonie ist das passgenaue Gegenstück zum Projekt einer systematischen „Entsolidarisierung“. Das Verhalten Washingtons im Irak ist im Grunde nur eine weitere Variante. Der durch Bestechung von Baath-Parteiführern und Einschüchterung der Elitetruppen von langer Hand vorbereitete Sieg hat sich, um den Preis mörderischer Bombardierungen von dicht besiedelten Wohnvierteln und Geschäftsstraßen, in eine Demonstration der Übermacht verwandelt. Und nun organisiert der Besatzer das Chaos. Ein Bild bleibt im Gedächtnis der Fernsehzuschauer haften: die gleichgültigen Gesichter der Marines auf dem Höhepunkt der Plünderungen in Bagdad. Der besetzte Irak ist ein treffendes Bild für den Widerwillen des „Vereinigten-Staatlers“ gegen die leiseste Mahnung zur Solidarität. Er bezeugt seinen Ehrgeiz – in der Dritten Welt – ganz so wie in den ärmsten Vierteln der eigenen Städte – eine verwüstete Gegend zu schaffen, bewohnt von einem besiegten, gedemütigten Anderen, der sich nie wieder erheben wird. Als ginge es darum, den Hass endlos weiterzutragen.

deutsch von Eva Moldenhauer

* Direktor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Paris. Autor von „Société-Monde, le temps des ruptures“, Paris (La Découverte) 2002; „Entre esprit et corps. La culture contre le suicide collectif“, Paris (Anthropos) 2002.

Fußnoten: 1 Abraham Lincoln (1809–1865), Republikaner und Gegner der Sklaverei. 2 Colombine ist die Schule in Littleton, wo am 20. April 1999, dem Geburtstag von Adolf Hitler, zwei Jugendliche 14 Schüler umbrachten. 3 Erster Präsident der Vereinigten Staaten im Jahre 1801. 4 Brief an James Monroe vom 11. Juni 1823. 5 Der Appell des brasilianischen Ministerpräsidenten Inácio „Lula“ da Silva, ein weltweites Programm zur Bekämpfung des Hungers aufzustellen, ist ein Beispiel für eine andere Sensibilität. 6 Brief an Richard Rush, 29. Oktober 1820 (etwa acht Jahre lang Gesandter in England. Rush eine erhebliche Anzahl von Verträgen ausgehandelt). 7 Thomas Woodrow Wilson (1856–1924), Befürworter eines Systems kollektiver Sicherung und einer Gesellschaft der Nationen. 8 Johann Hari, „A disputed Legacy“, Times Literary Supplement, Denville, 28. März 2003, S. 14 f. 9 Interview, „Les conservateurs au pouvoir ne représentent pas l‘Amérique“, Libération, Nr. 4, Mai 2003. 10 „American Empire, the realities and consequences of US-diplomacy“, Harvard University Press, 2003. 11 „Ein amerikanischer Thriller“, übersetzt von Stephen Tree, Hamburg 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.08.2003, von DENIS DUCLOS