12.09.2003

Der Cavaliere und die Insalata Caprese

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Der Cavaliere und die Insalata Caprese

DIE Zeit für arrogante Medienauftritte ist für europäische Regierungschefs offenbar vorbei. Tony Blair muss sich wegen seiner PR-Strategie für den Irakkrieg verantworten, Jean-Pierre Raffarin ist wegen seines Krisenmanagements während der mörderischen Hitzewelle unter Beschuss. Und Silvio Berlusconi verstört nicht nur seine EU-Partner, sondern auch die italienische Öffentlichkeit. Selbst seine eigenen Wähler zweifeln an ihrem neoliberalen Führer, dessen Visionen sich auf unsoziale Rezepte beschränken. Von ALAIN WASMES *

Erleben wir den Herbst des „Cavaliere“(1)? Italien scheint sich in einem atemlosen Schwebezustand zu befinden. Eine merkwürdige Entwicklung, denn für Berlusconi schien eigentlich alles günstig zu laufen. Nach dem Wahlsieg von 2001, der seine Niederlage von 1996 wettmachte, schien er mit seiner doppelten absoluten Mehrheit in Abgeordnetenkammer und Senat freie Hand zu haben. Auch gibt es seit dem Tod von Giovanni Agnelli, Raul Gardini und Großbankier Cuccia und der Degradierung Carlo De Benedettis(2) zum einfachen Verleger weit und breit keine Condottiere-Figur mehr, die Berlusconi – wie noch 1980 – im Weg stehen könnte. Außerdem gewann der 67-jährige Ministerpräsident ganz unauffällig auch den Kampf gegen den Krebs.

Das alles sieht nach einem Erfolg auf der ganzen Linie aus: Berlusconi herrscht weiter über ein Medienimperium und gebietet zugleich über eine parlamentarische Mehrheit, die ihm seine persönliche Immunität sichert. Wie konnte also der Eindruck entstehen, dass da ein geplagter, geschwächter Mann händeringend nach der erlösenden Idee sucht?

Zwei Jahre nach dem Sieg des Mitte-rechts-Bündnisses äußern wichtige Leute, die ehemals zu dessen Unterstützern zählten – wie der Chef des italienischen Arbeitgeberverbandes Confindustria, Antonio D‘Amato, und der Präsident der Banca d‘Italia, Antonio Fazio – laut und deutlich ihre Enttäuschung. Der Vatikan geht auf Distanz. Bei den jüngsten Regionalwahlen im Juni siegte in Friaul-Julisch Venetien der Kandidat der Linken, der Kaffeeunternehmer Riccardo Illy. Und innerhalb der Regierungskoalition ist jeder gegen jeden, vor allem aber gegen Umberto Bossis separatistische, fremden- und europafeindliche Lega Nord. Und auch die Meinungsumfragen fallen neuerdings ziemlich einhellig aus: Wären heute Parlamentswahlen, würde die Mitte-links-Koalition das Rennen machen. Ist dies der Anfang von Berlusconis Ende?

Nur allzu leicht unterschätzt man den kleinen, runden, kahlköpfigen Ministerpräsidenten mit dem krampfhaften Dauerlächeln, der zielsicher von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt und seinen Karikaturen mit zunehmendem Alter immer ähnlicher wird. „Man darf sich nicht täuschen lassen. Der Mann ist raffiniert und mit allen Wassern gewaschen“, erklärt Luciano Violante, der frühere Präsident des Abgeordnetenhauses und einer der führenden Köpfe der Linksdemokraten (Democrati di Sinistra, DS), die über die Zwischenetappe der sozialistischen PDS aus der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) hervorgegangen sind.

Angesichts einer Wirtschaft, die schon das zweite Quartal in Folge einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 0,1 Prozent aufweist, deren jährliche Wachstumsrate auf 0,3 Prozent gesunken ist und die damit de facto in der Rezession steckt, kann Berlusconi seine Wahlversprechen von 2001 nicht wahr machen. Vor allem wird es keine Steuersenkung in Höhe von 35 Milliarden Euro geben. Wirtschaftsminister Giulio Tremonti spielt auf der Suche nach dem Wundermittel nun mit dem Gedanken, zum Schutz der italienischen Industrie wieder Zollschranken einzuführen.

Die Reformen, mit denen Bundeskanzler Gerhard Schröder den deutschen Sozialstaat aushöhlt, und die Rentenreform, die Jean-Pierre Raffarin in Frankreich durchgeboxt hat, sind auch für einen in Bedrängnis geratenen Mitte-rechts-Italiener verlockend. Doch wenn Berlusconi es wagen würde, den italienischen Sozialstaat anzutasten, fände er zwar garantiert den Beifall der Unternehmer. Aber gerade die breiten Bevölkerungsschichten, die das Gros der Forza-Italia-Wähler stellen, würden gegen eine solche Politik Sturm laufen. Als Berlusconi am 24. August erklärte, er wolle das Renteneintrittsalter um fünf Jahre heraufsetzen, gingen die Gewerkschaften sofort auf die Barrikaden – und waren sich darin mit Berlusconis Verbündeten einig: Die rechtsgerichtete Alleanza Nazionale (Nationale Allianz) und die aus der Democrazia Cristiana (Christdemokraten) hervorgegangenen Zentristen lehnen Pensionskürzungen für Staatsbedienstete ab, da diese ihre Wählerbasis bilden. Und Umberto Bossi, der die Interessen der norditalienischen Privatwirtschaft im Auge hat, verteidigt die privaten Rentenansprüche.

„Silvio Berlusconi ist nicht liberal, weder in der Politik noch in der Wirtschaft, obgleich er für die Interessen der Unternehmer steht“, meint der Kommentator des Corriere della Sera, Sergio Romano: „Im historischen Vergleich ist Berlusconi der moderate Führer einer Massenpartei mit breit gefächerter Wählerschaft, der folglich die Interessen der unterschiedlichsten sozialen Gruppen auf einen Nenner bringen muss.“

Ein wichtiges Thema der laufenden Legislaturperiode ist die Strukturreform. Dabei könnte es den vier Koalitionsparteien noch gelingen, sich auf einige Grundzüge wie die Ausweitung der Machtbefugnisse des Regierungschefs zu einigen. Aber mit dem Projekt der regionalen Dezentralisierung, also einer an Unabhängigkeit grenzenden Autonomie für Norditalien, wie der Chef der Lega sie hartnäckig fordert, steht das Mitte-rechts-Bündnis vor einer Zerreißprobe. Für Bossi „existiert kein nationales Interesse, das von Belang wäre“. Und da er weiß, dass er für den Sieg des Mitte-rechts-Bündnisses trotz seines mageren Wahlergebnisses von 3 Prozent gebraucht wird, greift er zu Erpressungsmethoden, die seine Koalitionspartner – Alleanza Nazionale und ehemalige Christdemokraten – in Harnisch bringen.

Weil Berlusconi bei diesen Kontroversen die Hände gebunden sind, verlegt er sich verstärkt auf die Außenpolitik, um sein Image aufzupolieren. Seine Unterstützung des Irakkriegs der USA stieß jedoch bei den meisten Italienern auf heftige Ablehnung (sogar bei seiner eigenen Frau, die den Einmarsch der US-Truppen offen anprangerte). Vom überwiegenden Teil der Mitte-rechts-Wähler wurde seine Haltung dagegen begrüßt.

Der amtierende Premierminister, der im zweiten Halbjahr 2003 zugleich EU-Ratspräsident ist, pflegt enge Beziehungen zu George W. Bush und betreibt ganz allgemein eine stark persönlich gefärbte Diplomatie: In der Villa Certosa, der größten seiner sieben Villen auf Sardinien, empfängt er die Staats- und Regierungschefs von Ländern wie Polen, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Litauen. Ende August empfing er dort mit großem Aplomb auch seinen Freund Wladimir Putin. Berlusconi spielte auch Trauzeuge bei der Hochzeit der Tochter seines spanischen Kollegen José María Aznar und beim Sohn des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogan.

Einmannpartei gegen die „Parteienherrschaft“

MIT dieser Kumpeldiplomatie steckt Berlusconi ein geopolitisches Terrain ab, dessen Grenzen nicht zufällig sind. Er imaginiert ein um Weißrussland, die Ukraine, die Türkei und den Kaukasus erweitertes Europa unter der strategischen Führung der USA, als Gegenmodell zu einem Europa um die Achse Paris–Berlin. Darin sieht der Regierungschef eine Chance, die Rolle Italiens und auch seine eigene aufzuwerten. Den italienischen Botschaftern legt er nahe, bei ihren Empfängen stets auch Insalata Caprese zu servieren, weil rote Tomaten, weißer Mozzarella und grünes Basilikum die Farben der italienischen Fahne vorstellen.

Die Instrumente seiner Politik erschuf sich Berlusconi im Jahre 1994 fast beiläufig im Laboratorium seines Unternehmens Fininvest. „Ein unnachahmliches Experiment“, findet Emanuela Poli, eine junge Politologin, die ihre Doktorarbeit über Berlusconi geschrieben hat. Mit der Raffinesse eines Machiavelli, die sich im Leibesumfang eines Falstaff versteckt, leitet Giuliano Ferrara die von ihm gegründete Mailänder Tageszeitung Il Foglio, die zu einem Phänomen der italienischen Presselandschaft geworden ist: Bei einer winzigen Auflage von nur 16 000 Exemplare hat sie doch großen Einfluss auf Politik und Intellektuelle. Ferrara ist Experte für die politischen Parteien. Seine Vorfahren gehörten zur ersten Generation der italienischen Kommunisten, er selbst leitete mit 30 Jahren als kommunistischer Parteisekretär in Turin die Parteiarbeit in den Fabriken und damit auch bei Fiat, der Hochburg der italienischen Arbeiterbewegung. Später war er ein Vertrauter des sozialistischen Ministerpräsidenten Bettino Craxi, bevor er in Berlusconis erster Mitte-rechts-Regierung zum Regierungssprecher im Ministerrang aufstieg.

„Forza Italia? Das ist nichts weiter als ein Wahlkomitee“, erklärt Ferrara, der Berlusconi noch heute berät. „Ein Patchwork aus den Versatzstücken der alten italienischen Gesellschaft, neuer Politik und einander bekämpfender Kräfte, das Resultat der Explosion, die durch den ‚Putsch‘ der Mailänder Staatsanwaltschaft und deren Ermittlungen im Rahmen der so genannten Mani Pulite zu Beginn der 1990er-Jahre ausgelöst wurde. Dabei wurde vor allem mit Bettino Craxis Sozialistischer Partei und mit den Christdemokraten gründlich aufgeräumt. Dieses Gebilde Forza Italia wird nur durch den Ministerpräsidenten zusammengehalten.“

Mit einem geschickten Schachzug kombinierte die neue „Bewegung“ Berlusconis zwei Ziele: Sie bediente den gegen die „Parteienherrschaft“ gerichteten Veränderungsdrang der Italiener, wahrte zugleich aber auch die politische Kontinuität, indem sie an den Antikommunismus der Christdemokraten anknüpfte. „Inzwischen ist der Veränderungswille, die Debatte über eine liberale Revolution, in der Partei jedoch merklich in den Hintergrund getreten“, meint der Soziologieprofessor Biorcio von der Mailänder Universität.

Nach seiner Wahlniederlage 1996 erkannte Berlusconi auf seinem „Marsch durch die Wüste“, dass er nicht allein auf das Fernsehen setzen kann und deshalb zusätzlich eine lokal verankerte Partei gründen muss. Berufspolitiker aus den alten Parteien wie der ehemalige Christdemokrat Claudio Scajola wurden mit ins Boot geholt. Damit entwickelte sich die Sammlungsbewegung von 1994, die sich an US-Vorbildern orientiert hatte, mehr und mehr zu einer traditionellen Partei. Im Zuge dieser Entwicklung kam es auch zu den typischen Deformationserscheinungen, zu Fraktionskämpfen und Machtkämpfen im Schatten des Parteiführers.

Gleichwohl hat sich am Chromosomensatz der Partei, nämlich ihrer engen Bindung ans Fernsehen, nichts geändert: „Forza Italia“, betont ihr Sprecher Sandro Bondi, „baut auf die Personalisierung und die effektvolle Inszenierung des politischen Lebens, ausgehend von einem charismatischen Spitzenmann. Und dessen direkten Kontakt zu seinen Wählern macht das Fernsehen möglich.“ Dagegen erklärt Professor Biorcio: „Die Experten fragen sich mittlerweile, was Berlusconi dem Fernsehen tatsächlich verdankt.“

Nach dem Befund der Italian National Elections Studies (Itanes)(3) profitierte die Mitte-rechts-Koalition bei den Parlamentswahlen 2001 überproportional von den Stimmen der Frauen. Die Forza Italia verdankt ihren Sieg vor allem den älteren und ungebildeten Hausfrauen, die am häufigsten fernsehen, und zwar besonders die Fininvest-Sender. Die Wähler des Mitte-links-Bündnisses schalten eher die Kanäle und Nachrichtensendungen der staatlichen Fernsehanstalt RAI ein, die Mitte-rechts-Wähler dagegen die Privatsender von Berlusconis TV-Gruppe Mediaset. Statt das Wählerverhalten zu verändern, scheint das Fernsehen die bestehenden Meinungen eher zu verstärken. Doch Letztere könnten auch durch die Gesamtheit der langjährig konsumierten Programme geprägt sein, die unterschwellig eine „einstimmige Fernsehmassenkultur“(4) produzieren, wie es der Historiker Paul Ginsborg nennt.

Eine Tatsache jedoch stutzt den Berlusconis Fernsehsendern nachgesagten Einfluss auf seine wahre Dimension zurecht: 2001 trug das Mitte-rechts-Bündnis im Kampf der beiden politischen Lager um die Direktmandate für das Abgeordnetenhaus (75 Prozent der Sitze) mit nur 1,6 Prozent Vorsprung (45,4 Prozent gegen 43,8 Prozent) einen Sieg davon, der angesichts des enormen Wahlkampfaufwands geradezu lächerlich war. Nach Professor Biorcio hat das Mitte-links-Lager diese Wahlen vor allem deshalb verloren, „weil es sich so uneins war“.

Was aber würde, falls sich Berlusconi aus irgendeinem Grund aus der Politik zurückzöge, aus seiner Partei werden? „Forza Italia ist eine Einpersonenpartei“, meint Ilvo Diamanti, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Urbino: „Gegenwärtig steht und fällt das gesamte Mitte-rechts-Bündnis mit bestimmten Einzelpersonen. Ohne Berlusconi würde es ganz schnell auseinander brechen“.

Nachdem die Regierungsmehrheit die strukturellen Reformen nicht vorangetrieben hat, sieht Serio Romano „die gegenwärtige Aufteilung in ein rechtes und ein linkes Lager auf wackligen Füßen“ stehen. Ohne das Zugpferd Silvio Berlusconi würde sich Forza Italia als „Partei ohne wahre Identität“ wahrscheinlich auflösen. Darauf hofft auch Mino Martinazzoli, der linke Exparteichef der früheren DC, in seiner Mitte-links-Hochburg Brescia, die der Mailänder Lega Nord die Stirn bietet. Der ehemalige Justizminister glaubt, nach der Ära Berlusconi werde „innerhalb des so genannten Bipolarismus eine neue Führungsmannschaft antreten“.

Und Martinazzoli hofft, dies möge bald geschehen. Er wünscht sich für diesen Fall eine erneute Vereinigung der ehemaligen Christdemokraten, die sich derzeit auf beide gegnerischen Koalitionen verteilen. Dann könne anstelle der alten DC, die er für „tot und begraben“ hält, eine moderne, gemäßigt konservative Partei entstehen, die sich auf die ursprünglichen, christlich-humanistischen Werte der Democrazia Cristiana beruft und das Gegengewicht zu einem sozialdemokratischen Pendant bilden könnte.

Auch Professor Diamanti meint: „Die ehemaligen Christdemokraten, die zur Forza Italia übergewechselt sind, vermissen die einst von der Democrazia Cristiana verkörperten Werte sehr. Sie lehnen es ab, in der Forza Italia eine neue DC zu sehen. Für sie ist die Forza nur ein Machtinstrument, ein Mittel zum Zweck.“ Vielleicht ist die Hoffnung Martinazzolis nicht vergeblich. In Italien bleibt nichts so, wie es war.

deutsch von Karin Krieger

* Journalist

Fußnoten: 1 „Cavaliere“ ist der Beiname Berlusconis, der den Titel „Cavaliere del lavoro“ trägt: „Ritter der Arbeit“ ist eine hohe staatliche Auszeichnung, die für Verdienste um die Wirtschaft verliehen wird 2 Giovanni Agnelli war Firmenchef bei Fiat, Raul Gardini bei Montedison und Carlo De Benedetti bei Olivetti. 3 Mehrjähriges Forschungsprojekt von Wissenschaftlern über das Wahlverhalten der Italiener. Vgl. „Perché ha vinto il centro-destra“, Bologna (Il Mulino) 2001. 4 Paul Ginsborg: „Berlusconi. Ambizioni patrimoniali in una democrazia mediatica“ (Originaltitel: „The Patrimonial Ambitions of Silvio B.“), Turin (Einaudi) 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von ALAIN WASMES