13.03.2009

Was Marx dazu sagte

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Was Marx dazu sagte

Meine Herren,

Die Abschaffung der Korngesetze in England ist der größte Triumph, den der Freihandel im neunzehnten Jahrhundert errungen hat. In allen Ländern, wo die Fabrikanten von Freihandel sprechen, haben sie vorzugsweise den Freihandel in Getreide oder überhaupt in Rohstoffen im Auge. Das ausländische Korn mit Schutzzöllen belasten ist infam, heißt auf den Hunger des Volkes spekulieren.

Billiges Brot, hohe Löhne, cheap food, high wages, das ist der alleinige Zweck, für welchen die Freihändler in England Millionen ausgegeben haben, und schon hat ihr Enthusiasmus ihre Brüder auf dem Festlande angesteckt. Überhaupt, wenn man den Freihandel will, so will man ihn zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen. (…)

Doktor Bowring hat allen diesen Argumenten eine religiöse Weihe gegeben, indem er in einem öffentlichen Meeting ausrief: „Jesus Christus ist der Freihandel – der Freihandel ist Jesus Christus!“ Man begreift, daß die ganze Heuchelei nicht dazu angetan war, den Arbeitern das billige Brot schmackhaft zu machen. (…)

Wenn auf dem Kongreß der Ökonomen Dr. Bowring aus seiner Tasche eine lange Liste zog, um zu zeigen, wieviel Stück Vieh, Schinken, Speck, Hühner etc. etc. in England eingeführt worden sind, um dort, wie er sagt, von den Arbeitern konsumiert zu werden, so hat er leider vergessen zu sagen, daß zur selben Zeit die Arbeiter von Manchester und den anderen Fabrikstädten sich durch die beginnende Krisis aufs Pflaster geworfen sahen. (…)

Kein Zweifel, wenn der Preis aller Waren fällt, und dies ist die notwendige Konsequenz des Freihandels, so kann ich mir für einen Franc weit mehr Dinge als vorher verschaffen. Und der Franc des Arbeiters gilt ebensoviel wie jeder andere. Somit wird der Freihandel dem Arbeiter sehr vorteilhaft sein. Es ist nur ein kleiner Übelstand damit verbunden, nämlich der, daß der Arbeiter, bevor er seinen Franc gegen andere Ware umtauscht, zunächst den Tausch seiner Arbeit gegen das Kapital vollzogen hat.

(…) Um zusammenzufassen: Was ist also unter dem heutigen Gesellschaftszustand der Freihandel? Die Freiheit des Kapitals. Habt ihr die paar nationalen Schranken, die noch die freie Entwicklung des Kapitals einengen, eingerissen, so habt ihr lediglich seine Tätigkeit völlig entfesselt. (…)

Meine Herren! Lassen Sie sich nicht durch das abstrakte Wort Freiheit imponieren. Freiheit wessen? Es bedeutet nicht die Freiheit eines einzelnen Individuums gegenüber einem anderen Individuum. Es bedeutet die Freiheit, welche das Kapital genießt, den Arbeiter zu erdrücken.

Wozu wollen Sie die freie Konkurrenz noch durch diese Freiheitsidee sanktionieren, da doch diese Freiheitsidee selbst nur das Produkt eines auf der freien Konkurrenz beruhenden Zustandes ist? Wir haben gezeigt, was die Brüderlichkeit ist, welche der Freihandel zwischen den verschiedenen Klassen ein und derselben Nation hervorruft. Die Brüderlichkeit, welche der Freihandel zwischen den verschiedenen Nationen der Erde stiften würde, wäre schwerlich brüderlicher … Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt.

(…) Man sagt uns zum Beispiel, daß der Freihandel eine internationale Arbeitsteilung ins Leben rufen und damit jedem Lande eine mit seinen natürlichen Vorteilen harmonierende Produktion zuweisen würde.

Sie glauben vielleicht, meine Herren, daß die Produktion von Kaffee und Zucker die natürliche Bestimmung von Westindien sei. Vor zwei Jahrhunderten hatte die Natur, die sich nicht um den Handel kümmert, dort weder Kaffeebäume noch Zuckerrohr gepflanzt.

Und es wird vielleicht kein halbes Jahrhundert dauern, bis Sie dort weder Kaffee noch Zucker mehr finden. Denn bereits hat Ostindien durch billigere Produktion gegen diese angeblich natürliche Bestimmung von Westindien den Kampf siegreich aufgenommen.

(…) Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, da dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann.

Glauben Sie aber nicht, meine Herren, daß, wenn wir die Handelsfreiheit kritisieren, wir die Absicht haben, das Schutzzollsystem zu verteidigen. (…)

Übrigens ist das Schutzzollsystem nur ein Mittel, in einem Lande die Großindustrie aufzuziehen, das heißt, es vom Weltmarkt abhängig zumachen; und von dem Augenblick an, wo man vom Weltmarkt abhängt, hängt man schon mehr oder weniger vom Freihandel ab. (…)

Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.

Diese „Rede über die Frage des Freihandels“ hielt Marx am 9. Januar 1848 vor der Demokratischen Gesellschaft in Brüssel, kurz darauf wurde sie als Broschüre in französischer Sprache publiziert. Noch 1848 erschien eine deutsche Übersetzung von Joseph Weydemeyer. 1885 entstand eine neue Übersetzung als Anhang zu „Das Elend der Philosophie“. Auf dieser Fassung beruht der hier auszugsweise widergegebene Text aus: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Band 4, Berlin/Ost (Dietz) 1972, S. 444–458.

Le Monde diplomatique vom 13.03.2009, von Karl Marx