10.09.2004

Der Krieg der Welten

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Der Krieg der Welten

H. G. Wells’ „Der Krieg der Welten“ von 1898 war der erste Science-Fiction-Roman über eine interplanetarische Invasion. Die Art und Weise, wie der Naturwissenschaftler Wells Fantastisches mit dokumentarischem Realismus verknüpft, ist wohl einer Gründe, warum seine Werke bis heute Autoren und Regisseure inspirieren – darunter Orson Welles zu seinem legendären Hörspiel, das seinerzeit eine Massenpanik auslöste.

Von H. G. WELLS

UND wir Menschen, die diesen Stern bewohnen, müssen den anderen mindestens so fremdartig und niedrig erscheinen wie die Affen und Lemuren uns. Der intellektuelle Teil der Menschheit gibt bereits zu, dass das Leben ein unaufhörlicher Kampf ums Dasein ist; und es scheint, dass dieser Glaube auch von den Marsbewohnern geteilt wird. Auf ihrem Stern ist die Abkühlung schon weit vorgeschritten. Diese Welt ist noch voller Leben, aber in ihren Augen ist es nur ein minderwertiges, tierisches. Den Krieg sonnenwärts zu tragen, ist wirklich ihre einzige Rettung vor der Vernichtung, die von Geschlecht zu Geschlecht immer näher an sie heranschleicht.

Und bevor wir sie zu hart beurteilen, müssen wir uns erinnern, mit welcher schonungslosen und grausamen Vernichtung unsere eigene Gattung nicht nur gegen Tiere wie den verschwundenen Bison und den Dodo, sondern gegen unsere eigenen inferioren Rassen gewütet hat. Die Tasmanier wurden trotz ihrer Menschenähnlichkeit in einem von europäischen Einwanderern geführten Vernichtungskrieg binnen fünfzig Jahren völlig ausgerottet. Sind wir solche Apostel der Gnade, dass wir uns beklagen dürfen, wenn die Marsleute uns in demselben Geist bekriegen? Die Marsleute scheinen ihren Angriff mit erstaunlicher Genauigkeit berechnet zu haben – ihre mathematischen Kenntnisse sind den unsrigen offenbar weit überlegen – und ihre Vorbereitungen trafen sie mit fast vollkommener Einmütigkeit. […]

Nach der Invasion der Marsmenschen und ihrem plötzlichen Verschwinden infolge einer Epidemie, beschließt der Ich-Erzähler seinen Augenzeugenbericht:

Auf alle Fälle aber, ob wir nun einen zweiten Einfall erwarten können oder nicht, mussten unsere Begriffe von der Zukunft der Menschheit durch diese Ereignisse eine gewaltige Änderung erfahren. Wir sehen heute ein, dass wir unsern Stern durchaus nicht als einen gewissermaßen eingezäunten und sicheren Wohnort für die Menschheit betrachten können; wir können das unerhörte Heil oder Unheil, das unvermutet aus dem Weltenraum auf uns hereinbrechen kann, nie vorhersehen. Es mag sein, dass nach den gewaltigeren Plänen des Weltalls dieser Einfall vom Mars nicht ohne einen schließlichen Segen für die Menschheit stattgefunden hat. Er hat uns jener heiteren Vertrauensseligkeit in die Zukunft, welche die fruchtbarste Quelle des Verfalles ist, beraubt; die Bereicherungen, die er der menschlichen Wissenschaft gebracht hat, sind unermesslich; und er hat viel dazu beigetragen, das Gefühl des Gemeinwohles der Menschheit zu befördern. Es mag sein, dass die Marsbewohner über die Unendlichkeit des Weltraumes hinüber das Schicksal ihrer ersten Sendlinge beobachtet, dass sie daraus eine Lehre gezogen und auf der Venus eine sicherere Ansiedlung gefunden haben. Doch wie es auch immer sei, das eine steht fest, dass auf viele Jahre hinaus der Eifer, mit dem die Marsscheibe beobachtet wird, nicht nachlassen wird. Und jene feurigen Geschosse des Himmels, die Sternschnuppen, werden in ihrem Niedergang für alle Erdenkinder stets und unausbleiblich ernste Mahnzeichen bedeuten.

Die Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises, welche der Marseinfall zur Folge gehabt hat, kann kaum überschätzt werden. Ehe die Zylinder niederfielen, herrschte allgemein die überzeugung, dass es in den ungeheuren Tiefen des Weltraumes außerhalb der winzigen Oberfläche unseres kleinen Sterns kein Leben gebe. Heute aber sehen wir weiter. Wenn die Marsleute auf die Venus gelangen können, so ist jeder Grund für die Annahme, dass das den Menschen unmöglich sei, hinfällig. Und wenn die langsame Abkühlung der Sonne unsere Erde unbewohnbar gemacht haben wird, wie es schließlich nicht ausbleiben wird, dann mag es kommen, dass der Faden des Lebens, der hier seinen Ausgang nahm, sich ausdehnen und unsern Schwesterplaneten in sein Netz ziehen wird. Würden wir siegen?

Schattenhaft und wunderbar ist das Traumgesicht, das ich im Geiste heraufbeschworen habe: wie das Leben sich allmählich über unser kleines Samenbeet des Sonnensystems hinausdehnen wird, hinaus in die unbelebte Unermesslichkeit des gestirnten Raumes. Aber das ist ein ferner Traum. Und wer kann wissen, ob die Vernichtung der Marsleute nicht nur einen kurzen Aufschub unseres endlichen Untergangs bedeutet? Vielleicht gehört ihnen und nicht uns die Zukunft.

Ich muss gestehen, dass die Aufregung und die Not der Zeit in meiner Seele ein bleibendes Gefühl des Zweifels und der Unsicherheit zurückgelassen haben. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und schreibe beim Schein der Lampe. Und plötzlich sehe ich das wieder auflebende Tal unten wieder von züngelnden Flammen erfüllt und fühle das Haus hinter mir und um mich leer und verödet. Ich gehe hinaus in die Byfleet Road, Fahrzeuge eilen an mir vorüber, ein Fleischerjunge in seinem Karren, ein Wagen voll Besucher, ein Arbeiter auf seinem Fahrrad, Kinder, die zur Schule gehen; und plötzlich wird alles verschwommen und unwirklich, und wieder keuche ich mit dem Artilleristen durch die heiße, brütende Stille. Und nachts sehe ich das schwarze Pulver, wie es die schweigenden Straßen verdunkelt, und sehe die verzerrten Leichen im Staub liegen; sie steigen vor mir auf, zerlumpt und von Hunden zerfleischt. Sie lallen und drohen mir, werden blasser, abscheulicher, endlich wahnwitzige Spottgeburten menschlicher Gebilde – und ich erwache in kalten Schweiß gebadet und elend in der Dunkelheit der Nacht.

Ich gehe nach London und sehe die geschäftigen Volksmengen in der Fleet Street und am Strand, und nun lastet es mir auf der Seele, dass sie alle nur Gespenster der Vergangenheit seien, die in den Straßen spuken, die ich schweigend und jammervoll gesehen habe. Dass sie hin und her gehen, Scheingebilde einer toten Stadt, in einem künstlich beatmeten Körper, ein Hohn auf das Leben. Und seltsam ist es, auf dem Primrose Hill zu stehen, wie ich es erst gestern tat, diese riesige Menge von Häusern trüb und blau durch den Schleier von Rauch und Nebel zu erblicken, der endlich in weite Fernen verschwindet; alle die Leute zu sehen, die zwischen den Blumenbeeten des Hügels auf- und niederwandeln; die Menschen zu sehen, die gekommen sind, sich die Marsmaschine anzuschauen, die noch immer hier steht; den Lärm der spielenden Kinder zu hören – und dann sich die Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, da ich das alles hell und scharf geschnitten, grausam und still in der Dämmerung jenes letzten, großen Tages gesehen habe.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von H. G. WELLS