08.10.2004

Rote schwarze Zahlen

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Rote schwarze Zahlen

FÜR 2004 wird das Wachstum des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 8 bis 9 Prozent geschätzt. In diesem Jahr dürften auch die Investitionen aus dem Ausland auf 70 Milliarden US-Dollar ansteigen. Damit hat sich China zum weltweit bedeutendsten Empfänger ausländischer Direktinvestitionen entwickelt. Platz drei bei den Importen und Platz vier bei den Exporten machen das Land zu einer Wirtschaftsmacht, die erheblich zum globalen Wirtschaftswachstum beiträgt. Nicht zufällig wird China als die „Montagehalle der Welt“ bezeichnet, aus der unzählige Billigprodukte auf den Weltmarkt gelangen. Patrick Artus, Leiter der Abteilung Wirtschaftsforschung beim Finanzdienstleister CDC-Ixis Capital Markets, ist aber überzeugt, dass „China bald in immer neuen Produktionsbereichen konkurrenzfähige Qualitätsprodukte anbieten wird […]. Vor allem in den Bereichen Computer und Elektronik, Stahl und Automobilbau entwickelt sich die Industrie mit Riesenschritten.“

Muss man also fürchten, dass China den Verlust unzähliger Arbeitsplätze im Westen bewirkt? Der Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin sieht China auf Erfolgskurs, und zwar auf den Pfaden des Westens. „Natürlich ist China ein attraktiver Zielort für Produktionsverlagerungen. Aber zugleich werden dort Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut, mehr als in jedem anderen Land.“ Von 1995 bis 2002 wurden 15 Millionen Arbeitnehmer oder 15 Prozent der Beschäftigten entlassen.

Chinas Wirtschaftsboom ist unbestreitbar, doch fehlt das Vertrauen in die offiziellen Daten. „Die vorgegebenen Wachstumsziele bedeuten für die Provinzregierungen enormen politischen Druck“, meint Nhu Nguyen Ngo von der französischen Bankengruppe BNP Paribas. „Sie sehen sich gezwungen, die Daten zu schönen – allein 2001 gab es nach offiziellen Angaben mehr als 60 000 Verstöße gegen die Regeln für die Erstellung von Statistiken.“ Andere Ökonomen glauben, dass China von 1997 bis 2002 die Wachstumsrate nach oben korrigiert hat, um ausländische Investoren anzulocken, seit 2003 aber die Daten herunterrechnet, um zu signalisieren, dass man die Wirtschaft im Griff habe. Zweifelhaft erscheinen auch die Angaben der Banken über die Bonität ihrer Schuldner. Nach Schätzungen der Investmentbank Goldman Sachs belaufen sich die faulen Kredite auf 373 Milliarden Dollar, also 20 Prozent des BIP. Andererseits verfügt China über 450 Milliarden Dollar Devisenreserven, von denen ein Teil in den Finanzsektor fließen wird. Denn eine Auflage der Welthandelsorganisation (WTO) bei der Aufnahme Chinas besagt, dass wenigstens vier chinesische Großbanken bis 2006 an die Börse gebracht werden müssen.

„Die chinesische Wirtschaft ist nach wie vor recht undurchschaubar“, meint der Fachjournalist Michel de Grandi. Unter anderem gebe es Versuche, „die Korruption zu verschleiern“. An den Börsen von Schanghai und Schenzen hat es bereits etliche Skandale gegeben. Besonders spektakulär war der Fall des Versicherungsunternehmens China Life, dessen Muttergesellschaft Unregelmäßigkeiten im Umfang von 652 Millionen US-Dollar eingestehen musste, allerdings erst, als es schon an die Börse gegangen war. Dass China alle schlechten Angewohnheiten des globalen Kapitalismus übernimmt, beweist auch die Information, dass sich zahlreiche Staatsunternehmen bereits einen Firmensitz in Steuerparadiesen wie den Kaiman- oder den Jungferninseln zugelegt haben.

Wirtschaftsexperten in Großbritannien und den USA sehen noch ein weiteres Problem: den Wechselkurs der chinesischen Währung. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist 1 Dollar 8,28 Yuan wert, und Peking tut alles, um diesen Kurs stabil zu halten. In den USA sah man allerdings in dieser Währungspolitik eine künstliche Verbilligung und damit einen Versuch, sich Wettbewerbsvorteile für die Produkte „made in China“ zu verschaffen. US-Politiker, darunter Präsident Bush, behaupten, auf diese Weise sei für die USA ein Handelsdefizit gegenüber China von 125 Milliarden Dollar entstanden. Die chinesische Regierung wurde bereits wiederholt gedrängt, eine Aufwertung des Yuan vorzunehmen, hat sich aber einem Zeitplan bisher verweigert.

Andererseits kann man diese Aufregung in den USA auch als Zeichen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit verstehen. Man fürchtet China als Rivalen auf dem Weltmarkt, nicht zuletzt weil im Rahmen der hemmungslosen US-Ausgabenpolitik auch Staatsanleihen an die chinesischen und andere Staatsbanken in Asien verkauft wurden. Indem die USA chinesische Billigprodukte importieren und damit den Umsatz auf ihrem Binnenmarkt stimulieren, tragen sie erheblich zum Wirtschaftswachstum im ehemaligen Reich der Mitte bei.

LYES SI ZOUBIR

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von LYES SI ZOUBIR