08.10.2004

Russen im Kaukasus

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Russen im Kaukasus

FÜR Russland gibt es fortan eine Zeit vor Beslan und eine danach. Putin ist dabei, einen ähnlich folgenschweren Fehler zu begehen wie George Bush im März 2003, als dieser unter dem Vorwand der Bekämpfung von al-Qaida den Irak angreifen ließ. Entsprechend erklärte jetzt die russische Regierung, dass man sich „im Krieg“ befinde und zu einem „starken Staat“ zurückkehren müsse. So schickt sie sich an, das ganze politische System umzubauen, die Befugnisse von Armee und Geheimdiensten auszuweiten, und spricht sogar von möglichen „präventiven Militärschlägen gegen terroristische Stützpunkte überall auf der Welt“.

Was Russland nicht wahrhaben will, ist die Tatsache, dass Islamismus und Terrorismus im Kaukasus nur Instrumente sind und dass das Hauptproblem für die gesamte Region in Wahrheit Nationalismus ist. Er ist, wie auch der Widerstand der Palästinenser zeigt, die bedeutendste Kraft der modernen Geschichte, weder Kolonialismus noch Imperialismus noch die diversen Totalitarismen konnten ihm den Garaus machen. Nationalisten zögern nicht, die unwahrscheinlichsten politischen Allianzen zu schmieden. Das zeigt sich in Afghanistan oder im Irak, wo Nationalisten und radikale Islamisten gemeinsam für die Befreiung des Landes kämpfen.

Nicht anders ist es in Tschetschenien. Kein Volk hat so beharrlich und mutig Widerstand gegen die russische Eroberung des Kaukasus geleistet wie die Tschetschenen, und das schon seit 1818. Sofort nach der Implosion der UdSSR erklärten sie 1991 ihre Unabhängigkeit und lösten damit den ersten Tschetschenienkrieg aus. Der endete im August 1996 mit dem Abzug der russischen Armee, doch das Land war ausgeblutet.

Nach einer Serie von Anschlägen im Oktober 1999 ging die russische Armee erneut zum Angriff über. Dieser zweite Tschetschenienkrieg hat das bereits zerstörte Land vollends verwüstet. Moskau ließ Gemeindewahlen abhalten und besetzte alle Schlüsselpositionen mit seinen Gefolgsleuten. Doch die tschetschenischen Widerständler gaben nicht auf. Die Attentate hören nicht auf, und die Repression der russischen Truppen geht mit aller Brutalität weiter.

Angeheizt wird die Auseinandersetzung von der politischen Entwicklung in der Region. Verbittert muss die russische Regierung mit ansehen, wie Georgien und Aserbaidschan, die beide an Tschetschenien grenzen, immer engere wirtschaftliche und sogar militärische Bande mit den USA knüpfen. Moskau sieht diese Entwicklung auch im Lichte der jüngsten Entscheidung von Präsident Bush, US-Truppen aus Deutschland abzuziehen und in der Nähe der russischen Grenzen in Bulgarien, Rumänien, Polen und Ungarn zu stationieren. All das bestärkt die Russen in ihrem Gefühl, eine umzingelte Großmacht zu sein.

UM ein Gegengewicht zu setzen, hält Putin gegen den Willen der Regierungen in Georgien und Aserbaidschan an den russischen Militärbasen in diesen Ländern fest. Er stärkt die Allianz mit Armenien, das immer noch widerrechtlich aserbaidschanische Gebiete besetzt hält. Und er unterstützt die Separatisten in Abchasien und Südossetien in ihrem Konflikt mit der georgischen Zentralregierung.

Da sich Russland in Tschetschenien nicht durchsetzen kann, will es wenigstens klar machen, dass in der gesamten Kaukasusregion ohne Moskau nichts läuft. Doch in Moskau fürchtet man auch das Gespenst eines „zweiten Afghanistan“. Denn eine weitere militärische Niederlage gegen den undurchsichtigen Islamismus in Tschetschenien wäre für Russland nicht nur eine große Demütigung – sie könnte auch das Pulverfass Kaukasus zur Explosion bringen und damit eine territoriale Neuordnung der gesamten Region herbeiführen.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von IGNACIO RAMONET